Читать книгу Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - Страница 8
Trappes en Yvelines, 30 Kilometer von Paris
Оглавление„Monsieur Laguerre!“
Die Faust der jungen Frau schlug hart an die schäbige Wohnungstür. Suzanne lauschte. Der Alte musste doch zu Hause sein, er ging seit Jahren kaum noch aus dem Haus. „Laguerre“, brüllte sie wieder und schließlich hörte sie, wie jemand umständlich am Türschloss nestelte.
„Wer ist da?“
Die trüben Augen des alten Mannes spähten durch den kleinen Schlitz, der einen winzigen Ausschnitt eines schwach beleuchteten Wohnungsflures sehen ließ.
„Ich bin es, Suzanne.“
Die Frau schaute sich kurz um und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, bevor sie fortfuhr zu sprechen. „Hören Sie, Laguerre, ich muss dringend Ihre Enkelin sprechen, haben Sie heute schon etwas von ihr gehört? Seit heute früh versuche ich sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie geht nicht dran.“
„Meine Enkelin?“ Der Alte brüllte die Frage mehr, als dass er sie aussprach, doch das lag weniger an seinem Erstaunen, als an der schlichten Tatsache, dass er fast taub war. Suzanne warf einen erschrockenen Blick hinter sich, doch sämtliche Türen in dem schäbigen Hausflur blieben geschlossen.
„Die kommt erst übermorgen wieder“, schallte es aus dem Spalt zwischen Tür und Rahmen, der nun ein paar Millimeter breiter wurde. „Sie besucht mich immer nur samstags, wissen Sie. Was wollen Sie denn von ihr?“
„Ich muss sie dringend erreichen und dachte, sie sei vielleicht bei Ihnen“, versorgte Suzanne ihn nur mit den notwendigsten Informationen.
„Samstag“, wiederholte der alte Mann und blickte fragend. „Sonst noch etwas? Ich höre gerade meine Lieblingsradiosendung, Mademoiselle“, fügte er erklärend hinzu und machte damit auf freundliche Art und Weise deutlich, dass er nun genug von dem Gespräch hatte.
„Tja“, Suzanne machte eine resignierte Handbewegung, „dann vielen Dank, Monsieur.“
Sie trat einen Schritt zurück und wandte sich zum Gehen, als ihr noch etwas einfiel.
„Wenn ich Irina telefonisch weiterhin nicht erreiche, schaue ich am Samstag noch einmal bei Ihnen vorbei.“ Doch die Tür war bereits ins Schloss gefallen.
„Merde.“
Suzanne Hérault fuhr sich mit der flachen Hand über ihr Gesicht und zog im Gehen ihren Wohnungsschlüssel aus der vorderen Tasche ihrer abgewetzten Jeans. Wenige Minuten später ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen und starrte auf die billige lilafarbene Armbanduhr, die sie zusammen mit einer Reihe bunter Gummibänder locker am Handgelenk trug. Schon halb neun. Sie fingerte nach einer Flasche Cola, die in Reichweite ihres Armes auf dem Tisch stand. Der Deckel war nicht richtig zugeschraubt worden und das rote Plastikhütchen kullerte über die Tischplatte aus grauem Resopal. Suzanne konnte gerade noch verhindern, dass sich die klebrige Flüssigkeit über den Tisch und den Küchenboden verteilte. „Merde alors.“ Tränen der Wut traten ihr in die Augen und mit einer heftigen Bewegung griff sie zum Telefonhörer, der zwischen benutzten Tellern und einer eselsohrigen Frauenzeitschrift auf dem Küchentisch lag. Zum x-ten Mal an diesem Tag versuchte sie nun schon, ihre Freundin Irina zu erreichen.
