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EINS

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Filou war der größte und prächtigste, der angesehenste Kater von Beaulieu. Er war ein Kater im Glück.

Jeden Morgen weckten ihn die zärtlichen Liebkosungen der schönsten Katze der Welt. Jeden Morgen, nachdem er sich geputzt und gereckt und gestreckt und mit den beiden Kleinen gespielt hatte, damit sie auch einmal so prächtig würden wie er, schritt er gravitätisch den Flur entlang zur Küche, wo ihn jeden Morgen seine ergebenen Menschen erwarteten. Marla, sein kleiner Liebling mit den großen braunen Augen, die ihn herzte und liebkoste. Ihre Mutter, die strenge Ivonne, die ihm kniefällig das Essen servierte. Und Frederick, dem er zur Begrüßung den Kopf in die bereitwillig geöffnete Hand stupste, obwohl Marlas Vater nach Autowerkstatt roch.

Jeden Morgen, nachdem er gespeist hatte, führte ihn der Weg hinaus ins Dorf. So auch heute wieder: zur Place de la Patrie, vorbei am Kriegerdenkmal, vor dem der weiße Mops Fidel lag, als ob man ihn angeleint hätte. Dort lag er immer, wenn sein Herrchen, nachdem er die Zeitung gekauft hatte, im Café noch ein Schwätzchen hielt. Der Mops behauptete von sich, das Geheimnis innerer Ausgeglichenheit zu kennen, aber Filou war sich nicht sicher, ob er nicht eher Mitleid verdiente.

»Ahhhh«, gähnte der Dicke und zeigte kleine spitze Zähne. »Che bella figura! Hier kommt der schönste Kater von Beaulieu!«

»Guten Morgen, Erleuchteter!« Filou gab ihm einen Nasenstupser. »Du weißt doch: Auf die inneren Werte kommt es an! Und wer könnte da mit dir konkurrieren?«

Dann schlenderte er weiter. Heute war keine Zeit für ästhetische Betrachtungen oder philosophische Weisheiten, zu denen Fidel neigte. Heute brauchte Filou ein Bad in der Menge.

Mit erhobenem Schweif tänzelte er am Petanque-Platz vorbei, wo die alten Männer des Dorfes mit ihren Bällchen spielten, als ob sie Welpen wären. Dann auf die Grande Rue, ein großer Name für einen eher bescheidenen Verkehrsweg. Groß waren nur die Gerüche, die sich dort ballten, und jeder erzählte seine eigene Geschichte.

Beaulieu war ein Dorf der Düfte, zu jeder Jahreszeit dominierten andere, aber am meisten begrüßte Filous feiner Geruchssinn das Frühjahr, an einem Tag wie diesem. Die Morgensonne hatte alles Duftspendende behutsam erwärmt, das nun ein lauer Wind sammelte, bündelte und vor seine Nase wehte. Die Mimosen waren fast verblüht, aber ihr schwerer Duft gab noch immer die Kopfnote ab. Schon mischten sich die porzellanweißen Blüten des Steinlorbeers ein. Darunter lag der Geruch von Mandelblüten und Narzissen. Von aufbrechender Erde und frischen Gräsern. Und noch eine Ebene tiefer spielten sich die ganz großen Erzählungen ab, wahre Chroniken Beaulieus.

Am Blumenkübel, dort, wo die Grande Rue auf die Rue des Fleurs stieß, erfuhr man alles, was man wissen musste. Hier pflegten die Vierbeiner des Dorfes Mitteilung zu machen. Simple Gemüter beschränkten sich auf »Ich war hier« – eine der häufigsten und zugleich dümmsten Botschaften, aber vor allem bei Hunden sehr beliebt. Fidel allerdings war anders. Der pflegte seine Nachrichten in Form eines feingetuschten Haiku zu übermitteln. So war der Mops eben: Schlicht konnte er nicht.

Das schrillste Signal von allen lautete: »Bleib weg, wir brauchen dich hier nicht!«, Das war die Sprache, die Filou nur zu vertraut war. So markierten Garibaldi und Diabolo ihr Revier. Zusammen mit Maurice bildeten sie das Trio infernale Beaulieus: »Groß, schwarz, stark – mehr Kater braucht es nicht!«, lautete ihr Kampfruf. Nachdem der große weise Magnifico gestorben war, hatten sie sich ihr Revier aufgeteilt. Der einäugige Garibaldi, stark, aber dumm, kontrollierte den unteren Teil der Grande Rue. Diabolo hatte sich schlauerweise den oberen Teil reserviert, da, wo jeden Mittwoch der Markt abgehalten wurde, ein Festtag für alle Katzen des Sprengels, die oft von weither angepilgert kamen, um über die Reste herzufallen, die kurz vor Schluss am Käse- oder Fischstand serviert wurden. Maurice war sich zu fein für derlei, er flanierte lieber durchs Dorf und ließ sich von den Touristen verwöhnen.

