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2. Riese Landschaft: Ridnaun

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Des Morgens scheint die Landschaft zu schlafen, wenn sich die Schwere des Sommers über sie senkt. Hin und wieder kreuzt ein Vogel mit zackigem Flug das Firmament, es wippen und zittern die Gräser der Weiden und Wiesen im leichten Wind, der sie streichelt, kaum merklich das Gras frisiert: Ridnaun. So liegt es da, das Tal, schlummert in den Morgenstunden vor sich hin, nordwestlich von Sterzing in Südtirol. Hohe, bewaldete Gebirgsketten ragen schroff in den Sommerhimmel hinein, hier und da ist einer der spitzen Gipfel von Schnee und Eis überzuckert. Über achtzehn Kilometer erstreckt sich die Region, umfasst mehrere Dörfer. Da wird es später über Gasteig weiter nach Stange, Mareit, Ridnaun und Maiern gehen – und würde man die nördliche Seite des Schachts betreten, so würde man in Telfes ankommen. Jetzt aber liegt der Riese Landschaft, der stetig anwächst, bloß schlafend da und begrüßt den Morgen.

Wir schreiben das Jahr 1879, und Ridnaun ist eine kleine Gemeinde im hintersten Teil des Tales. Der kleine Ort neben Maiern erwacht gerade zum Leben. Und siehe: Bald schon krähen die ersten Hähne, sickert der Tau in den Boden, beginnt die Sonne, noch ein orangeroter Ball, immer höher zu steigen. Kostbar sind diese Morgenstunden, so wissen die Bewohner des Dörfchens: Die Arbeit ruft! Die Landschaft will beackert, das Vieh auf die Weide getrieben werden!

Man lebt hier von der Landwirtschaft, Viehzucht, Milchwirtschaft – und hin und wieder verliert sich der eine oder andere Arbeiter auch im Bergwerk am Schneeberg, wo, so munkelt man, angeblich die Zwerge leben! Ehrlich! Und darum habe man dort, so erzählen die Bewohner des Dorfes, vom 13. bis zum 15. Jahrhundert sogar Silber abgebaut.

Menschliche Riesen hat im Tal lange Zeit keiner gesehen. Dann jedoch kommt die Maria.

Es ist also ein Sommer, in dem alles anfängt. Ein Sommer, in dem der Wind hinter dem Haus das Gras peitscht. Wie ein wilder Gesang klingt es, die Tage riechen nach Stroh, Hitze und Arbeit. Der Vater, ein einfacher Bauer, befindet sich gerade mit dem Hund beim Vieh. Er ist ein kleiner rothaariger Mann, der Josef genannt wird. Josef, der Rote. „Der Rote hat gut getanzt“, sagt man im Dorf gerne über ihn.

Josef Faßnauer ist also mit dem Hund unterwegs, als seine Frau Theresia niederkommt.

Im Garten tummeln sich die Kühe. Im Haus ein Schrei, der sich verdoppelt. Neues Leben, zwischen den Lenden der Theresia Faßnauer herausgerutscht.

„Ein Mädchen!“, hört man die Stimme der Hebamme.

Theresia Faßnauer verdreht nicht die Augen. Josef, Bauer und Hofbesitzer, ist ein guter Mann. Er wartet nicht auf einen Buben für den Hof. Er liebt Mädchen. Er schweigt gerne und seine Augen schimmern vor Güte. Manch einer im Dorf hänselt ihn wegen seiner roten Haare, doch das ist ihr egal. Denn die Hände dieses Bauern Josef sind wie Teig, und eine gute Partie ist er obendrein; die Kapelle des Dorfes wird von ihm betreut und beschützt die ganze Familie. Sie ist der Maria Schnee geweiht. Und so wird auch das Kind heißen, weiß Theresia längst schon: Maria!

Theresia dreht den Kopf, auf dem ein zarter Schweißfilm glänzt, zur Seite. Ihre Finger strecken sich langsam in die Luft, greifen nach dem Wesen, das man ihr überreicht. Runzelig und ein wenig hässlich sieht es aus, verschrumpelt. Sie seufzt, schließt die Augen.

