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3. Großer Großvater
ОглавлениеEs ist immer ein Wunder, wenn neues Leben wächst. Und doch geschieht es wie nebenher. Hände werden größer, Beine wachsen sich aus. Auch Marias. Gerade Marias. Moidl, wie die Ridnauner sie nennen.
In den ersten Jahren gestaltet sich Marias Dasein unaufgeregt. Die Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen. Marias Sommer sind bestimmt durch das Spiel mit der Schwester Rosa, die ein wenig jünger ist als sie, und die Arbeit auf der Weide. Wehende Kleider, die um die Füße baumeln, sie streicheln, sich zart, gleichzeitig aufregend anfühlen. Aufregend wie das Kitzeln des Grases unter den Sohlen. Aufregend wie die Blase der Schweine, die beim Schlachten entnommen wird und mit der dann, während man das Fleisch auf dem Feuer grillt, Ball gespielt wird.
Spielen: Das ist es, was Maria und Rosa am liebsten tun. Oft läuft Rosa der Schwester hinterher, eine riesige Puppe aus Stroh mit sich schleppend. Sie spielen, die Mutter nachahmend, Hausmütterchen, mit einem Tuch um den Kopf. Schon damals ist eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen. Und das wird so bleiben. Auf allen zukünftigen Reisen wird Rosa die Riesenschwester begleiten. Jetzt aber ist diese blonde Kleine mit dem Puppengesicht selbst noch ein Kind. Und sie ist die Anführerin. Quirlig und aufmüpfig weiß sie um ihre Macht. Maria ist zwar größer, aber gutmütiger und ein wenig dumpf – sie lässt sich leicht manipulieren, sagt zu Rosas Ideen meist „Ja!“ und lächelt gütig.
Rosa ist eine Draufgängerin. Doch ihr Charme kompensiert.
„Wart!“, ruft sie der Maria nach, wenn die mit großen Schritten voraneilt, um des Nachmittags nach getaner Arbeit wieder ein wenig zu spielen.
Zum Brunnen vor der Kapelle zieht es sie. Für die Kinder ist es eine Weltreise; der Feldweg lang und gefährlich. Die Beine muss man einziehen, wenn Schlangen des Weges kriechen. An den Rand muss man flüchten, sobald einer der Gaukler mit einem Leiterwagerl kommt, oder eines der Pferde, deren Hufe laut rattern. Im Sommer zieren schneckenartig zusammengerollte Ballen aus Laub die Straße, sehen aus wie die Nussschnecken, die Maria nur zu Weihnachten zu essen bekommt. Rosas Füße laufen, straucheln, sie will unbedingt schneller sein. Maria drosselt ihr Tempo und folgt der Schwester zum Brunnen vor der Kapelle, beginnt eifrig zu schöpfen wie sie.
„Ich koch jetzt Suppe“, sagt Rosa. „Für den Vater.“
Maria nickt. Obwohl sie älter ist, lernt sie von der Schwester. Sie übernimmt: die Gesten, die Art zu gehen. Denn Rosa scheint viel sicherer zu sein!
So lässt Maria sich von Rosa, der sie doch an Größe und Stärke um einiges überlegen ist, auf einem kleineren Heuballen neben den Brunnen ziehen – wie das kratzt unter den Pobacken! Maria und Rosa klettern auf einen größeren Ballen und schlenkern mit den Beinen, sehen in die Ferne und trinken von dem Wasser, das ein bisschen lehmig schmeckt. Die Sonne brennt, die Hitze sticht.
Sonst geschieht nichts. Und das ist gut so, denn die Kinder sind müde. Hin und wieder ein Habicht am Himmel, der gurrende Schreie ausstößt.
Maria sieht in die Tiefe des Brunnens. Ihr ist ein wenig bang.
„Deine Füße sind viel kürzer als meine!“, sagt sie dann zu Rosa.
„Das macht nix“, meint die. „Dafür ist deine Nase flacher! Du gerätst eben nach dem Großvater.“
„Ja?“, meint Maria und betrachtet sich selbst zweifelnd. Manchmal kommt sie sich unendlich fremd vor, wenn sie ihre Glieder betrachtet: wie eigenartige Gebilde, die nicht zu ihr gehören.
„Iss, Moidl!“, meint da die Schwester und holt eine Semmel aus der Rocktasche und ein wenig Milch, die sie in ihrem Schürzchen verstaut hat.
Maria stopft Semmel und Milch in sich hinein, bis ihr schlecht wird, sich alles aufbauscht in ihrem Mund. Rosa ist angetan.
„Wie schnell du essen kannst!“, ruft sie.
Beschämt zuckt Maria mit den Achseln und kaut weiter. Essen ist immer gut. Ob es auch hilft gegen die Angst vor der Höhe auf dem Heuballen? Egal. Maria seufzt und entspannt sich. Rosa sitzt neben ihr und riecht nach Milch und Sonnenbrand.
