Читать книгу Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - Страница 9

Quai des Orfèvres, 1. Arrondissement

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Victoire de Belfort betrat den Besprechungsraum und schloss geräuschvoll die Tür hinter sich. Auf dem schwarzen Holztisch, der den Raum dominierte und fast dessen gesamte Längsseite einnahm, stapelten sich lose Papiere, Aktendeckel und Mappen, aus denen rote Klebe-Markierungen herausschauten. Perrec saß auf einem der dunkelgrauen Lederstühle und blätterte in einem Schnellhefter aus Pappe. Als sie eingetreten war, hatte er sich gerade die nachdenklich gerunzelte Stirn gerieben und schaute nun zu ihr hinüber.

„Bonsoir Madame“, sagte er und nickte freundlich. Sie erwiderte den Gruß.

„Bonsoir Madame, schön Sie zu sehen“, kam gleich darauf Nathalies fröhliche Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes, wo auf einem weißen Holztisch eine hochwertige italienische Kaffeemaschine stand. Monsieur le Préfet hatte sie höchstpersönlich anschaffen lassen, nachdem seine Mitarbeiter sich vermehrt über die ungenießbare Brühe beschwert hatten, die im Aufenthaltsraum aus einem sichtlich in die Jahre gekommenen, unförmigen Automatenmonstrum floss. So hatten die Frauen und Männer der Brigade Criminelle wenigstens während ihrer Besprechungen die Chance auf guten Kaffee. De Belfort lief mit weitausholenden Schritten durch den Raum und gab zuerst Loïc Perrec und gleich darauf Nathalie die Hand.

„Bonjour“, sagte sie und lächelte. „Schade für Sie, Nathalie, dass Ihr Urlaub nun schon wieder vorbei ist, aber schön für uns. Endlich ist das Team vollzählig. Nun ja, fast. Hat jemand eine Ahnung, wo sich der Kollege Malbert herumtreibt?“

Der Inspektor und Nathalie schüttelten fast synchron die Köpfe.

„Dann lassen Sie uns noch eine Minute warten.“ De Belfort ging zur schmalen Seite des Tisches zurück und hob ihre große Leinentasche über den Kopf. Mit einem Seufzer ließ sie sie auf die Tischplatte sinken und nestelte gleich darauf am Reißverschluss.

„Möchten Sie auch eine Portion Koffein?“, fragte Nathalie und schaute zu ihrer Chefin hinüber. „Schließlich kann der Abend noch lang werden.“

„Nein, vielen Dank, Nathalie.“

Die Kommissarin zog nacheinander ihr Handy, einen Tablet-PC sowie mehrere Mappen aus durchsichtigem Material aus ihrem überdimensionalen Beutel und platzierte alles vor sich auf dem Tisch. Nach erneutem Durchsuchen der Tasche angelte sie schließlich triumphierend einen Füllfederhalter daraus hervor. „Hab ich dich, du kleines Biest“, lachte sie und legte ihn mit Schwung auf einer der prall gefüllten Mappen ab. Ein Montblanc, dachte Perrec ehrfürchtig und betrachtete den staatseigenen Billig-Kuli in seiner Hand. Auch sein ehemaliger Chef hatte immer sehr viel Wert darauf gelegt, mit seinem eigenen Füller zu schreiben, doch soweit er sich erinnern konnte, hatte es sich um ein Modell einer weitaus preiswerteren Marke gehandelt. Perrecs Überlegungen zur Anschaffung eines eigenen Schreibgerätes wurden jäh unterbrochen. Die Tür des Besprechungsraumes flog mit einer solchen Wucht auf, dass die Klinke eine Delle in der weißgekalkten Wand hinterließ. Die vor den offenen Fenstern halb heruntergelassenen Jalousien raschelten leise im plötzlich entstandenen Gegenzug.

