Читать книгу Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - Страница 5

Donnerstag Pont Neuf, 1. Arrondissement

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Von Notre Dame schlug es zwölf Mal. Mitternacht. Faruk Ghoul hob den Kopf zum nachtschwarzen Himmel und betrachtete die schmale Sichel des Mondes. Je länger er schaute, desto mehr Sterne sah er aus dem samtigen Dunkel aufblitzen. Als hätte ich sie mit meinem Blick aus der Tiefe des Universums geangelt, dachte Faruk und lächelte. Der Gedanke gefiel ihm, doch er würde ihn schön für sich behalten. Er wusste was passierte, wenn er ihn mit den anderen teilte. Lachen würden sie und ihn einen Möchtegern-Poeten oder gar einen Spinner nennen. Heute Abend jedoch hätte er ihn sogar laut hinausschreien können, denn er war allein. Nicht, dass ihm die Einsamkeit etwas ausmachte. Er freute sich, dass er einen gemütlichen Platz gefunden hatte, an dem er ungestört und ganz für sich war. Faruk streckte seine Glieder und sog genießerisch Luft ein. Die Nacht war angenehm mild und die Wärme des Sommertages auch jetzt, da die Sonne längst untergegangen war, noch deutlich zu spüren. So, als spiele sie noch mit dem lauen Wind zwischen den Häusern der Stadt. Wie ein Kind, das man am Abend eines langen, heißen Junitages vergebens nach drinnen ruft. Faruk liebte es, sich solche Vergleiche auszudenken. Was sollte man auch sonst den ganzen Tag tun?

Die gewaltigen und noch warmen Steine der Pont Neuf fühlten sich an seinem Rücken wunderbar an, und er schloss für einen Moment die Augen. Es war richtig gewesen, nach Paris zu kommen. Zum Glück hatte er nicht auf seine Kollegen gehört. Jean, Fabio, ja sogar sein bester Freund Djamal – sie alle hatten ihm abgeraten, aus Marseille wegzugehen.

„Was soll das?“, hatte Djamal ihn gefragt, als er ihm von seinem Vorhaben erzählt hatte. „Geht es dir nicht gut hier? Die Stadt ist bunt und lebendig, es ist warm und wir haben das Meer. Einen besseren Platz gibt es nirgends.“

Doch davon hatte Faruk nichts wissen wollen. Lange genug hatte er seinen Plan im Kopf hin und her geschoben und Vorteile gegen Nachteile abgewogen. Nein, in Marseille wollte er nicht alt werden und auch nicht sterben. Für seinen Geschmack starben in dieser Stadt am Mittelmeer zu viele Menschen. Und zwar ohne, dass sie die Chance gehabt hatten, alt zu werden.

„Mein Entschluss steht fest“, hatte er seinem Freund an einem verregneten Abend im April mitgeteilt.

„Das ist nicht dein Ernst! Komm schon, Kumpel, nur weil EINMAL schlechtes Wetter ist …"

„Nein, Djamal“, lachte Faruk, „das hat mit dem Regen nun wirklich nichts zu tun. Ich werde diese Stadt verlassen. Warte“, er hob beschwichtigend beide Hände als er sah, dass die Augen seines Freundes groß wurden und er zu einer seiner endlosen Reden anheben wollte. „Ich werde dir erklären, warum ich gehe. Ich bin nicht mehr der Jüngste und eines Tages werde ich ein alter Mann sein. Und Marseille und das Alter, das passt nicht zusammen. Es gibt zuviel Gewalt auf den Straßen und in all den Jahren, die ich nun schon hier lebe, ist es immer schlimmer geworden.“

Djamal schüttelte energisch den Kopf. „Das bildest du dir ein, glaub mir. Jede Stadt hat ihre Gefahren.“ Er schaute Faruk an und sah den Zweifel in dessen Augen.