In dem Moment hüpft etwas vom benachbarten Baum auf sie herab.
„Ein Kätzchen!“, ruft Rosa aus.
Maria betrachtet das kleine Bündel, das nun zwischen ihnen sitzt und leise maunzt.
„Wie herrlich!“, kommt es aus Maria, und sie betrachtet das Tier genau. Es muss gerade geboren worden sein! Es hat einen roten Gaumen und passt genau in eine Hand, so winzig und zart ist es, noch ganz ohne Fell, nur von einem Flaum bedeckt. Sie könnte es zerdrücken, denkt Maria – stattdessen aber will sie es wiegen und besonders gut zu ihm sein. Maria denkt, dass sie die Kätzchen lieb hat.
„Erzähl doch mehr vom Großvater!“, bittet sie Rosa, während sie das Tier hin und her schaukelt. Denn Rosa kann so gut erzählen, so unbedarft und hell ist ihre Stimme, und ihr Lachen perlt und kitzelt, fühlt sich an wie nieselnder Regen.
„Also, unser Ahnherr, das war ein rechter Hüne!“, meint Rosa wispernd.
Was die Rosa für Worte kennt!, denkt Maria. Bestimmt ist das so, weil sie dem Dorfpfarrer Engl besonders neugierig lauscht, sagt sie sich und geht in der Magie der Erzählung verloren, während es in ihren Armen schnurrt und summt. Hüne, das muss wohl ein großer Mann sein, oder?
„Der Großvater war ein wackerer Riese. Gegessen hat er wie ein Heudrescher, und er konnte, stell dir das vor, das Dach mit seinen Füßen heben. Ehrlich!“, fährt Rosa mit großen Augen fort.
Maria ist fasziniert. Sie betrachtet ihre eigenen Beine. So stark wäre sie auch gern!
„Erzähl weiter!“, bettelt sie, doch es ist zu spät – die Mutter kommt mit starken Schritten anmarschiert, die Hände in den Rocktaschen: „Abmarsch, Kinder, heut ist nix mehr mit Spielen!“
Enttäuscht verzieht Rosa die Lippen zu einem Strich.
„Warum?“, will sie greinend wissen.
„Genau!“, echot Maria mit der bassigen Stimme, die ihr eigen ist.
„Warum?“, fragen die Mädchen dann noch einmal im Chor.
Theresia seufzt und wischt sich die Hände, die noch ein wenig schmutzig vom Teig sind, an ihrem rot-weiß karierten Rock ab.
„Gäste gibt’s!“, erklärt sie lapidar.
Mit einem Stöhnen hüpft Rosa, gefolgt von der verträumt an den Großvater denkenden Maria, vom Heuballen und hastet hinter der Mutter her. Maria muss nicht hasten, ihre Beine sind fast so lang wie die der Mutter. Beeilen tut sie sich dennoch, aber bloß innerlich. Gäste – sie weiß, was das heißt! Denn ein neues Phänomen beginnt gerade im Ridnauntal Fuß zu fassen: der Fremdenverkehr.
Ausschlaggebend war die Eröffnung der Bahnlinie Bozen–Innsbruck. Maria hat sie schon einmal gesehen, und großen Respekt hat sie vor dem Schnarren und Rauschen des Zuges, dem Singen der Maschinen! Angeblich liegt es an diesem Monster, dieser Bahn, dass immer mehr Leute ins Tal kommen. Der Ausbau der Straße von Sterzing nach Mareit, die weiter nach Ridnaun führt, sowie die Eröffnung einer Gendarmeriestation und andere Neuerungen machen es den Besuchern leicht. Der Schwarm an Touristen bleibt nicht aus. Rundherum floriert es. Der Deutsche und der Österreichische Alpenverein organisieren in diesen Tagen durch die Errichtung von Schutzhütten und Wanderpfaden die Erschließung der Berge für die Gäste.
Immer wieder kehren Wandernde auch bei ihnen am Hof ein, kaufen Käse oder Milch, trinken etwas oder lassen sich von der Mutter bekochen. Dann helfen die beiden Töchter freilich stets brav aus. Vor allem Maria. Nie schimpft sie. Die Milchkannen, die Äpfel, das Laub. Wieder und wieder packen ihre Arme zu. Bereits jetzt schon, in frühen Jahren.
„Arbeiten kann die Moidl!“, sagt die Mutter dementsprechend anerkennend, kaum dass sie heimgekehrt sind, Kartoffeln zu schälen, um einen der Gäste zu bekochen. Maria lächelt, ihr Blick kippt beim Schneiden ein wenig nach innen, während die Mutter Öl in die Pfanne gießt.
Maria träumt von dem starken Großvater und ein wenig von der Sanftheit des Kätzchens. So ist auch dieser Sommertag ein guter Tag.