Читать книгу Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - Страница 6
Avenue van Dyck, 8. Arrondissement
ОглавлениеKommissarin Victoire Eléonore de Belfort gähnte. Gerade noch war sie im Traum über eine wunderschöne Blumenwiese spaziert und nun saß sie schlaftrunken zwischen den durcheinandergeratenen Laken ihres Bettes und tastete nach dem Handy. Ihr Schlafzimmer lag in völliger Dunkelheit. Die schweren Brokatvorhänge vor den bodentiefen Doppelfenstern ließen nicht den kleinsten Schimmer des Mondlichtes eindringen, das draußen die Bäume des Parc Monceau versilberte. Vic, wie ihre Freunde sie nannten, hielt sich das bläulich leuchtende Viereck des Displays direkt vors Gesicht und blinzelte. Ein entgangener Anruf. Offenbar hatte sie so fest geschlafen, dass sie die Melodie ihres Ruftons als Teil ihres Traumes wahrgenommen hatte. Die Nummer sagte ihr nichts, aber es musste Loïc Perrec gewesen sein, der da gerade versucht hatte, sie zu erreichen. Sie seufzte tief und betrachtete resigniert die kleinen Zahlen, die ihr die Zeit anzeigten. Wer sonst sollte sie auch an einem Donnerstagmorgen um vier Uhr dreiundzwanzig anrufen? Offensichtlich hatte sie die Mobilnummer ihres Inspektors noch nicht zu den Telefonkontakten hinzugefügt. Der junge Bretone gehörte erst seit gut einer Woche zu ihrem Team. Er hatte einige Jahre in einer kleinen Dienststelle an der Côte d‘Armor gearbeitet und sich nach einer Weiterbildung an der École Nationale de Police in Saint-Malo für die höhere Beamtenlaufbahn im Polizeidienst qualifiziert.
„Ein äußerst intelligenter junger Mann“, war de Belforts Vorgesetzter, Monsieur le Préfet, voll des Lobes gewesen. „Meine uneingeschränkte Hochachtung vor jungen Menschen, die aus, wie soll ich sagen“, der Chef der Polizeibehörde hatte sich umständlich geräuspert, „die aus dem einfachen Volk kommen und sich aufgrund ihrer Intelligenz und einer großen Portion Ehrgeiz in die oberen gesellschaftlichen Ränge emporarbeiten.“ Während er sprach, hatte er eine fast militärische Haltung angenommen und ausgesehen, als wolle er in Kürze das Défilé der französischen Ehrenlegion abnehmen. De Belfort verstand sich sehr gut mit dem Präfekten, der, stolzer Repräsentant eines alten Pariser Adelsgeschlechtes, mit vollem Namen Édouard Philippe Charles de Montmirail hieß. Obwohl Éd, wie er in der Brigade genannt wurde sobald er außer Hörweite war, wie die personifizierte Definition für Großbürgertum daherkam, war er ein kompetenter und charakterstarker Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Am Quai des Orfèvres, dem Sitz der Brigade Criminelle, der Pariser Mordkommission, genoss er daher hohes Ansehen und das absolute Vertrauen seiner Mitarbeiter. De Belfort gähnte erneut. Während sie sich ihr linkes Auge rieb, drückte sie mit der anderen Hand die Taste, die sie mit Perrec verbinden würde.
„Guten Morgen, Madame le Commissaire“, vernahm sie kurz darauf die herzliche und ein wenig aufgeregte Stimme ihres Inspektors.
„Ich bin mir sehr sicher, dass er ganz und gar nicht gut ist, habe ich recht?“, entgegnete de Belfort, ohne sich lange mit einem Gruß aufzuhalten. „Sie werden mich nicht ohne Grund zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geklingelt haben.“
Kaum waren die Worte ausgesprochen, taten sie ihr auch schon leid. Ihr Inspektor konnte schließlich nichts dafür, dass es offensichtlich wieder einmal Zeit war, einen Mord aufzuklären. Und in den meisten aller Fälle geschahen derlei Dinge nun einmal nicht am Nachmittag. Noch weniger aber konnte er dafür, dass sie bereits mit einer geradezu unterirdisch schlechten Laune zu Bett gegangen war. Daran hatte Étienne Schuld, ihre große Liebe und zuverlässiger Quell für prickelndes Glücksgefühl und dunkelsten Herzschmerz. In welche Richtung der Kompass der Emotionen gestern Abend ausgeschlagen hatte, das hatte ihr Inspektor soeben zu spüren bekommen.