„Verdammt noch mal, wo steckst du denn?“, brüllte sie ins Telefon. „Kannst du nicht endlich einmal deine verfluchte Mailbox abhören? Untersteh dich und lass mich in dieser beschissenen Situation einfach hängen. Das kannst du nicht machen, hörst du?“ Suzannes Stimme überschlug sich fast. „Du steckst da genauso tief drin wie ich. Wir müssen uns dringend besprechen, bevor die Bullen wieder kommen, also ruf mich gefälligst zurück.“
Zitternd vor Zorn drückte sie die Taste, um die Verbindung zu beenden. Wütend starrte sie auf das Telefon in ihrer Hand. Nun komm wieder runter, sie wird sich schon melden, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Vielleicht hat sie kein Netz oder der Akku ihres Handys ist leer.
„Maman?“ Ein zierliches Gesichtchen tauchte in Suzannes Blickfeld auf und fragende Kinderaugen schauten zu ihr empor. „Bist du auf jemanden böse?“
„Aber nein, meine Kleine.“ Suzanne legte ihre Hand auf die ungekämmten Haare ihrer Tochter und streichelte zerstreut den kleinen Kopf. „Geh wieder in dein Zimmer, es ist alles in Ordnung.“
Doch das Kind hatte offensichtlich nicht vor, die Aufmerksamkeit der Mutter so schnell wieder aufzugeben und schickte sich an, auf Suzannes Schoß zu klettern.
„Ich mag nicht in mein Zimmer gehen, ich bleibe hier bei dir.“
Mit ernstem Gesicht umfasste die junge Frau die schmalen Ärmchen ihrer Tochter und hob sie von sich weg.
„Allez-hopp, runter mit dir. Ich habe jetzt keine Zeit zum Kuscheln, Samantha.“ Sie gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern. „Na, lauf schon, sonst versteckt dein Bruder wieder all deine Puppen.“
Auf ihren kurzen Beinchen rannte die Fünfjährige aus der Küche, und gleich darauf hörte man eine Tür zuschlagen. Suzanne seufzte und setzte die Colaflasche an ihre Lippen. Sie trank gierig und spürte, wie die Mischung aus Zucker und Koffein sie auf angenehme Weise anregte. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren, sagte sie sich. Irina würde schon wieder auftauchen. Wahrscheinlich hatte sie einen neuen Lover und saß knutschend auf einer Bank im Jardin du Luxembourg. Aber nein, Suzanne lächelte bitter, dieser Gedanke war nun doch zu abwegig. Die Männer ihrer Freundin hatten sich bisher allesamt als Versager erwiesen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie jemals einen Typen kennenlernen würde, der mit ihr nach Paris fuhr, um einen romantischen Spaziergang durch einen der hübsch angelegten Parks zu machen. Nein. Irinas Typen waren von anderem Kaliber. Und deshalb saß sie jetzt ganz bestimmt nicht vor einem Strauch edler Rosen, sondern irgendwo zwischen weggeworfenen MacDonalds-Tüten und leeren Zigarettenschachteln. Suzanne rieb sich die Augen und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Ihre Freundin würde sich schon melden, sie musste sich nur etwas gedulden. Sicher war es reiner Zufall, dass Irina gerade heute nicht auffindbar war. Wenn uns dieser Typ tatsächlich Ärger machen sollte, weiß ich schon was zu tun ist, hatte sie verkündet und gelacht. Vor nicht einmal zwei Wochen war das gewesen. Da war es gerade erst passiert. Suzanne schluckte und ein Schauer durchlief ihren Körper, als sie sich an den Tag erinnerte, an dem alles begonnen hatte. Ihr Nachbar, ein arroganter Angeber, der ganz offensichtlich in kriminelle Machenschaften verstrickt war, hatte sie und ihre Freundin Irina zu einer Party eingeladen. Die Wild Nights sind legendär, Mädels, hatte er großspurig erklärt und sie mit einem Blick angesehen, als erwarte er, dass ihm die beiden vor Ehrfurcht und Dankbarkeit die Füße küssen würden. Zu diesen Partys komme die Crème de la Crème der Unterwelt, hatte er gesagt. Er hatte von Champagner erzählt, von Austern und Kaviar und jeder Menge Marihuana. Auch Stärkeres, wenn sie sich trauten. Er hatte gelacht, und Suzanne erinnerte sich, dass ihre Freundin und sie sich gefühlt hatten wie überdrehte Teenager. Oh ja, sie waren mehr als bereit gewesen, von der süßen Frucht des Verbotenen zu naschen und für ein paar Stunden ihren tristen Alltag zu vergessen. Außerdem waren sie sich einig gewesen, dass es höchste Zeit wurde, einmal wieder ausgelassen und zügellos zu feiern. Und zwar in Gesellschaft des einflussreichsten Mafiabosses der Stadt. So jedenfalls hatte Michel ihnen den Gastgeber der Party beschrieben. Oh là là, das würden sie sich nicht entgehen lassen.
