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4. Die erste Schuld

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So wächst es heran, dieses besondere Mädchen. Und zugegeben: Maria wächst schneller als die anderen. Im ersten Schuljahr ist Maria so groß wie die Kinder beim Ausschulen. Und manchmal macht ihre laute Stimme den Kindern richtig Angst.

Natürlich kennen alle im Dorf Maria, sie, der es so leichtfällt, auf Heuballen zu klettern, und die im Laufen alle mit Gelassenheit besiegt. Und die die Musik liebt, von Kindertagen an. Während die kecke Schwester Rosa des Nachmittags backt oder kocht, spielt Maria gern mit der Ziehharmonika, und manchmal summt sie dazu, sanft wie eine Hummel. Dann ist Maria wie verändert.

Wie ihr Haar im Wind fliegt, wie der Wind ihr über die Stirn streicht, wenn sie da am Hof sitzt! Ganz bei sich ist Maria da! Sie kostet den Wind. Den Wind, der sie mit seinen Lippen streift, der sie leckt, wieder und wieder.

Auch das sind die Sommer im Hof in den ersten Jahren, süßlich weiß, und die Steppe hinterm Haus flattert und flirrt nur so von Insekten. Ein Bild jagt das andere, die Welt stürzt in Maria hinein. In sie, das Riesenkind. Vor den flüchtigen Schatten der Bäume, die sich im Wind wiegen, zerrinnt die Welt. So gefällt es ihr.

Leer und friedlich ist es hier, nur Ebene und Boden, von dem Rauch aufsteigt. Allein der Sonnenaufgang macht die Welt bunt, übergießt sie mit einer orangenen, vor Schönheit fremden Glut.

Und diese Luft! Maria trinkt so gern die Luft. Wie voll sie ist, erfüllt von sich! Der Tag, an dem man nicht arbeitet, scheint dann unendlich lang, die Stunden des Sommers bröckeln nur so dahin in der Hitze, und Musik ist das Einzige, das gegen die Langeweile hilft. Aber die Langeweile macht Maria keine Angst. Denn alles scheint aufgehoben zu sein in sich selbst. Und Maria kann beobachten, was sie will. Kann lange Zeit still halten. Wie ein Baum steht sie manchmal einfach bloß da in der sirrenden Landschaft, sieht die Dichtigkeit der Welt an, die sie umgibt. Da schläft ein Gänslein im Schatten des Baumes. Da sitzt eine Fliege, reglos. So, als würde sie einfach nur auf ihren Tod warten. Oder? Maria lernt die Ruhe von der Fliege.

„Träumst schon wieder?“, meint da die Rosa, die gerade mit wackerem Schritt in den Hof kommt.

Maria lächelt still.

„Lass uns eine Mutprobe machen“, sagt die Schwester und führt ihre Lippen ganz nah an Marias großes Ohr heran: „Wir schauen, wer es schafft, beim Greißler eine Salzgurke zu stehlen. In Ordnung?“

Maria zögert. Sie bewundert Rosa, doch sie ist fromm – und man soll nicht begehren eines Fremden Gut, das hat sie doch gelernt! Ein Gebot soll das sein, vor dem großen Gott!

„Stehlen darf man nicht!“, sagt Maria deshalb zweifelnd, denn sie weiß, dass so eine Salzgurke was Besonderes ist.

„Sei kein Angsthase, Moidl! Bist du nur groß oder bist du auch mutig? Sag!“

Da seufzt Maria – und ohne ein weiteres Wort folgt sie der Schwester nach, die sich wuselnd wie ein Eichhörnchen in Bewegung setzt, den Feldweg entlang.

Im Tal also das Kaufhaus. Sie betreten es mit zögerlichen Schritten, und während Rosa über die Mutter zu plappern beginnt und damit Hanna Bacher, die dicke Verkäuferin mit den dünnen Strichlippen, in ein Gespräch verwickelt, geht Maria an das Fass mit den Salzgurken heran. Ein riesengroßer Schlund ist es. Ein Bauch, aus dem Maria mit ihren Händen vorsichtig zwei Gurken fischt.

Maria kann gut beobachten. Sie sieht aus den Augenwinkeln, wie geschickt Rosa Hanna Bacher ablenkt – und schiebt die triefenden Dinger tief in ihr Schürzentäschchen hinein. Aber: Langsam und bedacht ist sie dabei. Denn sie weiß: Jede ruckartige Bewegung zieht nur Aufmerksamkeit auf sich. Und die will Maria nicht. Auch sonst nicht. Weil sie doch eh so groß ist, da schauen die Leute ohnehin schon genug! In solchen Momenten hat Maria gelernt, sich unsichtbar zu machen – und das tut sie auch jetzt, um Rosa ihre Stärke zu beweisen.

„Danke also!“, sagt die Schwester da mit einem Mal laut, greift nach dem Apfelsaft, den sie von Hanna Bacher erstanden hat, und geht rasch auf Maria zu, um sie aus dem Laden zu schieben. Die krümmt sich im Verabschieden, macht sich so klein, wie es nur geht.

„Ich gäb’ euch ja gern einen Krapfen gratis mit“, seufzt Hanna Bacher, „aber so schnell schießen die Preußen nicht!“

„Die Preise heißt das doch!“, entgegnet Rosa altklug, die im Schulunterricht brav zugehört hat und immer wach ist wie ein Schwamm. Dass die Preußen nämlich ein Volk sind und mit dem Verkaufen nichts zu tun haben, so viel hat sie gelernt!