„Also gut, ich gebe zu, dass es hier nicht gerade paradiesisch ist.“ Geräuschvoll zog er die Nase hoch. „Ich hatte ja selbst schon einmal ein Messer im Bauch“, er grinste schief, „war halb so schlimm.“

Faruk legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Früher waren es Messer und heute muss man sich davor fürchten, in den Lauf einer Kalaschnikow zu blicken. Nein, Djamal, ich bleibe dabei. Ich gehe nach Paris.“

Bereits einige Tage später hatte Faruk sein Hab und Gut gepackt, sein Gespartes gezählt und sich ein Zugticket gekauft. In der städtischen Notunterkunft, die er sonst nur im Winter aufsuchte, hatte er eine ausgiebige Dusche genommen und seine wenigen Klamotten in die Waschmaschine gestopft. Nachdem er Justine – eine der freiwilligen Helferinnen – von seinem Plan erzählt hatte, hatte sie ihn kurzerhand auf einen wackeligen Küchenstuhl gesetzt und ihm Kopfhaar und Bart gestutzt. „Damit du schön bist für Paris“, hatte sie gesagt und gelacht.

Und nun saß er also hier in einer gemütlichen Nische auf einer der schönsten Brücken der Stadt und schaute sich den Mond an. Plötzlich nahm er einen hellen Lichtstreif wahr, der sich wie ein Suchscheinwerfer über den Himmel bewegte. Wie der Strahl des Leuchtturms am Hafen von Marseille, dachte Faruk und stand auf, um besser sehen zu können. Ah, jetzt konnte er die Quelle des Lichts erkennen. Er ging die wenigen Schritte zur gegenüberliegenden Brüstung und legte beide Hände auf die warmen Steine. Der Eiffelturm! Wie wunderschön und stolz er dort stand. Seit Faruk aus dem Süden hierher gekommen war, hatte er das Wahrzeichen der Stadt immer nur aus der Ferne betrachtet.

