Читать книгу Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - Страница 11

Quai des Orfèvres, 1. Arrondissement

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Victoire de Belfort vergewisserte sich mit einem kurzen Blick über den Tisch, dass sie all ihre Unterlagen eingepackt hatte. Sie dachte noch einmal über das Meeting nach und stellte im Geiste bereits die Aufgabenverteilung zusammen, die sie ihrem Team am nächsten Morgen verkünden würde. Wenn es tatsächlich um einen Mord im Dunstkreis des organisierten Verbrechens ging, musste sie die Kollegen in Trappes hinzuziehen. Das würde die Arbeit nicht gerade einfacher machen. Dann fiel ihr ein, dass sie das Gespräch mit Malbert noch vorbereiten musste. An Feierabend war also noch lange nicht zu denken. Mit einem ergebenen Seufzer nahm sie ihr Handy in die eine, ihre Tasche in die andere Hand und ging auf den Flur hinaus. Irgendjemand hatte bereits das Licht gelöscht, und so wurde der Teil des Gebäudes, in dem sich die Besprechungsräume befanden, nur von dem spärlichen Abendlicht beleuchtet, das durch die Fenster drang. Sie lief durch die verlassenen Flure und erst nachdem sie die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk genommen hatte, belebte sich die Szenerie wieder. Trotz der späten Stunde waren die meisten Schreibtische des Großraumbüros noch besetzt. Sie winkte einem Kollegen zu, der dem Kriminaldauerdienst angehörte.

„Alles klar, Jules?“, rief sie hinüber und verlangsamte ihre Schritte.

„Alles ruhig bis jetzt, wenn wir Glück haben, wird es eine langweilige Nacht.“

Die Kommissarin hob aufmunternd beide Hände zum Zeichen, dass sie die Daumen drückte und bog gleich darauf in ihr Büro ein. Der Raum war funktionell, fast spartanisch eingerichtet. Sie hielt nicht viel davon, das Büro mit Familienbildern oder anderen persönlichen Dingen zu dekorieren. Das ist schließlich ein Arbeitsplatz und nicht mein Wohnzimmer, pflegte sie zu antworten, wenn sie jemand nach dem Grund hierfür fragte. Es ließ sich zwar nicht leugnen, dass sie in den letzten Jahren deutlich mehr Zeit an diesem Ort als in ihrer Wohnung verbracht hatte. Doch wenn sie sich in ihrem Büro aufhielt, konnte sie kein Zuhausegefühl brauchen. De Belfort massierte ihre Schläfen. Sie war müde und ihr Körper erinnerte sie in diesem Moment mit aller Deutlichkeit daran. Sie legte ihre Tasche auf den kleinen Besprechungstisch, der schräg zu ihrem Schreibtisch stand und holte einen Schreibblock daraus hervor. Dann zog sie sich einen Stuhl heran und begann, sich Notizen zu machen. Während der nächsten halben Stunde arbeitete sie konzentriert und nahm nur ab und zu, wie aus weiter Ferne, vereinzelte Geräusche aus den umliegenden Büros wahr. Bestimmt marschierte nun gleich wieder die Putztruppe herein und veranstaltete mit ihren Staubsaugern einen Höllenlärm. Noch während sie das dachte, hörte sie auch schon ein leises Rascheln an der Tür, der sie den Rücken zukehrte.

„Sind Sie so nett und kommen später noch einmal wieder?“, sagte sie, ohne die Augen von ihrem Block zu heben. „Ach, und wenn Sie so freundlich sein könnten, einmal über meinen Schreibtisch zu wischen. Dort kann ich schon Nachrichten hinterlassen.“

„Nun ja …"

Als Kommissarin de Belfort die tiefe Männerstimme erkannte, schnellte sie aus ihrem Stuhl hoch und drehte sich in einer einzigen ruckartigen Bewegung herum.