„Perrec, sind Sie noch dran?“, fragte sie und achtete darauf, ihre Stimme so freundlich und warm klingen zu lassen, wie es ihr unter den gegebenen Umständen eben möglich war.
„Ja, entschuldigen Sie, Commissaire, selbstverständlich, ich war kurz abgelenkt“, kam seine Antwort, nun eine winzige Spur kühler als zuvor. „Wir haben hier eine Leiche.“
De Belfort legte geistesgegenwärtig die Hand über den Lautsprecher des Telefons, bevor sie genervt einen Schwall Luft ausstieß. Sie verdrehte die Augen zur Decke und ihre Lippen formten ein stummes: Womit habe ich das bloß verdient? Dann führte sie ihr Handy zurück ans Ohr und sagte betont aufgeräumt:
„Hören Sie, lieber Perrec, Sie können davon ausgehen, dass ich nicht erwartet habe, mit diesem Anruf zu einem Frühstück in die Bar des Palais de Chaillot eingeladen zu werden.“ Sie musste über ihren Einfall selbst schmunzeln und fragte sich, wie sie nun gerade auf dieses Restaurant gekommen war, in dem sie seit Jahren nicht mehr gegessen hatte.
„Alors, Perrec“, sagte sie aufmunternd, „sagen Sie mir, wo!?“
„Trocadéro“, kam die zögerliche Antwort aus der Leitung und es klang fast wie eine Frage. „Aber was hat das mit Frühstück zu tun?“
De Belfort rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel. Das durfte alles nicht wahr sein. Sie erhob sich von ihrem Bett und lief im schwachen Licht des Handydisplays zum Fenster. Mit der freien Hand zog sie die schweren Vorhänge zurück und blickte zum Himmel, an dem der Vollmond groß und erstaunlich dreidimensional zu sehen war. Hatte Éd wirklich von eben diesem Loïc Perrec gesprochen, als er sich in nicht enden wollenden Lobeshymnen ergangen hatte? Sie betrachtete den Park, der nur ein paar Meter von ihrem Fenster entfernt lag. Der herrschaftliche, schmiedeeiserne Zaun, der ihn umgab, verlieh diesem grünen Fleckchen Paris eine ganz besondere Schönheit. Ihr Blick blieb in den silbrig glänzenden Baumkronen hängen, die sich sachte im Wind bewegten. Womöglich schlief sie noch und diese Szene war nur ein absurder Teil eines verworrenen Traumes.
„Madame? Hören Sie mich noch, Madame le Commissaire?“
De Belfort räusperte sich und hielt sich ihr Mobiltelefon direkt vor den Mund, bevor sie betont langsam zu sprechen begann. Perrec musste annehmen, dass sie ihn für einen kompletten Idioten hielt, aber momentan war sie von diesem Gedanken nicht allzu weit entfernt.
„Hören Sie Perrec, ich weiß, dass das Palais de Chaillot am Trocadéro ist. Die Erwähnung dieses Restaurants war ein Scherz. Das gleiche gilt für das Frühstück. Ein Scherz, Perrec! Ich verstehe ja Ihre Aufregung, schließlich ist das Ihr erster Toter. Aber nun konzentrieren Sie sich bitte und berichten mir, an welchem Ort Sie sich gerade befinden. Wo zum Teufel sind Sie?“
„Trocadéro“, wiederholte der Inspektor und nun klang er wie ein trotziges Kind. „Ich befinde mich im Jardin du Trocadéro und zwar direkt bei diesem historischen Karussell. Das kennen Sie doch sicher, Madame le Commissaire.“
Auch wenn es aufgrund der immer noch herrschenden Dunkelheit unerheblich war, so spürte de Belfort in diesem Moment, wie ihre Gesichtsfarbe in schneller Abfolge von einem tiefen Rot zu fahlem Bleich und wieder zurück wechselte.
„Entschuldigen Sie bitte, Perrec, ich dachte, ich meine, ich dachte, Sie hätten, ach, Himmel noch mal, ich bin einfach noch nicht richtig wach …"
„Schon gut, Madame le Commissaire“, kam seine Stimme ein wenig scheppernd durch den Lautsprecher. „Wir haben wohl aneinander vorbeigeredet. Ein Missverständnis, halb so schlimm.“
Er lachte fröhlich, doch de Belfort konnte die Unsicherheit heraushören, die sich dahinter verbarg.