Suzanne spürte, wie sich ein nervöses Zucken unterhalb ihres Auges ankündigte, als sie an die Nacht dachte, die alles verändert hatte. Und wie es aussah, ging der Albtraum immer noch weiter. Mit kleinen Schlucken trank sie die dunkle Limonade, während ihre Gedanken in die schummrige Bar in einem Kellergewölbe im 12. Pariser Arrondissement zurückkehrten. Der Abend war ihnen vorgekommen wie ein Märchen. Zumindest während der ersten Stunden. Der Champagner und ein paar Joints hatten sie in Hochstimmung versetzt, und die Männer waren gutaussehend und in Flirtlaune gewesen. Macht macht so sexy, hatte Irina gelacht und sich an einen bullig wirkenden Typen gekuschelt, der ihr grinsend erst das Glas aufgefüllt hatte und ihr dann mit einem zufriedenen Grunzen an den Hintern grapschte. Wenig später war auch sie selbst einem der Männer näher gekommen. Ein gebräuntes Gesicht mit stechend blauen Augen, das war alles, woran sie sich erinnern konnte. Und dass sie die Berührungen des Mannes genossen hatte. Sie hatte sich begehrenswert gefühlt. Wie eine Filmdiva.
Suzanne lachte bitter, als sie daran zurückdachte. Wie unendlich dumm sie doch gewesen war. Sie horchte kurz auf, als Lärm vom Treppenhaus in ihre Wohnung drang. Eine Tür schlug mit lautem Knall zu und dann war es wieder still. Sie dachte daran, wie die Nacht geendet hatte und war trotz allem froh, dass ein gnädiges schwarzes Loch ihre Erinnerung zum Teil ausgelöscht hatte. Umso deutlicher standen ihr die Bilder vor Augen, die sie selbst im kalten Licht des Morgengrauens zeigten. Mit verschmierter Schminke, zerzausten Haaren und noch den Geruch der Männer an sich, von denen keiner mehr zu sehen war. Nur Michel Souliac, der war noch da gewesen und er war es auch, der sie aufgeweckt hatte. Seine Stimme hallte in ihrem Kopf, als sie an den furchtbaren Morgen zurückdachte.
„Bonjour ma belle!“ Sein Lächeln war falsch gewesen. „Schwing deinen Hintern vom Sofa und such deine Klamotten zusammen. Deine Freundin ist auf dem Klo, falls du sie suchst. Kannst dich wohl an nichts mehr erinnern, was? Ich helf dir auf die Sprünge, Kleines. Du und deine Freundin, ihr habt die Jungs ganz schön heiß gemacht.“
Suzanne erinnerte sich schaudernd, dass Michel sich mit der Zunge über die Lippen gefahren war wie ein ekelerregendes menschliches Reptil. „So wild hätte ich euch gar nicht eingeschätzt. Wohl lange keine Männer mehr im Bett gehabt, was?“
Suzanne konnte sein ekelhaftes Lachen so deutlich hören, als würde er leibhaftig in ihrer Küche stehen. Sie stützte den Kopf auf ihre Hände und versuchte vergeblich, die Erinnerungen zu verdrängen. Es gelang ihr nicht. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Irina in den Raum treten. Gerade in dem Moment, als Michel weiter gesprochen hatte.