„Am besten mache ich mich gleich auf den Weg“, sagte er laut und nickte entschlossen mit dem Kopf. Er konnte ohnehin nicht schlafen und nichts liebte er mehr, als nachts spazieren zu gehen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, wie er die anderen Obdachlosen oft nannte, trug er nur wenige Dinge bei sich. Ich reise gerne mit kleinem Gepäck, pflegte er zu sagen, wenn sie sich lautstark wunderten, dass er nichts als einen gefüllten Rucksack besaß. So hatte er es schon immer gehalten. Faruk hatte Prinzipien und, neben sauberer Kleidung und einem gepflegten Aussehen, war ihm die Ordnung in dem alten Wanderrucksack das Wichtigste. In ihn stopfte er nun also seine dünne Wolldecke, die Baguettereste vom Abendessen und eine angebrochene Flasche Wein mit Drehverschluss. Zu guter Letzt schnallte er seine rosafarbene Isomatte fest. Allah wusste, wie oft er dafür schon ausgelacht worden war. Aber sie war bequem, und als Obdachloser durfte man schließlich nicht wählerisch sein. Sollten sich die anderen ruhig darüber amüsieren, das hielt er aus. Als algerischer Einwanderer, der 1964 im Alter von acht Jahren nach Marseille gekommen war, hatte er wahrlich Schlimmeres erlebt, als wegen einer rosa Matte ausgelacht zu werden. Faruk schulterte seinen Rucksack und marschierte, den Eiffelturm vor Augen, entschlossen los. Er orientierte sich am Lauf der Seine und prägte sich all die herrlichen Gebäude ein, die ihm auf seinem Marsch begegneten. Die goldene Kuppel des Institut de France, das Musée d‘Orsay mit seiner riesigen Bahnhofsuhr und das langgestreckte Gebäude des Louvre auf der anderen Seite des Flusses. Seine Füße begannen schon zu schmerzen, als er schließlich die gewaltigen Streben des Eiffelturms vor sich aufragen sah. Faruk hatte das Gefühl, mit jedem weiteren Schritt zu schrumpfen wie eine dieser Comicfiguren, die er als Kind im Kino gesehen hatte. Was für ein unglaubliches Bauwerk. Er kam sich winzig vor und hob staunend den Kopf. Voller Ehrfurcht versuchte er, die Gesamtheit dieses Stahlkolosses zu erfassen. Ein seltsames Gemisch aus Ergriffenheit und leiser Furcht überkam ihn und er spürte, wie ein Schauer seinen Körper durchlief. „Es ist doch ein wenig unheimlich, sich mitten in der Nacht unter einem solchen Riesen aufzuhalten“, flüsterte er sich selbst zu. Um diese Zeit waren kaum Menschen an dem Ort, an dem es tagsüber von Touristen nur so wimmelte. Die gigantischen Stahlfüße der eisernen Dame, wie die Pariser den Eiffelturm gerne nannten, erschienen Faruk bedrohlich. Je länger er die Streben fixierte, desto unheimlicher wurde ihm zumute. Hatte sich dort drüben nicht gerade ein Schatten aus dem Dunkel gelöst? Faruk stand vor Anspannung ganz starr und lauschte auf die Geräusche, die ihn umgaben. Nein, da war nichts zu hören außer den Motorengeräuschen der wenigen Autos, die in dieser mondhellen Nacht auf der nahen Straße vorbeifuhren. Faruk kratzte sich nervös am Kinn und beschloss, sich lieber ein wenig abseits ein Plätzchen für seine Nachtruhe zu suchen. Er schaute sich um und entschied, den Pont d‘Iéna zu überqueren, der sich in Richtung Trocadéro über die Seine spannte. Hier konnte er den Eiffelturm aus der Ferne bestaunen und würde sicher ruhiger schlafen und auch besser träumen. Auf der Brücke kam ihm ein junger Mann entgegen, der ihn interessiert anblickte. Faruk lag schon ein höfliches Bonsoir auf den Lippen, als ihm auffiel, dass der Blick des Fremden etwas zu intensiv ausfiel. So senkte er nur die Augen und lief stumm an ihm vorbei. Auf der anderen Seite des Flusses angekommen, sah er zwei weitere Männer, die nicht weit von ihm entfernt in einem öffentlichen Toilettenhäuschen verschwanden. Während er mit großen Schritten geradeaus lief, betrachtete er den weitläufigen Platz unterhalb eines wuchtigen Gebäudes, das wohl der Trocadéro sein musste. Oder war dies nur der Name für die Grünfläche mit den Fontänen, die sich dazwischen erstreckte? Faruk wusste es nicht und es war ihm auch egal. Er besah sich die Wege, die in weiten Bögen zu den gewaltigen Mauern hinaufführten und den großzügig bemessenen Brunnen auf der gesamten Länge in ihre Mitte nahmen. In der Nähe einer hübsch angelegten Blumenrabatte, die von zierlichen Sträuchern begrenzt wurde, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Faruk schaute sich erstaunt um. Dieser Ort schien ein beliebter Treffpunkt zu sein, besonders für einsame Männer. Es dauerte eine Weile, bis Faruk begriff. So hatte eben jeder seine Vorlieben, dachte er und zuckte mit den Schultern. Er interessierte sich nicht für männliche Liebhaber, aber selbst wenn … Natürlich hatte dieser Platz einen gewissen Charme und der Anblick des Eiffelturms tat ein Übriges. „Für meinen Geschmack aber eindeutig zu einsam und fast schon unheimlich“, murmelte Faruk in die nächtliche Stille. Hier gab es keine Wohnhäuser, und weder Cafés noch Restaurants belebten diesen Ort. Er blieb stehen und kratzte sich ausgiebig am Kopf. Nein, als Schlafplatz kam diese Gegend wohl nicht infrage. Aber irgendwo musste sich doch eine Übernachtungsmöglichkeit finden lassen! Er war müde und die Füße taten ihm weh. Faruk ließ seinen Blick schweifen, bis seine Augen an einem auffälligen Gebilde hängen blieben. Keine zweihundert Meter von ihm entfernt stand ein Karussell. Seltsam, dachte er. So etwas kannte er sonst nur von Jahrmärkten. Nun ja, das war eben Paris. Kopfschüttelnd schob er die Gurte seines Rucksacks zurecht und machte sich auf den Weg. Als er bis auf wenige Meter herangekommen war, blieb er staunend stehen. Wie wunderschön es war! Faruk betrachtete das altertümlich anmutende Dach, das ihn an ein Zirkuszelt erinnerte. Eine Plane versperrte den Blick ins Innere, doch die aufwendig gearbeiteten Stufen ließen erahnen, dass es auch dort Nostalgisches zu bestaunen gab. Faruk umrundete das herrliche Spielzeug und heftete seine Augen fest auf die Plane. Wenn er Glück hatte, gab es irgendwo eine winzige Öffnung. Und dann würde er endlich einen Schlafplatz haben. Und was für einen! In aufgeregter Vorfreude rieb er sich die Hände und blieb wenig später abrupt stehen. Tatsächlich! Direkt vor ihm war ein kleiner Spalt zwischen den beigefarbenen Plastikbahnen zu erkennen. Er kletterte auf die unterste der rot bemalten Stufen, die sich um das Karussell zogen und berührte die Stelle vorsichtig. Und wirklich – die Plane gab dem leichten Druck nach. Faruk spähte in tiefes Schwarz. Er überlegte, ob er seine Taschenlampe aus dem Rucksack holen sollte, doch dann verwarf er die Idee. Schließlich wollte er keine Aufmerksamkeit erregen. „Geduld, Geduld“, flüsterte er und starrte weiter in das stockdunkle Innere. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Schwärze und mit einem Mal konnte er erste Konturen erkennen. Sein romantisches Herz hüpfte vor Freude. Kunstvoll verzierte Pferde und üppig geschmückte Kutschen in den phantasievollsten Formen nahmen vor seinen Augen Gestalt an. Wie schön musste dies alles erst bei Tageslicht aussehen. Und während er ins Dunkel blickte, war es ihm, als sähe er die Pferdchen und Kutschen vor sich, wie sie zur Musik ihre Runden drehten. Fast konnte er das glückliche Kinderlachen hören, das sie dabei begleitete. Genug jetzt, dachte er und riss sich aus seinen Gedanken. Ich bin müde und werde mir hier nun schnellstens ein bequemes Plätzchen suchen! Entschlossen tastete er sich zwischen mehreren Reihen von hölzernen Kutschen und Pferden voran. Nein, die sahen nicht gemütlich aus.