„Nein, Inspektor, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte sie mit ernster Stimme, die kurz darauf einen weniger förmlichen Ton annahm. „Und nun geben Sie mir noch ein paar Minuten, ich bin gleich bei Ihnen.“
„Soll ich Ihnen einen Beamten schicken, der Sie mit dem Wagen abholt?“
„Non merci, das ist nicht nötig, ich nehme das Rad.“
Noch bevor ihr Mitarbeiter etwas erwidern konnte, drückte sie die Gespräch beenden-Taste ihres Handys und warf es hinter sich aufs Bett. Mit energischen Schritten ging sie zur Schlafzimmertür und trat in den stuckverzierten Flur, der ihre Wohnung auf einer Länge von elfeinhalb Metern durchzog. Hochherrschaftlich! Nobel! Königlich! Mit diesen oder ähnlichen Ausrufen bedachten ihre Freunde ihr Appartement, wenn sie es zum ersten Mal betraten. Was vor allem daran lag, dass sie selbst zumeist einen Bruchteil all der Quadratmeter bewohnten, die sie hier staunend und mit offenem Mund durchwanderten. Doch abgesehen von der Größe und der 1A-Lage direkt am Park, zeigte de Belforts Wohnung keinerlei Anzeichen großbürgerlicher Gesinnung. Die komplette Inneneinrichtung bestand aus alten, zum Teil deutlich abgenutzten Möbeln, die in kreativem und sehr gemütlichem Durcheinander die Zimmer füllten. Die Kommissarin liebte es, über die Antikmärkte in den Straßen von Paris zu wandern. Und mit den Schätzen, die sie dort entdeckte, hatte sie sich ihr Zuhause geschaffen.
Sie sprang unter die Dusche und zog kurz darauf in aller Eile Jeans und ein langärmeliges Poloshirt aus dem Schrank. Auf dem Weg zur Wohnungstür schnappte sie sich ihre Jacke und schlüpfte in die dunkelblauen Turnschuhe, während sie schon den Hausschlüssel von einem filigranen Brett gleich neben der Tür nestelte. Verflixt, jetzt hätte sie fast ihr Handy vergessen. Auf Zehenspitzen, damit die Nachbarn in der Wohnung unter ihr nicht aus den Betten fielen, rannte sie ins Schlafzimmer und zog das Telefon zwischen den Laken hervor. Kurz darauf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Aus einem kleinen Abstellraum in der großzügigen Eingangshalle des typisch pariserischen Haussmann‘schen Gebäudes zog sie ein weiß lackiertes Mountainbike hervor. Nur wenige Sekunden später trieb die Kommissarin ihr Rad mit kräftigen Tritten die nahezu menschenleere Avenue Hoche hinunter. Victoire de Belfort liebte diese Art der Fortbewegung. Und morgens um kurz vor fünf genoss sie sie ganz besonders. Sie spürte den angenehm kühlen Lufthauch auf ihrem Gesicht, während sie in rasantem Tempo die Avenue bis zur sternförmig angelegten Place Charles de Gaulle-Étoile entlangfuhr. Um diese Uhrzeit waren kaum Autos unterwegs und so schoss sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den Platz. Bevor sie in die Avenue Marceau einbog, warf sie den gewaltigen Mauern des Arc de Triomphe einen kurzen, bewundernden Blick zu. Sie folgte der Straße, überholte ein am Straßenrand dahinschleichendes Gefährt der Pariser Stadtreinigung und hob grinsend die Hand, als einer der dazugehörigen Männer ihr mit seinem giftgrünen Besen zuwinkte. Wenige Minuten später erreichte sie das Ufer der Seine und fuhr am Fluss entlang, der ihr im fahlen Licht des frühen Tages die Richtung wies. Nun war es nicht mehr weit. Das letzte Stück legte sie auf einem schmalen, von Platanen gesäumten Fußgängerweg zurück, der parallel zur Straße verlief. Zwischen den Blättern der Bäume sah sie bereits die zuckenden Blaulichter, die ihr anzeigten, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatte.