„Meine Freunde waren so begeistert, dass sie Lust auf mehr haben. Sogar Alphonse, der sonst sehr anspruchsvoll ist, was Weiber betrifft. Also haltet euch bereit, Mädels, verstanden?“ Seine schmeichelnde Stimme hatte vor Scheinheiligkeit nur so getrieft. „Ich kann meinen Freunden diesen Wunsch auf keinen Fall abschlagen, das werdet ihr doch sicher verstehen?“
Suzanne schüttelte heftig den Kopf, als wolle sie eine lästige Fliege abwehren. Nein, bloß nicht daran denken, was dann passiert war. Doch sie wehrte sich vergeblich, die Erinnerung ließ sich nicht verdrängen.
„Bist du verrückt geworden, du aufgeblasener Möchtegern-Krimineller? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir für dich die Nutten spielen?“ Irina war außer sich gewesen. Sie hatte einen gefüllten Aschenbecher aus schwerem Granit gepackt und ihn in Souliacs Richtung geschleudert. „Was bist du nur für ein perverses Schwein!“
„Très charmante, ma belle. Ich liebe temperamentvolle Frauen.“
Michel war dem Geschoss aus Asche und Stein geschickt ausgewichen und erstaunlich ruhig geblieben. Nur seine Finger hatten unablässig an seinem Handy herumgespielt.
„Schade, dass ihr gar keine Wahl habt, Mädels. Für wie blöd haltet ihr mich?“ Er hatte sein Smartphone so gedreht, dass sie das Display sehen konnten. „Ein geiles Filmchen ist das geworden, ich muss mich selber loben. Absolut heiß. Und ein bisschen dreckig.“
Suzanne hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, als sie sich an diesen Moment zurückerinnerte. Und der Albtraum war noch nicht vorbei gewesen.
„Lasst euch bloß nicht einfallen, Ärger zu machen. Solche Filme sind im Netz sehr begehrt, da ist man in der Nachbarschaft auf einmal richtig bekannt. Meinst du nicht auch, Irina, dass dein seniler Opa ganz schön geschockt wäre, das zu sehen?“
Noch bevor Irina sich hatte auf ihn stürzen können, hatte er sie gepackt und ihr mit einem einzigen Griff beide Arme nach hinten gedreht. Und dann hatte er Suzanne mit kaltem Blick gemustert.
„Keine Spielchen, verstanden? Einige meiner Jungs stehen nämlich auch auf ganz junges Gemüse. Tja, ekelhaft sowas, aber wenn es sie anmacht … Soviel ich weiß, hast du eine zuckersüße Tochter, nicht wahr? Und ist sie nicht auch dein Patenkind?“
Den letzten Teil des Satzes hatte er Irina, die mit schwindender Kraft versucht hatte, sich aus Souliacs brutalem Griff zu befreien, ins Ohr geflüstert.
„Du perverses Schwein! Ich bring dich um, du elender Dreckskerl!“
An diesen Punkt brach Suzannes Erinnerung ab. Sie wusste nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, sich anzuziehen und nach Hause zu kommen. Doch was sie nicht vergessen würde, das war diese eine, unter Schmerzen und Wut herausgeschriene Drohung ihrer Freundin.