„Mist!“ Faruks Rucksack war an dem geschwungenen Rand einer Art Muschel hängen geblieben und er drehte sich danach um, um sich zu befreien. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln etwas wahr. Nanu, was war denn das? Das sah ja aus wie … Er machte ein paar vorsichtige Schritte und dann stand er direkt davor. Tatsächlich! Die Nachbildung eines Fesselballons! Der kleine Korb wurde von einem hübsch bemalten Ballon getragen, mit dem er durch dicke hölzerne Schnüre verbunden war. „Mein Nachtlager“, rief Faruk erfreut aus und machte sich an der kleinen Tür zu schaffen, um hineinzuklettern. „Verflixt, ist das dunkel hier drinnen“, fluchte er und stützte sich mit einer Hand an der Kante des Korbes ab. Irgendwo in diesem Ding musste es doch ein Bänkchen oder etwas Ähnliches geben. Faruk schnaufte und machte einen Schritt nach vorne.

Die Berührung traf ihn wie ein Stromstoß.

„Bleib ruhig“, ermahnte er sich selbst und versuchte, das Zittern zu kontrollieren, das sich plötzlich in seinem Körper ausgebreitet hatte. Er war gegen etwas gestoßen. Etwas Bewegliches, Weiches. Faruk atmete tief ein und versuchte seine Gedanken zu sortieren, die im ersten Erschrecken ordentlich durcheinander gewirbelt worden waren. „Kein Grund, in Panik zu verfallen“, beruhigte er sich leise murmelnd. „Das ist nun einmal ein begehrter Schlafplatz.“ Sein Schrecken wandelte sich erst in Enttäuschung und gleich darauf in Wut. Das durfte doch nicht wahr sein! Faruk schnaubte. „Zut alors!“ Er war wohl nicht der Einzige, der die Idee gehabt hatte, die Nacht in einem historischen Karussell zu verbringen. Es war ihm jemand zuvorgekommen. Aber so war es nun einmal, es nützte nichts und niemandem, einen Wutanfall zu bekommen. Er schielte auf die halb ausgestreckte Gestalt, deren Umrisse er mehr erahnte, als dass er sie erkennen konnte.