„Meine Güte, Sébastien, muss das sein?“

Nathalie stand der Schreck ins Gesicht geschrieben, und der Kaffee in dem kleinen Plastikbecher, den sie in der Hand hielt, schwappte bedenklich. Malbert trat mit einem breiten Grinsen in den Raum und ließ sich betont lässig auf einen der Stühle an der langen Seite des Tisches fallen. Selbstverständlich in der Nähe seiner Chefin. De Belfort bedachte ihren Leutnant mit einem halb belustigten, halb genervten Blick.

„Ich denke, es erübrigt sich zu fragen, ob der Kollege einen Kaffee möchte“, sagte sie und warf Nathalie einen amüsierten Blick zu. „Sie verfügen ganz offensichtlich über ausreichend Energie, Malbert.“

Leutnant Malbert, ein nicht gerade sensibler Mann, hatte es noch nie beherrscht, auf Untertöne zu achten. Daher verbuchte er die Aussage seiner Chefin als Lob und lachte laut.

„So ist es! Ich bin topfit!“, rief er und schaute auffordernd in die Runde. „Von mir aus kann´s losgehen.“

De Belfort fixierte für einen Augenblick die Tischplatte und atmete tief durch. Während Malberts Auftritt hatte sie den Blick ihres Inspektors aufgefangen und fragte sich nun, wie diese beiden so grundverschiedenen Persönlichkeiten wohl miteinander zurechtkommen würden. Sie selbst hatte so ihre Schwierigkeiten mit Sébastien Malbert. Er war selbstverliebt, laut und bisweilen sogar arrogant, führte sie sich seine Charakterzüge vor Augen. Doch es wäre ungerecht, nur seine negativen Eigenschaften zu betrachten. Leutnant Malbert war ein äußerst engagierter und fleißiger Polizist. Freilich entsprangen auch diese Tugenden einem Quell, den man ohne weiteres als Kalkül bezeichnen konnte. Der Ehrgeiz trieb ihn an. Ganz nach oben, das war sein Ziel. Und noch etwas zeichnete ihn aus. Seine Kontakte zu Informanten aus allen Bereichen der kriminellen Parallelwelten waren hervorragend. De Belfort schlug die Beine übereinander und setzte sich aufrecht hin.

„Sie können gleich loslegen, Malbert, aber lassen Sie mich erst einmal von meinem Gespräch mit dem Obdachlosen berichten. In Ordnung?“ Ohne die Zustimmung ihres Mitarbeiters abzuwarten, begann sie die Ereignisse vom Morgen zusammenzufassen.

„Das Gespräch mit Faruk Ghoul hat nicht allzu viel gebracht.“

„Na, kein Wunder“, warf Malbert ein und grinste. „Was soll denn ein algerischer Penner schon bemerkt haben? Der hatte um diese Uhrzeit seinen Pegel doch schon längst überschritten.“

Perrec stieß innerlich einen Seufzer aus. Nicht schon wieder. Sein Kollege machte es ihm tatsächlich schwer, ihn nicht vorschnell in eine Schublade zu stecken. Aber es war einfach allzu offensichtlich. Der Leutnant war nicht die hellste Kerze auf der Torte. So würde es zumindest meine kleine Schwester ausdrücken, dachte Perrec und unterdrückte ein Schmunzeln. Ein von sich selbst überzeugter Egozentriker voller Vorurteile. Er warf Nathalie einen Blick zu und erkannte in ihrem Gesicht, dass ihre Gedanken sich wohl in einer ganz ähnlichen Richtung bewegten wie seine eigenen. Doch anstatt etwas zu sagen, schob sie sich ein Karamellbonbon in den Mund. Seine Chefin saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und Perrec schickte einen stummen Rat an seinen Kollegen: Noch so ein Spruch und du kassierst eine ordentliche Ansage. Er war sich sicher, dass der rhetorisch versierten Victoire de Belfort nur ein paar wenige, gezielt platzierte Worte ausreichen würden, um Malbert für eine Weile zum Schweigen zu bringen. Doch es würde nicht lange vorhalten, das war ebenso sicher. In diesem Moment setzte die Kommissarin ihren Bericht fort, und Loïc Perrec konzentrierte sich auf ihre Ausführungen.