„Ich komme gerne in einigen Minuten noch einmal vorbei, aber seien Sie sicher, dass ich keinesfalls einen Staubwedel mitbringen werde.“

Im Türrahmen stand Édouard de Montmirail und machte ein pikiertes Gesicht.

Eine gute halbe Stunde später lief de Belfort über den Hof des Gebäudes, das seit vielen Jahren die Pariser Kriminalpolizei beherbergte. Im Gehen nestelte sie den Schlüssel für ihr Fahrradschloss aus einer der seitlichen Fächer ihrer Tasche. Sie schmunzelte, als sie an den kleinen Zwischenfall von vorhin zurückdachte. Glücklicherweise hatte Monsieur le Préfet es ihr nicht übel genommen, dass sie ihn für einen Angestellten der Reinigungsfirma gehalten hatte. Édouard war ein Mensch, der aufgrund seiner Herkunft und seiner Erziehung großen Wert auf Stil und Etikette legte. Doch zwischen die, wahrscheinlich mit größter Strenge anerzogenen Verhaltensweisen und Tugenden, hatte sich eine gute Portion Humor gemischt, den manch einer der Kollegen schon als very british bezeichnet hatte. Und so hatte die besondere Komik dieser Situation das winzige Fünkchen Entrüstung im Herzen des Präfekten erstickt, noch bevor es hatte aufflammen können. Er hatte als Erster gelacht und damit die Spannung, die so plötzlich den Raum erfüllt hatte, in Nichts aufgelöst. Nachdem sie sich wieder gefangen und vielfach entschuldigt hatte, setzte sie ihren Vorgesetzten über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis.

„Wie macht sich Perrec?“, fragte Monsieur le Préfet, als sie geendet hatte.

„Sehr gut, ich bin wirklich froh, dass ich ihn in meinem Team habe. Ein intelligenter und, wie mir scheint, sehr sensibler Mann. Im positiven Sinne.“ Die Kommissarin lachte. „Ich bin mir ganz sicher, dass er die Truppe bereichern wird und eine perfekte Ergänzung zu Nathalie Martin und Malbert ist. Apropos …"

Auch zu Malbert hatte der Präfekt einen kurzen Bericht bekommen. De Belfort hatte versucht, so objektiv wie möglich zu klingen und die Emotionen außen vor zu lassen, aber es war ihr nicht ganz gelungen.

„Hören Sie, de Belfort, Sie wissen, dass es neben vielen anderen Stärken, die Sie besitzen, vor allem Ihre Menschenkenntnis ist, die ich an Ihnen schätze. Wenn jemand Malbert klar machen kann, worin sein Problem liegt, dann sind Sie das.“

„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Monsieur. Leutnant Malbert hat einen sehr guten Draht zu unseren V-Leuten. Und zudem hat er sich einige Kontakte in die Szene erarbeitet. Sie wissen ja, Monsieur, wenn man es richtig anstellt, sind Junkies und Kleinkriminelle durchaus offen für den ein oder anderen Deal. Wie mir scheint, färbt die Grobheit dieser Typen mit der Zeit auf Malbert ab. Aber das habe ich im Griff.“

„Ich hoffe doch, dass sich der junge Mann mit seinen sogenannten Deals immer im Rahmen der Legalität bewegt, oder?“ Édouard de Montmirail sah die Kommissarin alarmiert an. „Behalten Sie ihn gut im Auge. Aber andererseits sollten Sie ihn auch nicht zurückpfeifen. Sicher sind die Informationen, die er uns aus diesen Quellen bringt, Gold wert.“

De Belfort nickte. „Allerdings sind sie das! Auch in unserem aktuellen Fall kommen die wichtigsten Hinweise einmal mehr direkt aus der Szene. Und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass der Leutnant sich niemals außerhalb der Legalität bewegt. Was das betrifft, können wir uns auf ihn verlassen.“

„Sehen Sie, Madame le Commissaire, und das ist doch die Hauptsache.“ Édouard de Montmirail sah de Belfort ernst an. „Aber bleiben Sie wachsam und sehen Sie zu, dass die Begeisterung des Kollegen für die Unterwelt ihn nicht zu einer Gefahr für uns werden lässt.“

Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. „Und nun darf ich mich empfehlen, sonst bekomme ich Ärger mit Madame de Montmirail.“ Er räusperte sich umständlich. „Arbeiten Sie nicht mehr so lange, die Regeneration ist ein nicht zu unterschätzender biologisch-chemischer Prozess. Ach, und bitte grüßen Sie ganz herzlich Ihre Eltern. Ich hoffe, die beiden werden uns die Ehre erweisen, bei unserem nächsten Dîner anwesend zu sein. Meine Frau redet schon seit Wochen von nichts anderem.“ Er lächelte vielsagend und drehte sich zur Tür. „Bonne Soirée, Victoire.“

De Belfort lächelte, als sie nun an diese für Édouard so typische Verabschiedung dachte. Kaum eine Unterhaltung, an deren Ende er nicht ihrer beider Zugehörigkeit zur Pariser Gesellschaft ins Spiel brachte. Und da er wusste, dass sie selbst nur wenig Wert auf diese Tatsache legte, ließ er es sich nicht nehmen, zumindest über den Umweg ihrer Eltern oder Geschwister sein Lieblingsthema aufzugreifen. Vielleicht hoffte er darauf, sie eines Tages doch noch zu einem stolzen und vor allem aktiven Mitglied der Bourgeoisie zu machen. Mit großen Schritten lief sie zu ihrem Mountainbike. Inzwischen war es dunkel geworden, und bevor sich die Kommissarin auf ihr Rad setzte, warf sie einen Blick hinüber zur Seine, deren Ufer gerade von einem vorüberfahrenden Touristenboot bestrahlt wurde. Quaimauern und Fassaden der herrschaftlichen Häuser tauchten für einen Moment aus der Dunkelheit auf und waren gleich darauf wieder in ihr verschwunden. Auch nach 42 Jahren, denn solange lebte sie bereits in Paris, war de Belfort nicht immun geworden – die Schönheit dieser Stadt nahm sie in solchen Augenblicken immer wieder aufs Neue gefangen. Als sie den Lenker umfasste, klingelte ihr Telefon. Oh nein, dachte sie, wer will denn nun noch etwas? Hoffentlich war es nicht der Préfet, der kurz vor dem Apéritif noch einen besonders eiligen Auftrag an sie delegieren wollte. Hektisch wühlte sie in ihrer Tasche und bekam endlich ihr Smartphone zu fassen. Ein kurzer Blick aufs Display genügte, um ihr Herz schneller klopfen zu lassen. Sie ärgerte sich, als ihr ihre Reaktion bewusst wurde und zwang sich, wieder ruhig zu werden. Keine Panik, Mädchen, dachte sie, stell dich nicht an wie ein siebzehnjähriger, verliebter Teenie. Das ist nur Étienne.