„Bin schon weg, schlaf weiter“, raunte er und wollte sich gerade umdrehen, als er plötzlich innehielt. Irgendetwas störte ihn. Faruk lauschte angestrengt. Nein, da war nichts. Noch einmal horchte er in die Dunkelheit …

Die Erkenntnis traf ihn wie ein greller Blitz. Nichts. Er hörte rein gar nichts. Kein Schnarchen, kein Murmeln, nicht einmal ein Atmen. Faruk stand wie erstarrt, während die Gedanken wild durch seinen Kopf rasten. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach wegzulaufen und hatte gleichzeitig das Gefühl, keinen einzigen seiner Muskeln bewegen zu können. Es war ihm, als würde dieser Zustand völliger Lähmung eine kleine Ewigkeit dauern. Doch dann kündigte ein zartes Kribbeln in Armen und Beinen an, dass Körper und Geist bereit waren, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Faruk gingen die Worte eines Koranverses durch den Kopf und eine Weile lang konzentrierte er sich auf sein Gebet. Er musste versuchen, wieder klar und logisch zu denken. Doch was sollte er nun als Erstes tun? Du musst von hier weg, sagte er sich und dann wurde seine innere Stimme noch etwas eindringlicher. Mach schon, Mann, bloß weg hier! Faruk stolperte die Stufen des Karussells hinunter und rannte wie ein Gehetzter den Weg entlang, der zum Trocadéro hinaufführte. Seine Lungen begannen bereits pfeifende Geräusche von sich zu geben, als er so abrupt stehenblieb, dass er auf dem Untergrund aus Kies und Sand ausrutschte. In seinem linken Knie spürte er einen heftigen Schmerz. „Verflucht“, brummte er und betastete vorsichtig sein Bein. Es war lange her, dass er so schnell gerannt war und noch dazu bergauf. Faruk hielt sich die Seite, die nun zu allem Überfluss auch noch unangenehm zu stechen begann. Nein, das brachte nichts, überlegte er. Dort oben am Ende des Weges gab es vielleicht einige Restaurants, aber die hatten um diese Uhrzeit sicher alle längst geschlossen. Wo sollte er an diesem gottverlassenen Ort denn jemanden finden? Er blickte zum Eiffelturm hinüber, dessen Silhouette sich dunkel und bedrohlich vom mondbeschienenen Himmel abhob.

„So ein Mist“, schrie Faruk dem Stahlkoloss entgegen. Vor Wut kamen ihm die Tränen und er bemerkte, wie ein verzweifeltes Kichern seine Kehle hinaufkroch. Seine ersten Tage in der Stadt des Lichts hatte er sich nun wirklich anders vorgestellt. „Schluss jetzt“, ermahnte er sich laut. „Reiß dich zusammen!“ Er wandte seinen Blick nach Osten, wo am Horizont bereits ein kleiner, helloranger Streifen zu erkennen war. Langsam und eindringlich sprach er ein weiteres Gebet und fühlte sich gleich darauf ruhiger. Allah war ihm schon immer eine wichtige Stütze gewesen, dachte Faruk voller Dankbarkeit. Doch was ich jetzt vor allen Dingen brauche, fügte er im Stillen noch hinzu, ist ein menschliches Wesen! Er wandte seinen Blick vom Himmel ab und schaute sich um. Etwa hundert Meter links von ihm nahm er den Umriss eines ovalen Gebäudes wahr. Natürlich! Faruk schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wie hatte er das nur vergessen können: Das Toilettenhäuschen! Der Treffpunkt der Homosexuellen! Hier würde er sicher jemanden finden, der ein Handy dabeihatte. Bitte, Allah, lass noch jemanden hier sein, bitte! Faruk fing an zu laufen und begann schon nach wenigen Sekunden laut zu schnaufen. Ich muss dringend etwas für meine Kondition tun, dachte er und schnappte gleich darauf vor Erleichterung nach Luft. Ein Mann trat hinter dem Klohäuschen hervor und schien für einen kurzen Moment in Faruks Richtung zu blicken. Der riss sofort beide Arme nach oben und begann sie über seinem Kopf zu bewegen wie ein Ertrinkender.

„Heee, hallo, Monsieur“, schrie er aus Leibeskräften. „Au secours, s´il vous plaît! Bitte, Monsieur, bitte warten Sie, ich brauche Ihre Hilfe!“

Der Mann blieb tatsächlich stehen und schaute scheinbar regungslos in seine Richtung. Und noch während Faruk auf ihn zu rannte, mischte sich ein anderes, seltsam nagendes Gefühl in seine Erleichterung. Was machte ihn eigentlich so sicher, dass von diesem Typen, dem er mit jedem Schritt näher kam, tatsächlich Hilfe zu erwarten war?

Ein Gedicht zum Todestag

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