„Monsieur Ghoul“, sagte sie und sah ihren Leutnant dabei scharf an, „ist ein ausgezeichneter Beobachter und hat sehr genau beschreiben können, was er in dieser Nacht und vor allem am Tatort wahrgenommen hat. Dennoch bringt uns seine Aussage nicht weiter, denn er hat nichts Verdächtiges bemerkt. Und er selbst ist sicher nicht der Täter. Er hat ein Alibi. Wir haben unsere Streifen befragt, und einer der Beamten hat sich an einen SDF, also an einen Obdachlosen, mit rosa Isomatte erinnert, den er zur Tatzeit auf dem Pont Neuf hat sitzen sehen. Auch der Mann, von dessen Handy aus wir benachrichtigt wurden, ist ein absolut unbescholtener Bürger.“

„Mal abgesehen davon, dass er sich mitten in der Nacht an einem der bekanntesten Schwulentreffs der Stadt herumtreibt“, warf Malbert ein.

Die Kommissarin beschloss, ihn zu ignorieren.

„Es gibt noch ein paar weitere Personen, die sich in der Nähe der öffentlichen Toiletten aufgehalten haben.“

Sie schaute in die Runde. „Aber alle sauber. Wir haben noch am Tatort Proben für DNA-Tests und Fingerabdrücke genommen. Negativ.“

„Womit haben wir sie denn abgleichen können?“, warf Malbert ein und bückte sich nach seinem Kugelschreiber, der ihm aus den Fingern geglitten und unter den Besprechungstisch gefallen war.

„Ich wollte gerade die Details aus dem Bericht der Spurensicherung vortragen“, antwortete de Belfort und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Malbert bei dem Versuch, sich wieder aufzurichten, mit dem Hinterkopf an die Tischplatte schlug.

„Wir haben bei dem Toten Haare und Fasern gefunden, die definitiv nicht von ihm selbst stammen. Außerdem hatte er Hautpartikel unter den Fingernägeln.“

„Dann hat er entweder dem anderen Schläger eine ordentliche Kratzspur hinterlassen oder seinem Mörder“, warf Nathalie ein.

„So ist es“, de Belfort nickte. „Und ich glaube übrigens auch, dass wir es hier mit zwei voneinander unabhängigen Tatsachen zu tun haben. Die Schlägerei auf der einen Seite und der Mord auf der anderen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass beides in direktem Zusammenhang steht.“ Sie seufzte. „Aber um es ganz ausschließen zu können, brauchen wir noch mehr Fakten. Wir haben noch eine Menge zu tun!“

„Aber immerhin haben wir etwas, das die Täter-DNA sein könnte“, warf Perrec ein. „Haare und Hautpartikel, das ist doch für den Anfang gar nicht mal so schlecht.“

„Besonders vorsichtig war unser Mörder ja nicht gerade“, sagte Nathalie.

„Vielleicht kein Profi“, überlegte der Inspektor laut und verstummte gleich darauf, da de Belfort sich anschickte, weiterzusprechen.

„Die Durchsuchung der Wohnung des Toten hat auch nichts ergeben. Kaum möbliert und peinlich sauber. Michel Souliac scheint ein wahrer Putzfanatiker gewesen zu sein. Auf den ersten Blick keinerlei besondere Hinweise, die Kollegen von der IT checken gerade seine Computerdateien. Tja“, die Kommissarin stieß einen Schwall Luft aus, „das war‘s von mir. Jetzt Sie, Malbert, bevor Sie noch platzen. Wir sind ganz Ohr.“

„Ich habe den ganzen Tag am Telefon zugebracht und meine Leute ein bisschen ausgequetscht“, begann er und sein Blick bekam einen Beifall heischenden Ausdruck. „Ihr werdet staunen, was ich aufgetan habe.“

In aller Ruhe durchwühlte er die Mappen und Dokumente, die auf dem Tisch verteilt waren.