„Hé, Sie da! Sie dürfen hier nicht durchfahren!“
Der Uniformierte streckte der Kommissarin schon von weitem seinen Arm entgegen und näherte sich mit energischen, weit ausholenden Schritten. De Belfort hatte sich gerade das gelbe Absperrband über den Kopf gehoben und war im Begriff wieder auf ihr Fahrrad zu steigen, als sie erkannte, dass die Hand des Polizisten zum Halfter an seinem Gürtel glitt.
„Keine Panik, Kollege, die Knarre können Sie stecken lassen.“
Der Gendarm blieb stehen und blickte stirnrunzelnd auf die Gestalt, die sich ihm nun rasant auf einem weißen Mountainbike näherte und gleich darauf neben ihm zum Stehen kam. Eine attraktive Brünette schaute ihn freundlich an. Sie sah aus wie die französische Schauspielerin, die er erst vor ein paar Wochen in einem Kinofilm gesehen hatte. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht an den Namen erinnern und nahm sich vor, am Abend seine Frau danach zu fragen.
„Commissaire de Belfort“, stellte sich Victoire dem Beamten vor und nestelte ihren Dienstausweis aus der Innentasche ihrer Jeansjacke. „Bonjour.“
“Oh Pardon, Madame le Commissaire.” Der Beamte war sichtlich verlegen. „Ich hatte nicht erwartet, dass …"
„Schon gut, Sie haben ja nichts falsch gemacht, im Gegenteil. Zugegebenermaßen ist es ein wenig ungewöhnlich, dass der Kommissar mit dem Rad kommt.“
Und dann auch noch ein weiblicher, dachte de Belfort und lächelte dem Mann noch einmal zu. Sie schaute zum Karussell hinüber. Eine Ambulanz und ein Leichenwagen, dazu eine Menge lautlos blinkender Blaulichter und ernst aussehende Männer und Frauen, die professionell und routiniert ihren Job machten. Sie war am Tatort. Ein weiterer in der Reihe der vielen, unendlich vielen Tatorte, die sie in ihrer Laufbahn schon gesehen hatte. Und doch hat man jedes Mal wieder ein mulmiges Gefühl, dachte sie, als sie sich langsam näherte und die Umgebung konzentriert in sich aufnahm. Sicher, Tod und Grausamkeit gehörten zu ihrer täglichen Arbeit und mit der Zeit hatte sich tatsächlich eine gewisse Routine eingestellt. Doch der Anblick eines toten Menschen war für sie immer noch schwer zu ertragen. Worüber sie letztendlich froh war, denn zu einer abgestumpften Beamtin zu werden, das war nun wirklich nicht das, was sie anstrebte. De Belfort lehnte ihr Fahrrad an einen der schmalen Pfosten, die verhindern sollten, dass der Platz als Parkfläche genutzt wurde. Schon von weitem erkannte sie ihren Inspektor. Er trug, wie immer seit er in ihr Team gekommen war, seine Outdoor-Jacke. Das jeweils vorherrschende Wetter schien für den großgewachsenen jungen Mann mit den dunkelblonden Haaren und der kräftigen Statur dabei offensichtlich kaum eine Rolle zu spielen. Er trug sie auch bei schönstem Sonnenschein. Sie würde ihn bei Gelegenheit fragen, was es damit auf sich hatte. Vielleicht war sie sein Glücksbringer? Bretonen waren dafür bekannt, abergläubisch zu sein. Während sie zu ihm und all den anderen Personen, die ein Mord auf den Plan rief, hinüberging, warf sie einen Blick zum Palais de Chaillot hinauf. Das Gebäude aus den 1930er Jahren wirkte im diffusen Licht des nahen Morgens abweisend und bedrohlich. Dunkel blickten die riesigen Fenster auf den darunter liegenden Park und die gewaltigen Brunnen, deren Wasserspiele um diese Uhrzeit freilich ausgeschaltet waren. Die beiden Gebäudeteile, die den Platz umgaben, auf dem sich tagsüber Massen von Touristen um die beste Aussicht auf den Eiffelturm stritten, wirkten wie steinerne Wächter. Kalt hoben sie sich gegen den wolkenlosen Himmel ab, der bereits zarte Schimmer von Orange und Rosa erkennen ließ.