„Ich bring dich um, du elender Dreckskerl!“
Sollte Irina tatsächlich …? Nein, unmöglich, das konnte nicht sein. Und es durfte nicht sein. In Suzannes Vorstellung begannen Bilder zu entstehen, die sie mit einer energischen Handbewegung zu verscheuchen versuchte. Nein, dazu war ihre Freundin nicht fähig. Nicht mehr, verbesserte sie gleich darauf eine leise Stimme in ihrem Kopf. Diese Zeiten waren lange vorbei, und Irina hatte sich seither nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Zudem hatte ihnen dieser Michel Souliac ja auch überhaupt keinen Ärger gemacht. Er hatte sich nicht einmal mehr gemeldet. Zufrieden mit ihrer eigenen Erklärung gab Suzanne dem schnurlosen Telefon einen Schubs, so dass es sich auf dem Tisch drehte und dabei gegen ein Glas schlug, an dessen Boden sich ein undefinierbarer brauner Belag abgesetzt hatte.
„Ich muss dringend spülen“, murmelte sie, als im Nebenzimmer ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Suzanne Hérault seufzte. Sie erhob sich mit einer so heftigen Bewegung von ihrem Stuhl, dass er nach hinten weg kippte und mit der Lehne hart auf dem Fliesenboden aufschlug. Mit langen Schritten lief sie durch den bereits dämmrigen Flur und riss die Tür zum Kinderzimmer auf.
„Was ist denn nun schon wieder los, Herrgott nochmal?“
Vier Kinderaugen richteten sich erschrocken auf Suzanne, die wie ein Racheengel im Türrahmen stand.
„Samantha hat …!“
„Aber Kévin hat angefangen und dann hat er das Regal umgestoßen und …!“
Während die beiden Kinderstimmen sich vor Aufregung fast überschlugen, starrte Suzanne auf das Durcheinander im Zimmer und wünschte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag ganz weit fort. Der Raum sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das kleine weiße Regal, das aus zwei übereinander gezimmerten Brettern bestand, war umgestürzt und hatte alles, was sich zuvor darauf befunden hatte, mit sich gerissen. Kinderbücher, Brettspiele und kleine Plastikfiguren lagen über dem Boden verstreut. Ein ausgedienter Schuhkarton, in dem Samantha ihre Puppenkleider aufbewahrte, lag plattgedrückt unter den Regalbrettern. Mit versteinertem Gesicht ging Suzanne durch das Zimmer zum Etagenbett ihrer Kinder und schüttelte die Decke im oberen Bett auf. Sie hatte das Gefühl, sich auf etwas konzentrieren zu müssen, um keinen hysterischen Anfall zu bekommen. Sie beugte sich zur unteren der beiden Matratzen hinunter und schüttelte auch hier Kissen und Decke auf. Ihr Blick fiel auf das Laken und ihre Lippen wurden schmal. Suzanne drehte sich zu ihrer Tochter um, die immer noch hinter ihr auf dem Fußboden saß. Gerade wollte sie den Mund öffnen, um Samantha ein für allemal klar zu machen, dass sie im Bett nicht trinken sollte, als sie deren weit aufgerissene Augen sah.
„Es ist einfach so passiert, Maman“, wimmerte das Kind und Suzanne sah ihr an, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. „Ich habe geträumt und dann war auf einmal das Bett nass.“
Die Kleine schniefte und wehrte ihren siebenjährigen Bruder ab, der singend vor ihr herumtanzte.
„Samantha hat ins Bett gemacht, Samantha hat ins Bett gemacht.“
„Schluss jetzt, Kévin!“ Suzanne hob drohend die Hand und bedeutete ihrem Sohn mit einer Kopfbewegung und einem eindeutigen Blick, den Mund zu halten und das Zimmer zu verlassen. Sie setzte sich zu ihrer Tochter auf den Boden und zog sie in ihre Arme. „Meine Kleine, das ist nicht schlimm, Maman ist nicht böse.“ Sie wiegte sie sachte hin und her. Was mochte ihr Kind wohl so beschäftigen, dass sie plötzlich ins Bett nässte? Oder konnte das in diesem Alter auch passieren, wenn man schlecht träumte? Suzanne wusste es nicht.