„Wo ist denn …? Ach, da haben wir es.“ Sébastien Malbert räusperte sich und fasste die Ergebnisse seiner Recherchen zusammen.

„Michel Souliac, Franzose, 24 Jahre alt. Soviel hat uns bereits seine Carte d‘Identité verraten. Ich habe unsere Datenbank nach ihm befragt und zunächst kam nicht allzu viel Spannendes zu Tage. Er ist in Trappes, wo er aktuell auch gewohnt hat, geboren und aufgewachsen. Im Alter von sechs Jahren kommen seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben und man findet eine Pflegefamilie für das Kind. Lange ging das aber nicht gut, offenbar gab es Probleme zwischen ihm und seinem Ziehvater. Als Achtjähriger ist er von einem Kinderheim zum anderen weitergereicht worden und schließlich mit 15 aus einem Jugendhaus abgehauen. Immerhin hat er bis dahin einigermaßen regelmäßig die Schule besucht und bis zum Alter von etwa 21 Jahren diverse Aushilfsjobs gemacht.“

„Und dann?“, fragte de Belfort dazwischen und hob den Kopf. Bisher klang das alles auf tragische Weise vertraut. Ein geradezu klassisches Muster. Traurig, hoffnungslos, grausam und doch so verbreitet. Und obwohl dieser Michel wenigstens ein kleines bisschen Schulbildung genossen hatte, erwartete sie auch in seiner Geschichte keine Wunder. Malbert bestätigte ihre Befürchtungen.

„Kleinstkriminalität“, sagte er und schaute fast geringschätzend drein. „Er hat gestohlen, was ihm in die Finger kam. Ob in Lebensmittelmärkten, Elektronikgeschäften, sogar in einer Apotheke hat er was mitgehen lassen. Eine Packung Kondome“, Malbert grinste. „Wir haben es hier wohl mit einem Kleptomanen zu tun. Er war nie im Knast, dafür waren die Diebstähle immer zu geringfügig. Der Wert des Diebesgutes war nie wirklich hoch und was die Lebensmittel betraf, so fiel das meiste in die Rubrik Mundraub. Typischer Einzeltäter, der quasi nur für den Eigenbedarf klaut.“

Er machte eine Pause und schaute triumphierend in die Runde. De Belfort lächelte auffordernd.

„Kommen Sie schon, Malbert, Sie haben doch noch mehr zu berichten. Und wie ich Sie kenne – das Interessanteste zum Schluss.“

Sébastien Malbert richtete sich in seinem Stuhl auf und fuhr sich mit einer arrogant wirkenden Geste durch die schwarzglänzenden Haare. „Allerdings“, fuhr er fort, „allerdings. Und auch das steht in keiner Akte, weil er sich nie hat erwischen lassen. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass meine Informationen richtig sind.“ Leutnant Malbert lächelte zufrieden. „Meine Vögelchen haben mir gezwitschert, dass der Gute vor etwa zwei Jahren richtig groß eingestiegen ist. Organisiertes Verbrechen.“

Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und er schaute mit derart dramatischem Blick in die Runde, dass Nathalie genervt auf ihrem Bonbon herumbiss.

Perrec nahm die Schauspielkunst seines Kollegen kaum wahr. Ihr Mordopfer war ein Krimineller? Noch dazu einer, der allem Anschein nach so intelligent war, dass nicht einmal die Polizei über seine Aktivitäten Bescheid wusste. Schnell machte er sich eine Notiz an den Rand des Dossiers, das er vor sich ausgebreitet hatte und konzentrierte sich weiter auf die Ausführungen seines Kollegen. Besonders sympathisch war Malbert nicht, aber eines musste man ihm lassen, er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Der Kollege räusperte sich.