„Guten Morgen.“
De Belfort reichte ihrem Inspektor die Hand und drückte sie ein wenig länger als normal. Er verstand ihre Geste und nickte ihr freundlich zu. Dann wies er mit dem Kopf zu einem Karussell, das mit Hilfe zweier 1000 Watt Halogen-Einsatzscheinwerfer bis in die hintersten Winkel ausgeleuchtet wurde. Sie näherten sich der Ansammlung aus altertümlichen Holzpferden und geschwungenen Kutschen in Muschelform. Die Kommissarin spähte durch das Gewirr aus Stangen und Stäben, bis sie schließlich eine Gestalt inmitten dieses nostalgischen Kindertraumes ausmachen konnte. Mit verzerrtem Gesicht und in einer wahrlich unbequemen Position verrichtete Docteur Dupin, der Rechtsmediziner, seine Arbeit. Das Bild, das sich ihr bot, konnte skurriler nicht sein. Sie musste sich konzentrieren, um nicht laut aufzulachen. Sie hob ihren Handrücken vor den Mund und warf Perrec einen fragenden und zugleich amüsierten Blick zu.
„Was zum …?“
„Ersparen Sie sich bitte jeglichen Kommentar, Madame le Commissaire“, tönte die leicht gedämpft klingende Stimme des Pathologen an ihr Ohr. „Ich weiß selbst, wie unendlich lächerlich ich wohl aussehen muss. Geradezu demütigend lächerlich.“
Während Victoire de Belfort und Loïc Perrec noch auf den erstaunlich naturgetreu nachempfundenen Fesselballon starrten, aus dessen winzigem Einstieg die – mit den Fußspitzen nach oben – Beine des Gerichtsmediziners ragten, tauchte dessen Kopf wie in Zeitlupe am Rande des hölzernen Korbes auf. Unter Ächzen und mit kaum unterdrücktem Fluchen folgten gleich darauf die Hände, mit Hilfe derer sich Monsieur le Docteur in eine halbwegs aufrechte Position zu hieven versuchte. De Belfort blickte mit einem breiten Grinsen zu ihrem Inspektor hinüber und registrierte zufrieden, dass auch er sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Sie war also nicht die Einzige, die inmitten dieses eigentlich so tragischen Szenarios für eine gewisse Situationskomik anfällig war. Doch schon im nächsten Augenblick rissen sich beide zusammen.
„Schießen Sie los, Docteur“, forderte die Kommissarin den Rechtsmediziner auf. „Sie wissen ja, was uns interessiert.“
„Und Sie wissen, was ich zu diesem Zeitpunkt und ohne vorherige Obduktion sagen kann“, erwiderte Docteur Dupin, der inzwischen aus dem Korb des altertümlichen Fesselballons herausgeklettert war. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. „Der Tote ist männlich, soviel war schon ohne viel Aufhebens erkennbar. Netterweise trug er seinen Ausweis bei sich, bevor er sich hat ermorden lassen. Er heißt Michel Souliac, ist 24 Jahre alt und kommt aus Trappes. Das liegt in der westlichen Banlieue, kein besonders edles Pflaster“, fügte er mit einem kurzen Seitenblick auf Loïc Perrec hinzu, von dem er wusste, dass er noch nicht lange in Paris lebte.
„Ich weiß“, entgegnete dieser. „2005 und auch 2013 war dort einiges los. Jugendkrawalle, brennende Autos und offene Gewalt auf den Straßen. Und noch heute gibt es in Trappes zumindest zwei polizeibekannte Gangs.“
De Belfort bedachte ihren neuen Mitarbeiter mit einem anerkennenden Seitenblick und machte sich im Geiste eine kleine Notiz: Engagiert, interessiert, hat seine Hausaufgaben gemacht.
„Sehr richtig“, holte sie der Gerichtsmediziner aus ihren Gedanken und nickte Perrec anerkennend zu. „Auf den ersten Blick kommt aber in diesem Falle keine Bandenkriminalität in Frage, wenn ich mir erlauben darf, meine Meinung kundzutun.“ Die Kommissarin unterdrückte ein Lächeln und schaute Docteur Dupin auffordernd an.
„Nur zu.“
Sie mochte diesen etwas schrulligen Doktor, der sie mit seinem grauen Haarkranz und der leicht untersetzten Figur an ihren Chemielehrer aus der Abiturklasse erinnerte.