Mich betrifft das alles nicht mehr, dachte Filou, ich hab es besser. Und doch: Er erinnerte sich plötzlich fast wehmütig an die alten Zeiten, als er noch in der Rue Basse wohnte, im Kellerloch bei Lucrezia, und um jeden Happen kämpfen musste. Lucrezia, bequem und listig, wie sie war, hatte das längst vergessen, seit auch sie bei Marlas Familie in Saus und Braus lebte.

Zwischen all den Botschaften witterte er seine eigene Spur, und die war unmissverständlich, denn sie hieß ganz schlicht: Hier ging Filou vorbei, der größte und prächtigste, der glücklichste Kater von Beaulieu. Stolz hob er seinen Schweif, bauschte ihn und setzte eine frische Duftmarke neben die alte. Dann stellte er den Schwanz auf wie einen Laternenmast, gab der Spitze eine gewagte kleine Drehung, die aller Welt zeigte, wer er war und wie es ihm ging, und schlenderte weiter zur nächsten Quelle des Wohlgeruchs: zum Bäcker.

Schon nach ein paar Schritten die Straße hoch rollte ihm die Duftwolke entgegen, umarmte ihn, streichelte ihn, neckte ihn. Filou reckte sich vor Vergnügen, während er den Duft der Baguettes und Ficelles sorgfältig von dem der Croissants und Brownies trennte. Kurz dachte er an einen Besuch bei Madame, an ein Stückchen Baguette und weiche, liebkosende Hände. Aber er riss sich zusammen. Er hatte zu tun.

Aber was genau? Vor Brunos Bar blieb er stehen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Gerüche hier überwältigten ihn – so musste die Hölle riechen, nach scharfer Männerpisse, ranzigem Frittieröl, kaltem Zigarettenrauch und abgestandenem Rotwein. Aber irgendetwas hielt ihn hier fest. Irgendetwas. Und es war nichts Gutes. Irgendetwas schob sich heran wie eine dunkle schwarze Wolke. Kam näher. Immer näher.

War da. »Verpiss dich, du kleiner Streuner!«, rief eine hässliche laute Männerstimme. »Mach dich fort, Faulpelz!« Eine kreischende Frau. Beide kamen in rasender Geschwindigkeit auf ihn zu, mit fuchtelnden Fäusten. Was wollten die Fremden? Wer waren sie? Was war hier eigentlich los?

Filou beschloss, nicht auf die Auflösung des Rätsels zu warten, und sprang auf. Keine Sekunde zu früh: Denn jetzt kamen immer mehr Kreaturen auf ihn zu, nicht nur Menschen, auch Ratten. Katzen. Hunde! Er lief um sein Leben. Lief und lief. Und lief. Doch die anderen kamen immer näher, umhüllt von einer schwarzen Wolke, aus der es fauchte und kreischte und schrie. »Hau ab, du Flohfalle! Du gehörst nicht zu uns!«

»Was wollt ihr?«, keuchte er. Doch jetzt war die schwarze Wolke über ihm und senkte sich herab. Es wurde rabenschwarz, die Geräusche der Welt drangen nur gedämpft und wie aus weiter Ferne zu ihm hindurch. Er drohte zu ersticken. Und um ihn herum die Stimmen. Zischeln, Fauchen. Feindselig und abgrundtief böse. All seine Muskelfasern zogen sich zusammen, sein Körper spannte sich, er wollte weg, er musste weg, er …

»Dickerchen! Wach auf! Du zuckst mit den Läufen, als ob dich der schwarze Hund jagt!«

Jemand biss ihn ins Ohr. Filou hob blitzschnell die Pfote, wollte zuschlagen.

»Nun beruhige dich!«, gurrte die Stimme. »Alles ist gut! Ich bin ja bei dir!« Eine starke Zunge leckte ihm die Ohren und streichelte sanft seine Lider. Er öffnete sie und blickte in die schönsten Augen der Welt. Große schwarze Pupillen in warmem Bernstein. Darunter das rosa Dreieck der hübschesten Nase, die er kannte.

»Ich habe geträumt«, flüsterte er.

»Das muss ein Albtraum gewesen sein, mein Dickerchen«, schnurrte Josephine und kuschelte sich an ihn. »Schlaf wieder ein und träum was Schöneres. Bis zum Frühstück ist noch viel Zeit.«

Filou - ein Kater auf Abwegen

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