„Außergewöhnlich an der Sache ist, dass Michel Souliac quasi als Dienstleister für kriminelle Banden gearbeitet hat. Er war der Kopf, der Denker und Organisator. Und wenn alles gelaufen war, hat er Prozente bekommen. Selbst geklaut hat er wohl auch noch, aber eher selten.“ Malbert kratzte sich an der Nase. „Was seine Aufträge betrifft, war er nicht wählerisch. Autoschieberei, Wohnungseinbrüche im großen Stil, Erpressung und sogar von Zuhälterei war schon die Rede.“

„Prostitution?“ Nathalie schnappte hörbar nach Luft. „Na wunderbar! Ich muss sagen, der Kerl scheint es wirklich verdient zu haben.“ Sie fing strengen Blick auf ihrer Chefin. „Ich meinte ja nur weil, … Entschuldigung.“

„Schon gut, Nathalie“, de Belfort massierte sich die Schläfen. „Manchmal erliegt man der Versuchung, einen Mord als gerechtfertigt zu empfinden. Und auch wenn es schwerfällt, müssen wir es uns verbieten. Woher haben Sie eigentlich diese Informationen, Malbert? Von einem unserer V-Männer?“

„Von denen auch, ja. Souliac und sein Karriereweg sind in der Szene bestens bekannt“, der Leutnant grinste. „Aber Sie wissen ja, dass ich auch einige ganz spezielle Kontakte habe. Und da ich die so gut pflege, lassen mich meine Leute gerne an ihrem Wissen teilhaben.“

„Gute Arbeit, Malbert. Haben Sie noch etwas für uns?“

„Nein, im Moment nicht. Nichts Konkretes.“

„Aber Sie haben einen Verdacht? Nun spucken Sie es schon aus, Malbert.“

Der Leutnant ließ den Kugelschreiber auf der Tischplatte kreisen. „Ich habe mir überlegt, dass Souliac sich eventuell Feinde gemacht hat im Milieu. Immerhin war er sehr erfolgreich, das hat womöglich Neider auf den Plan gerufen.“

„Haben Sie jemanden bestimmtes im Auge?“

„Nein, das nicht. Es ist nur eine Vermutung.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Malbert, aber ich hoffe, Sie täuschen sich. Ein Mörder aus den Reihen des organisierten Verbrechens, na ich danke.“ De Belfort vergrub das Gesicht in ihren Händen. „Mon Dieu, wenn ich etwas hasse, dann ist es Ermittlungsarbeit in diesem Milieu. Allerdings“, sie rieb sich nachdenklich die Stirn, „ein Giftmord will irgendwie nicht so recht in dieses Umfeld passen …"

„Ich habe übrigens noch etwas“, fiel Malbert seiner Chefin ins Wort und ignorierte damit sowohl die Regeln der Höflichkeit als auch jene der Beamtenhierarchie. „Unser Michel war schwul.“

Triumphierend, als hätte er soeben die Entdeckung Amerikas verkündet, schaute er seine Kollegen an.

„Na und?“ Nathalie blickte ihren Kollegen fragend an. „Sag bloß, das ist jetzt deine großartige Offenbarung, die du dir bis zum Schluss aufgehoben hast. Sicher, es erklärt, warum der Mörder gerade an diesem Ort, einem stadtbekannten Treffpunkt für Homosexuelle, auf ihn getroffen ist. Aber ansonsten hat doch wohl seine sexuelle Orientierung nicht zwingend etwas mit dem Fall zu tun? Oder gehst du bei jedem anderen Mord auch zu allererst von einem Verbrechen mit sexuellem Hintergrund aus? Lächerlich!“

Malbert stieß ein ungläubiges Grunzen aus. „Na hör mal, das ist ja wohl nicht dein Ernst. Sex, Lust und Laster spielen doch immer eine Rolle, wenn es um Mord geht.“

Nathalie schüttelte genervt den Kopf. „Häufig ja, mag schon sein, aber das hat doch nichts mit seiner Homosexualität zu tun. Übel, deine Vorurteile, du solltest mal …"

„Jetzt komm mal wieder runter, Täubchen, ich habe doch gar nicht …"

„Sag mal, hast du sie noch alle? Wenn du mich noch einmal Täubchen nennst …!“

„Warum nicht, ist es dir lieber, wenn ich dich Nilpferdchen nenne?“

Nathalies Augen sprühten Funken als sie ihren Kollegen mit offenem Mund anstarrte, der weiterhin lässig in seinem Stuhl lehnte.