Docteur Dupin stemmte beide Hände in die Hüften und bog seinen Oberkörper nach hinten, wobei er ein leidendes Stöhnen hören ließ.
„Diese Jungs gehen meist überaus brutal vor, wie Sie wissen. Sie benutzen Messer oder Schusswaffen, in letzter Zeit vor allem halbautomatische Waffen und sogar Maschinenpistolen.“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge und ließ seine Schultern kreisen. „Was diesen jungen Herrn hier betrifft“, er wies auf die Leiche, „sind die sichtbaren Verletzungen, na sagen wir mal, eher harmlos.“ Docteur Dupin räusperte sich umständlich, als er Perrecs fragenden Blick sah. „Sie deuten auf eine Schlägerei hin. Nicht übermäßig brutal, aber schmerzhaft.“
„Könnten Sie das bitte präzisieren?“, warf de Belfort ein.
„Aber gerne, Madame. Das Opfer hat einen ordentlichen Schlag auf die Nase bekommen, ein blaues Auge und ein handtellergroßes Hämatom auf der rechten Schulter. Wie von einem Schlag, ich kann es noch nicht genau sagen. Solche Blessuren sind nun wirklich untypisch für eine Abrechnung im Bandenmilieu. Das hat eher etwas von einer Jahrmarktschlägerei.“
Docteur Dupin kratzte sich am Hinterkopf und schmunzelte, so, als freue er sich über diesen gelungenen Vergleich. Dann wurde er wieder ernst.
„Selbstverständlich haben diese Verletzungen nicht zum Tode geführt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie dem Opfer nicht bereits einige Stunden zuvor beigebracht wurden. Und es gibt noch ein weiteres Indiz, dass wir es hier nicht mit Bandenkriminalität zu tun haben.“
Docteur Dupin legte eine Kunstpause ein, als müsse er bei seinen Zuhörern die Spannung steigern.
„Giftmorde kommen in dieser Szene nämlich eher selten vor.“
„Giftmorde? Es ist also eindeutig Mord? Und Sie tippen auf Gift? Ich hatte mich nämlich gerade gefragt, ob der Tote nicht eventuell einen Herzinfarkt erlitten haben könnte. Als direkte Folge der Schlägerei, das wäre doch denkbar. Der Angreifer gerät daraufhin in Panik und verfrachtet den Toten ins Karussell.“
De Belfort blickte den Gerichtsmediziner fragend an und nahm wahr, wie Perrec neben ihr ein kleines gebundenes Heft aus der Tasche zog und begann, sich Notizen zu machen.
„Ja, Madame, denkbar wäre das. Doch so wie es aussieht, ist dieser junge Mann hier“, er wies mit dem Kopf hinter sich, „vergiftet worden. Bei näherer Betrachtung sind die Hinweise recht eindeutig. Sehen Sie hier“, sein Finger schwebte über dem leicht geöffneten Mund der Leiche, „die Lippen weisen eine charakteristische blaue Verfärbung auf und an der Zunge haben wir eine, wenn auch nur schwach sichtbare, Geschwulstbildung.“
Er nahm seine silbern gefasste Nickelbrille ab und wischte mit dem Zeigefinger über die Gläser.
„Ich würde sagen, er ist seit vier bis sechs Stunden tot. Genaues aber, wie immer, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte.“
„Was macht Sie so sicher, dass es kein Suizid war? Der Mann mag in eine Schlägerei verwickelt gewesen sein, doch sein Tod muss damit nicht in unmittelbarer Verbindung stehen. Immerhin könnte er sich danach selbst das Leben genommen haben.“
Loïc Perrec schaute kurz von seinem Notizblock auf und ließ den Stift über dem Papier schweben, bereit, die Antwort schon zu notieren, noch während sie ausgesprochen wurde. Bevor er die Augen wieder senkte, fing er den zweifelnden Blick seiner Chefin auf.