„Hast du denn einen bösen Traum gehabt, mein Schatz?“, fragte sie ihre Tochter und streichelte ihr weiter beruhigend die schmalen Ärmchen.
„Ich weiß nicht“, Samantha zog noch einmal geräuschvoll die Nase hoch. „Vielleicht habe ich wieder von dem Mann geträumt.“
„Von welchem Mann?“ Suzanne Hérault musste sich zusammenreißen, um ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus und ließ ihn seltsam starr werden. „Samantha, von welchem Mann?“
„Der, mit dem sich Tante Irina letztens so laut gestritten hat. Der mit den eklig schmierigen Haaren.“
Suzannes Schädel fühlte sich an, als würden ihn kräftige Hände umschließen und langsam zudrücken. Samantha berichtete ihrer Mutter mit schnellen, aufgeregten Worten, die ab und zu von einem atemlosen Schluchzer unterbrochen wurden.
„Wir haben ihn gesehen, als ich mit Tante Irina im Park war, weißt du. Er ist immer wieder in unserer Nähe aufgetaucht und hat komische Grimassen gemacht. Am Anfang haben wir beide gelacht, Tante Irina und ich, und sie hat gesagt, dass das ein lustiges Spiel sei. Aber dann ist er auf einmal ganz dicht an mich herangekommen und hat versucht, mich wegzuziehen.“ Bei der Erinnerung daran schnappte Samantha kurz nach Luft.
„Komm, wir spielen Verstecken, hat er gesagt. Aber Irina hat ihn angeschrien und die beiden haben sich furchtbar laut gestritten. Mitten auf dem Spazierweg im Park. Da bin ich ein Stück weggelaufen. Aber zum Glück war noch ein anderer Mann da. Der war ganz lieb und hat …"
Suzanne war zu geschockt, um ihre Tochter ausreden zu lassen. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen schloss sie ihr Kind fest in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Mein armer Schatz. Nun brauchst du aber keine Angst mehr zu haben, mein Liebling“, flüsterte sie und es fiel ihr schwer, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. „Der böse Mann ist fortgegangen und er kommt auch bestimmt nie mehr wieder.“
„Dann ist es ja gut“, flüsterte die Kleine und kuschelte sich noch ein wenig fester an ihre Mutter. „Und Tante Irina ist bestimmt auch froh, dass es geklappt hat.“
„Das was geklappt hat, mein Schatz?“
Samantha fielen vor Müdigkeit schon fast die Augen zu und schläfrig murmelte sie: „Na, dass er fortgegangen ist und nie mehr wieder kommt. Als wir nach Hause gelaufen sind, hat Tante Irina mir versprochen, dass er mir nie mehr Angst einjagen wird.“
Eigentlich hatte Samantha ihrer Mutter noch etwas erzählen wollen, doch sie war inzwischen so müde geworden, dass sie einfach nur zufrieden die Augen schloss. Bald waren nur noch ihre gleichmäßigen Atemzüge zu hören.
Suzanne schloss leise die Tür des Kinderzimmers hinter sich und starrte wie betäubt in den inzwischen dunkel gewordenen Flur. Aus dem Wohnzimmer drangen Gesprächsfetzen und laute Musik. Kévin musste wohl den Fernseher eingeschaltet haben. Die junge Frau lehnte ihren Kopf an den Türrahmen und schloss die Augen. Souliac hatte seine Drohung tatsächlich wahr gemacht und ihr Kind bedroht. Und nun war er tot. Und ihre Freundin Irina nicht auffindbar. Der Verdacht, den sie vor nicht einmal einer halben Stunde zu verdrängen versucht hatte, erfasste noch einmal mit Macht ihre wirren Gedanken. Ein kurzes, hysterisches Lachen drang an ihre Ohren. Erst nach einigen Sekunden begriff Suzanne Hérault, dass es aus ihrer eigenen Kehle gekommen war. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben und ließ sich langsam am Türrahmen hinabgleiten. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.