„Schluss jetzt!“

De Belforts flache Hand sauste auf die Tischplatte hinab und Nathalies inzwischen leerer Kaffeebecher vollführte einen Hüpfer. „Verdammt noch mal, Leute, wir haben hier einen Mordfall zu bearbeiten. Konzentrieren Sie sich gefälligst. Und was Sie betrifft, Malbert“, die Kommissarin blickte ihren Leutnant wütend an, „Sie wissen, dass ich solche Entgleisungen in meinem Team nicht dulde. Ich rate Ihnen, ein bisschen mehr Respekt an den Tag zu legen. Sie glauben gar nicht, wie schnell Sie ansonsten wieder in Uniform stecken.“

Malbert murmelte etwas vor sich hin und nickte.

„Excuse-moi Nathalie, tut mir leid.“

Er bedachte seine Kollegin mit einem kurzen Seitenblick und starrte wütend die Tischplatte an. Eine ernstgemeinte Entschuldigung sieht anders aus, dachte Perrec, der dem Aufruhr interessiert zugesehen hatte. Auch eine Möglichkeit, seine Kollegen kennenzulernen, stellte er fest. Nun kannte er diese drei Menschen, mit denen er in Zukunft einen Großteil seiner Zeit verbringen würde, schon etwas besser. Er hätte sich denken können, dass Malbert, diesem Macho, so etwas wie Objektivität oder gar Toleranz unbekannt war. Für ihn zählte nur das, was er selbst verkörperte. Aber wenigstens wusste man bei ihm, woran man war. Der Inspektor hatte in seinem Leben weitaus schlimmere Typen getroffen, die ihn – immer hübsch hinter einer netten Maske verborgen – gedemütigt und für seine Lebensweise gestraft hatten. Aber für solche Gedanken war jetzt keine Zeit. Er nahm seinen billigen Stift zur Hand, denn nun begann Nathalie ihren Bericht.

„Wie wir wissen, hat Docteur Dupin bereits am Tatort auf eine Vergiftung als Todesursache getippt. Der Bericht der Gerichtsmedizin …", sie hielt ein paar eng beschriebene und an einer Ecke zusammengeheftete Seiten Papier in die Höhe, „bestätigt seine Vermutung. Michel Souliac ist vergiftet worden. Und zwar mit einem seltenen Pflanzengift, das aus Cerbera gewonnen wird. Ist in Indien und Südost-Asien heimisch. Aber wer weiß, vielleicht gibt es in Frankreich einen Schwarzmarkt dafür, oder es hat sich jemand die Mühe gemacht, die Pflanze zu züchten. Ich lasse das gleich morgen noch einmal durch unsere Datenarchive laufen. Interessant ist, dass das Gift der Cerbera mit den üblichen kriminaltechnischen Methoden gar nicht feststellbar ist. Zum Glück war unser lieber Docteur Dupin im letzten Jahr bei einer Konferenz, die Pflanzengifte zum Thema hatte. Und daran hat er sich erinnert, als er vergebens versuchte, Giftrückstände zu isolieren, die den Herzstillstand von Michel Souliac hätten erklären können. Also hat er mit einer besonderen Verfahrensweise“, Nathalie überflog ihre Notizen und las ihren nächsten Satz vom Blatt ab, „nämlich mit einer Hochleistungs-Flüssig-Chromatographie, gepaart mit Massenspektrometrie, das Gift identifiziert. Docteur Dupin sagt, der Pflanzenextrakt habe einen bitteren Geschmack und so vermutet er, dass es in ein Getränk oder eine Speise gemischt wurde.“