Der Doktor wiegte den Kopf. „Ich kann es natürlich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es gibt Druckstellen an den Armen, die nicht zu den restlichen Verletzungen zu passen scheinen. Ich würde sagen, sie sind ihm später, womöglich kurz vor Eintritt des Todes, zugefügt worden. Als sei er festgehalten worden.“
Den letzten Satz hatte Docteur Dupin sehr leise ausgesprochen, so als grüble er beim Sprechen über die Wahrscheinlichkeit seiner Vermutung nach. Dann fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Aber, wie gesagt, ich muss ihn mir erst aus der Nähe betrachten. Und nun überlasse ich Ihnen das Feld, wenn Sie erlauben.“
Mit einem festen Händedruck verabschiedete er sich von der Kommissarin und ihrem Inspektor und stapfte zu seinem Auto, das außerhalb der Absperrungen geparkt war.
„Möchten Sie zuerst mit dem Typen sprechen, der ihn gefunden hat?“, fragte der junge Bretone. „Ein Obdachloser aus Marseille, der erst seit ein paar Tagen in Paris ist.“
Er zeigte quer über den Platz auf eine kleine Gruppe von Männern. Zwei Gendarmen unterhielten sich mit einem älteren Mann, der beide Hände fest um einen Kaffeebecher geschlossen hatte. Zu seinen Füßen stand ein alter Rucksack, an dem eine aufgerollte rosarote Isomatte festgeschnallt war.
„Macht einen intelligenten und nicht allzu verwahrlosten Eindruck“, präzisierte Perrec. „Aber er hat einen ganz schönen Schrecken bekommen, der Arme.“
„Die Stadt hat sich ihm ja auch weiß Gott nicht von ihrer besten Seite gezeigt, um ihn willkommen zu heißen“, murmelte de Belfort. „Um ihn kümmern wir uns später.“ Die Kommissarin berührte ihren neuen Mitarbeiter leicht an der Schulter.
„Bereit?“
Perrec nickte und kurz darauf zwängte er seine ein Meter neunzig lange Gestalt in die Enge des Miniatur-Ballonkorbes. Die Kommissarin gab dem Kollegen von der Spurensicherung, der einige Meter weiter den Boden untersuchte, ein kurzes Zeichen.
„Wir gehen jetzt da rein, venez, kommen Sie bitte“, rief sie ihm zu und drehte sich wieder zu ihrem Inspektor um.
„Ja, er wird hier dringend gebraucht“, kam es gedämpft aus dem Innern der Karussellfigur. „Ich habe nämlich etwas gefunden.“
Perrec hielt einen Zettel zwischen seinen behandschuhten Fingern und streckte ihn seiner Chefin entgegen. „Offensichtlich hat der Mörder seine Visitenkarte hinterlassen. Ein weiterer Beweis dafür, dass es sich hier nicht um die Tat einer kriminellen Gang handelt.“
„Was macht Sie so sicher?“ De Belfort beugte sich vor und nahm den kleinen Zettel entgegen. Während sie las, fuhr sie mit dem Finger über die Schrift. Nein, dieses Zeichen hatte keine Jugendbande hinterlassen, um sich die vermeintliche Heldentat auf die Fahnen zu schreiben. Vorurteile hin oder her, dachte die Kommissarin und verbot sich ein Schmunzeln. Ein Vierzeiler mit jambischem Versmaß passte nicht ins intellektuelle Repertoire von Mitgliedern einer Straßengang.
Völlig reglos stand er dort, auf der Anhöhe, dicht bei den mächtigen Mauern des Palais de Chaillot. Eine kleine Ewigkeit verharrte er nun schon so, ohne die geringste Bewegung. Doch dann, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, hob er langsam ein Fernglas vor die Augen. Die starken Gläser fingen für den Bruchteil einer Sekunde das Mondlicht ein, bevor sie auf die Szenerie gerichtet wurden, die sich einige hundert Meter weiter unten abspielte. Aufgeregt blinkende Blaulichter, ernste Gesichter, eine Bahre gleich neben dem Wagen eines Bestattungsinstitutes. Er bewegte das Glas ein wenig weiter nach rechts. Eine attraktive, dunkelhaarige Frau erschien in seinem Blickfeld und für einen kurzen Moment erschrak er über ihre plötzliche Nähe. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand und schien zu lesen.
Gestohlen hast, mit wilder Gier Nicht nur der Fremden Hab und Gut Den Glauben, Liebe, nahmst Du mir Und kommt der Tag, versiegt Dein Blut
Seine Lippen formten die Worte lautlos. Dann lächelte er, ließ das Fernglas sinken und stieg den Weg zur Avenue Paul Doumer hinauf.
Hinter dem Eiffelturm ging die Sonne auf.