Sie war Étienne Corentin vor etwa drei Monaten auf der Party eines gemeinsamen Freundes begegnet. In ihrer Erinnerung war dieser Abend einer der schönsten ihres Lebens gewesen. Sie war damals noch nicht allzu lange geschieden und weit davon entfernt, an eine neue Liebe zu denken. Doch als sie Étienne zwischen all den anderen Gästen zum ersten Mal wahrgenommen hatte, war sie von ihren Gefühlen mitgerissen worden wie von einer plötzlich aufgekommenen Orkanböe. Anfänglich hatte sie den attraktiven Unbekannten nur aus der Ferne beobachtet und das Gefühl genossen, seine Blicke auf ihrem Gesicht zu spüren. Doch dann waren immer öfter heimliche Signale zwischen ihnen durch den Raum geschwirrt und hatten ein wunderbares Kribbeln ausgelöst. Und auch dem Fremden schien dieses kleine Spiel, das inmitten des lärmenden Partyvolkes und doch nur zwischen ihnen beiden ablief, zu gefallen. Schließlich war er auf sie zugekommen und hatte ihr das Glas aus der Hand genommen. Es wird Zeit, dass wir tanzen, hatte er gesagt und leicht ihre Fingerspitzen gestreift. Es war nur der Hauch einer Berührung gewesen, doch sie hatte den Schauer im ganzen Körper gespürt. Sie hatten getanzt, getrunken und viel gelacht. Mit jeder Minute in Étiennes Gegenwart hatte sie sich lebendiger gefühlt und geglaubt, dass das, was ihr da gerade widerfuhr, etwas ganz Besonderes war. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass die knisternde Spannung, die die Luft zwischen ihnen erfüllte, nur ihrer eigenen Phantasie entsprungen war. Doch die Ernüchterung hatte nicht lange auf sich warten lassen. „Ich bin kein Mann für eine feste Beziehung“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Freundlicherweise, bevor sie die Nacht mit ihm verbracht hatte. Nach einem der folgenden Treffen war sie trotzdem bei ihm geblieben. Und seither verband sie etwas, von dem Victoire de Belfort nicht genau ergründen konnte, was es wohl war. Anziehungskraft, Neugier, Freundschaft, Liebe? Sie selbst war verliebt, ja, das musste sie sich eingestehen. Aber die Frage, was Étienne bewog, sich immer wieder bei ihr zu melden, die beantwortete sie sich je nach ihrer momentanen Verfassung. Und heute war sie eindeutig zu müde, sich einen Grund für seinen Anruf auszudenken. Sein Anruf, ach ja. Der Klingelton, der entfernt an eine Ballade von Metallica erinnerte, war inzwischen lauter geworden und signalisierte, dass sie das Gespräch noch nicht angenommen hatte.

„Âllo?“

„Bonsoir ma chérie“, schallte es fröhlich an ihr Ohr. „Verzeih, dass ich mich erst jetzt melde. Wo bist du?“

Schon beim Klang seiner Stimme bekam de Belfort weiche Knie. Ihre Enttäuschung darüber, dass er sie gestern Abend einfach versetzt hatte, löste sich in rosarotes Nichts auf.

„Noch im Büro. Das heißt, ich bin gerade dabei, mich auf mein Rad zu schwingen und nach Hause zu fahren. Ich bin total k.o.“

Wunderbar, dachte sie, als sie in die Stille am anderen Ende lauschte. Das war genau das, was ein Mann hören wollte, wenn er abends um viertel vor elf eine Frau anrief. Es sei denn, die beiden waren bereits seit 15 Jahren verheiratet. Sie musste über ihren Gedanken grinsen und sprach weiter, noch bevor Étienne geantwortet hatte.

„Gegen einen Schlummertrunk hätte ich aber absolut nichts einzuwenden, wenn es das ist, was du mich eigentlich fragen wolltest“, sagte sie und versuchte, ihre Stimme weich und ein bisschen sexy klingen zu lassen. „Allerdings müsste ich vorher kurz nach Hause, ich stecke seit ungefähr 18 Stunden in denselben Klamotten.“

De Belfort verdrehte die Augen. Noch unerotischer ging es ja wohl nicht! Étienne lachte.

„Du Arme, ich kann durchaus nachvollziehen, dass sich das nicht unbedingt limonenfrisch anfühlt, aber meinetwegen musst du dich nicht erst in Schale werfen.“

„Du weißt ja nicht, worauf du dich einlassen würdest“, nahm sie seinen scherzenden Ton auf. „Aber jetzt mal im Ernst, gib mir eine Stunde. Wohin soll ich kommen?“

„Ich warte im Winston auf dich, ma belle, das kennst du ja. Rue de Presbourg in der Nähe vom Arc de Triomphe. À plus tard.“

„Ja, bis gleich.“ Victoire de Belfort bemühte sich, einen besonders zärtlichen Hauch in ihre Stimme zu legen. Doch Étienne hatte schon aufgelegt.

Ein Gedicht zum Todestag

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