Nathalie blickte ihre Chefin an. „Das könnte eine Erklärung für die Druckstellen an den Armen des Toten sein. Vielleicht hatte er sich aufgrund des seltsamen Geschmacks geweigert, zu essen oder zu trinken? Und der Mörder musste mit Gewalt nachhelfen. Wie auch immer, er muss es schließlich geschluckt haben, und das Zeug konnte seine tödliche Wirkung entfalten. Es blockiert“, wieder suchte Nathalie die entsprechende Stelle in Docteur Dupins Bericht, „die Calzium-Ionen-Kanäle in der Herzmuskulatur. Der Herzschlag wird unterbrochen und dann …"

„Exitus!“ warf Malbert ein und lachte. „Das Kraut ist ja das perfekte Mordinstrument! Wären die Druckstellen nicht gewesen und würde Monsieur le Docteur nicht unsere Steuergelder so gut in Tagungen anlegen, wir hätten den guten Michel glatt für ein stinknormales Infarktopfer gehalten. Denn auch die haben blaue Lippen.“

„Leutnant.“ De Belforts Stimme hatte einen drohenden Unterton, und diesmal nahm Malbert ihn wahr.

„Schon gut“, murmelte er und schnaufte leise. „Ich bin schon ruhig.“

„Abgesehen davon, dass das eine unqualifizierte Bemerkung war, Kollege, ist sie auch nicht ganz richtig.“ Nathalie lächelte Sébastien Malbert süffisant an. „Oder denkst du, ein Herzkranker schreibt sich Gedichte, in denen er sich selbst mit dem Tode bedroht?“

„Ah ja, das Gedicht“, hakte die Kommissarin ein, „gibt es dazu etwas?“

„Nein“, Nathalie schüttelte den Kopf. „Das heißt, eigentlich doch, denn es ist zumindest sicher, dass es sich nicht um ein in irgendeiner Form veröffentlichtes Gedicht handelt oder gar um Zeilen aus einem Klassiker. Ich habe die Verse durch sämtliche Suchmaschinen und das Archiv der Nationalbibliothek gejagt. Außerdem habe ich mit einigen Koryphäen von den Universitäten Sorbonne und Vincennes telefoniert. Nichts.“

„Jetzt weißt du auch, wofür dein Literaturstudium gut war, nicht wahr?“ Malbert hob abwehrend beide Hände, noch bevor jemand am Tisch etwas erwidert hatte.

„Geschenkt“, zischte Nathalie über den Tisch hinweg und strich sich die widerspenstigen Locken hinters Ohr. „Der Mörder muss das Gedicht selbst verfasst haben“, fuhr sie fort. „Der Inhalt ist also von ganz besonderem Interesse für uns. Ich werde mich noch genauer damit beschäftigen müssen, dafür war heute leider noch keine Zeit.“

„Sehr gute Arbeit“, lobte de Belfort. „Und jetzt Sie, Inspektor, wie war es in Trappes?“

Loïc Perrec nahm seine Notizen zur Hand und begann. Er berichtete von der Befragung der direkten Nachbarn, die beide, sowohl die junge Mutter als auch der ehemalige Malermeister, behauptet hatten, ihren Nachbarn kaum zu kennen.

„Ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich in diesen Wohnsilos“, nickte de Belfort.