Anna Bacher aber ignoriert ihre Aussage. Von Bildung hat sie wenig Ahnung. Ihre Arbeit ist eine mit den Händen. Decken falten, Kuchen und Brot backen, dem Vieh die Wolle scheren. Das ist alles. Ihr Blick folgt den beiden Mädchen nach.

„Du wirst auch immer größer!“, ruft sie Maria hinterher.

Diese schaut sich nur kurz um und lächelt schief.

„Geschafft!“, meint Rosa, als sie wieder auf dem Feldweg sind, und drückt ein wenig gegen Marias Backe. „Du bist meine Heldin! Groß und stark wie unser Ahnherr!“

Ahnherr! Wieder fällt Maria auf, was die Schwester für Worte weiß – und das, obwohl sie doch jünger ist als sie! Sie nickt, doch mit einem Mal fällt ihr das Schlucken schwer. Auch später, als sie die Salzgurke essen sollte. Beide Gurken wird Rosa bekommen.

Als es zu dämmern beginnt, kriecht die Schuld noch tiefer in Maria hinein. Das Bauernhaus ist abends stets eine Schattenwelt, manchmal dumpf und friedlich, ja gemütlich, manchmal aber auch erschreckend. So auch an diesem Abend, nach Marias erstem Verbrechen. Zitternd starrt Maria aus dem Fenster und erwartet das Nachtmahl. Hinterm Haus nichts als rotverbrannte Ebene. Die Sonne ist ein Schlag ins Gesicht, das Gras säuselt, knistert und knackt unterm Gewicht des Windes.

Auch jetzt kann Maria nicht essen.

„Iss, du brauchst es!“, meint die Mutter, ihr noch einen zweiten Knödel auf den Teller schiebend.

Maria schüttelt den Kopf.

Theresia Faßnauer will ihr über die Schulter streichen, doch Maria zuckt zurück. Der Körper der Mutter erscheint ihr mit einem Mal zu weich, zu rund und perfekt, Maria kann ihn nicht ertragen. Sie selbst kommt sich unförmig und klobig vor. Egal wie viele Gurken sie auch stiehlt, denkt Maria mit einem Mal, nie wird sie dazugehören. Nie so sein wie Rosa oder Theresia.

„Ach, lass sie!“, meint der Vater gütig lächelnd.

In dem Moment will sie am liebsten sein wie der Vater Josef, der Rote, der da am Tisch sitzt und kaut. Anders ist er als die Frauen. Er plappert nicht, leiert keine Rosenkränze, er schweigt meistens, und wenn er etwas sagt, ist es ehrlich.

„Hast keinen Appetit?“, will Theresia besorgt wissen und befühlt Marias Stirn.

Maria schüttelt den Kopf. „Ich glaub, ich geh’ schlafen“, murmelt sie.

„Ist gut, Kind“, sagt Theresia ein wenig besorgt und drückt sie an sich.

Aber es fühlt sich nicht gut an. Der wogende Busen schnürt Maria den Atem ab. Macht ihre Schuld noch größer. Sie giert nach dem Vater. Dass sie sein will wie ein Mann, ein richtiger, starker Ahnherr, ein Kämpfer!, denkt Maria. So wartet sie auf Josefs Blick – doch der bleibt aus.

Schnell schläft Maria ein an diesem Abend. Doch mitten in der Nacht erwacht sie aus schrecklichen, brauenden Träumen. Kurz geht sie auf und ab, kauert sich auf den Flur, das lichtlose Knarren der Tür ist zu hören. Maria lauscht ein wenig und beginnt dann wieder einzunicken. Doch plötzlich schreckt sie erneut aus dem Schlaf hoch. Was ist das? Ein Donnern und Dröhnen ertönt, dass ihr ganz bang wird! Mit pochendem Herzen eilt Maria zurück in ihre Kammer, öffnet das Fenster und blickt hinaus. Da, ein Blitz! Er durchzuckt hell und drohend das Firmament. Gottes Hand greift als Leuchtader vom Himmel herab und wischt den Restschlaf aus ihrem Blick. Gott bestraft mich!, denkt Maria, und ihr wird das Herz schwer.

Regen sprüht sich aus, nasse Rinnsale entstehen auf dem Pflaster des Hofes, das vor ihr liegt. Da muss Maria aufstehen. Und sie hastet mit raschen Beinen zu dem heiligen Ort: der Kapelle. Der Regen klebt ihr das Haar an den Schläfen fest, aber das ist egal. Maria läuft und läuft, atmet schwer, immer wieder zucken die Blitze. Töt’ mich doch, Gott!, denkt das Riesenmädchen, während es zitternd vor der Kapelle zum Knien kommt. Schlammig ist das Gras, es drückt sich in ihre bloßen Füße hinein. Unter ihr schwappt und zischelt es.

„Verzeih mir, Maria“, flüstert sie. „Ich weiß schon, das soll man nicht tun. Und ich trag’ deinen Namen!“

Keine Antwort tönt von der Kapelle.

„Ab jetzt“, wispert Maria in den Regen hinein, „ab jetzt werd’ ich brav sein! Ehrlich!“

Und mit einem Mal ist eine Stille in ihr.

Mariedl

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