Da kommt Josef nach Hause, tritt keuchend an seine Frau heran, Schweiß auch auf seinem Haupt. Er wischt ihn von der Stirn. Die Hitze drückt. Schlafend liegt die Kammer da, in diesem Haus im hintersten Teil des Ridnauntals, das von den Riesen der Gebirge umgeben ist. Es liegt an der Schattenseite.

„Maria!“, sagt Theresia da und lächelt Josef an.

Das Kind aber schreit und schreit, hat weder Ablehnung noch Zustimmung in sich, da ist nur Helligkeit, ein Zuviel an Welt, das den Blick sticht. Denn anstrengend ist es zu beginnen. Eben noch hat eine Blase aus schummriger Düsternis und Wärme Maria umgeben, und dann das! Dieses Lärmen und Tönen um sie, diese vielen Farben! Maria schreit, sie weint, während die Nabelschnur abgeschnitten wird und man sie, kleines Bündelchen, in Theresias Arme legt.

Die Mutter streicht dem Kind über den zarten Kopf, lächelt.

„Maria“, wiederholt sie wispernd.

Josef lächelt.

„Weib!“, sagt er zufrieden. Einfach nur: „Weib!“

Er setzt sich an die Kante des Bettes, hält ein wenig Theresias Hand. In seinem Gesicht schläft die Güte der Landschaft, die hinterm Haus beginnt: das große Schweigen, die sprachlose Wildheit des Grases, wenn Gewitter und Hagelkörner es aufwühlen. Da ruht der Stein, der Fisch im schlammigen Teich, der hinter der Landstraße liegt. Ein großer Friede ist in seinem Gesicht.

Theresia Faßnauer wird müde. Das Kind schreit. Es ist der Schmerz, am Leben zu sein.

Der bellende Hund läuft dem Roten nach in die Stube, kläfft laut. Das Brüllen des winzigen, faltigen Bündels scheint ihn aufgeregt zu haben.

„Ruhig“, sagt Josef und fährt liebevoll mit der flachen Hand über dessen Kopf, wieder und wieder. Die Kuppen streichen, der Blick geht ins Leere.

Als er in das Zimmer zurückkehrt, zuckt auf seinem Mund erneut ein Lächeln auf, während er das Kind betrachtet, das neben der Frau auf dem Bett liegt.

Der Hund beruhigt sich. Seine rosige Zunge lappt aus dem Mund, er hechelt. Unter den Händen spürt Josef das Zwerchfell pochen. Er krault den Nacken des Tieres, greift dann nach dem Kind. Auch das Schreiende pocht, pulsiert vor Leben. Als wäre die Dichtigkeit der Welt für diesen kleinen Körper zu viel, denkt Josef.

„Was sagst?“, fragt Theresia mit matter Stimme.

„Gut hast das g’macht!“, sagt Josef.

„Ich weiß“, sagt Theresia.

Normalerweise ist sie eine geschwätzige Frau. Wie die Weiber aus dem Dorf liebt sie das Leiern der Rosenkränze, den Tratsch, den man auf der Parkbank hinterm Bauernhaus des Abends gern treibt, wenn Tau das Gras benetzt. Doch die Geburt hat sie erschöpft.

Für einen Moment herrscht Stille zwischen ihnen.

Josef, der stets mit allem zufrieden ist, lächelt wieder.

„Moidl“, meint er dann zärtlich und fährt über den hellen Haarflaum, der den Schädel des Kindes überzieht.

Theresia nickt.

„Moidl, ja, eine kleine Heilige!“

So ist es beschlossen.

Dann wird es wieder still zwischen den beiden. Nur der Wind pfeift von den Riesen der Gebirge zu ihnen her und durch das Hoffenster herein. Mehr nicht. Es ist eine Vertrautheit zwischen ihnen, eine Seligkeit, die nur zwischen Menschen liegen kann, die sich lieben.

Das Kind ist zwischen sie gebettet: Es hat einen inneren Frieden. Es ruht zwischen den Eltern in der sie umgebenden riesenhaften Landschaft. Maria ist geboren.

Mariedl

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