„Dennoch hatte ich im Gespräch mit der Frau ein seltsames Gefühl“, erinnerte sich Perrec. „Die Frau hat ein bisschen zu deutlich betont, dass sie ihren Nachbarn nicht kennt und rein gar nichts über ihn weiß. So, als hätte es ihn gar nicht gegeben. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie über die Nachricht seines Todes sehr erschrocken war. Es lag fast ein kleiner Schimmer von Panik in ihren Augen.“

„Oh là là, Kollege, sehr poetisch.“ Malbert ignorierte den warnenden Blick seiner Chefin. „Sie verfügen ja über geradezu weibliche Intuition, Respekt mein Lieber. Vielleicht sollten Sie ein wenig die Schwulenszene in Augenschein nehmen, was? Da wird Ihnen Ihre Intuition und Ihr ausgeprägtes Gefühl sicher weiterhelfen.“

„Sébastien!“ Nathalies wütender Schrei ließ ihren Kollegen kurz zusammenzucken. „Du bist unerträglich, weißt du das?“ Sie sah aus, als wolle sie sich im nächsten Augenblick auf ihn stürzen. Doch sie besann sich und Perrec schaute zu ihr hinüber. Lassen Sie nur, schien sein Blick zu sagen. Bei Malbert ist jegliche Diskussion vergeblich. Am besten ignoriert man seine Kommentare einfach. Dann schaute er seinen Kollegen direkt an. Betont gelangweilt ließ er seine Augen auf ihm ruhen und wandte sich schließlich ab, ohne ein Wort gesagt zu haben.

Gut reagiert, dachte de Belfort, die kurz vor einem neuerlichen Wutausbruch stand. Da hatte ihr neuer Mitarbeiter mehr Größe bewiesen, als es ihr selbst in ähnlichen Situationen gelungen war. Wäre sie an seiner Stelle gewesen, sie wäre diesem Obermacho wahrscheinlich an den Hals gesprungen.

Hier würde sie handeln müssen, dachte sie und laut fügte sie hinzu: „Wir sprechen uns morgen um halb neun in meinem Büro, Leutnant.“ Und zu den anderen gewandt: „Schluss für heute! Der Tag war lang genug, bis morgen!“

Sie begann, ihre Sachen zusammenzupacken, und einer nach dem anderen verließen sie den Raum. Erst Malbert, den de Belfort keines Blickes würdigte, dann Nathalie mit einem freundlichen „Bonsoir Madame“ und schließlich Perrec.

„Es tut mir leid, Inspektor.“ De Belfort sah ihren Mitarbeiter mit festem Blick an. „Malbert schießt oft über das Ziel hinaus, und ich fürchte, seine unüberlegten Äußerungen werden wir ihm nicht mehr abgewöhnen können. Aber ich werde nicht zulassen, dass er seine Kollegen oder auch mich beleidigt und die Stimmung im Team vergiftet. Seine Kommentare sind häufig verletzend und auch sein Verhalten ähnelt oft dem eines pubertierenden Jugendlichen. Doch andererseits kann man sich auf ihn verlassen, wenn es darauf ankommt. Ich weiß noch nicht, ob ich es je schaffen werde, Leutnant Malbert dazu zu bewegen, zuerst zu denken und dann zu sprechen.“ Sie lächelte gequält. „Aber ich arbeite daran. Schließlich möchte ich, dass mein Team gut funktioniert. Und respektloses Verhalten kann und werde ich nicht dulden. Ich wollte nur, dass Sie das wissen, Inspektor. Nicht, dass Sie gleich den nächsten Zug zurück in die Bretagne nehmen.“

„Ich werde schon mit ihm zurechtkommen.“

Perrec unterdrückte den Wunsch, seiner Chefin zu sagen, dass er nicht daran glaubte, dass man gegen mangelnde Intelligenz und fehlende Empathie bei einem Menschen ankommen konnte. Stattdessen reichte er der Kommissarin die Hand.

„Wissen Sie, in einer Polizeistation mitten auf dem Land ist der Umgangston auch nicht immer besonders kultiviert.“ Er lachte. „Ich bin jedenfalls stolz auf meine Intuition. Und ich leihe dem Kollegen Malbert gerne davon, wenn er sich seine schweren Jungs vorknöpft. Keine Sorge, Madame, wir werden ein gutes Team werden.“

De Belfort erwiderte den Händedruck.

„Danke, Perrec“, sagte sie. „Und jetzt ab in den Feierabend mit Ihnen.“

Ein Gedicht zum Todestag

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