Читать книгу Filou - ein Kater auf Abwegen - Sophie Winter - Страница 6
ZWEI
ОглавлениеDickerchen. Sie hatte ihn Dickerchen genannt. Filou wachte wie gerädert auf, an seinen Traum erinnerte er sich nicht mehr, nur daran, dass man ihn verfolgt hatte, aber er wusste noch genau, was Josephine in der Nacht gesagt hatte. Dickerchen.
»Bin ich – zu dick?«, fragte er sie, während sie Toilette machte.
»Zu dick? Wie kommst du denn darauf, Dummerchen? Du bist gerade richtig. Weich und warm. Schön kuschelig.« Sie leckte ihm zärtlich über die Nase.
Doch Filou war der Appetit vergangen. Er folgte Jo und den beiden Kleinen in die Küche und ließ heldenhaft seinen gefüllten Fressnapf stehen, auf den sich Monpti stürzte, als wäre er eine halbverhungerte Waise. Unbemerkt von seiner schleckenden und schmatzenden Familie schlich er sich hinaus, um die Angelegenheit zu untersuchen und gegebenenfalls angemessene Schlüsse aus dem Befund zu ziehen.
Er durchquerte die Wiese zwischen dem Mimosenbaum und dem Lorbeer auf taufeuchtem Gras und lief hinüber zur Hecke, die zum Nachbargrundstück führte. Er war ewig nicht mehr hier gewesen – nicht, seit sie im Winter durch meterhohen Schnee hindurchgekrochen waren, er und Josephine und die beiden Kleinen, kurz vor dem Hungertod. Das Loch war bestimmt noch nicht ganz wieder zugewachsen. Hier konnte er überprüfen, ob er wirklich schon zu dick war. Wenn er sich nicht mehr hindurchzwängen konnte, dann …
Dann hat das Wohlleben mich die Freiheit gekostet, dachte er und suchte nach dem Weg, den sie sich damals gebahnt hatten. Er hatte ihn entdeckt, als er noch ein mutterloses Kätzchen war, das in einem feuchten Keller hauste und sich von Lucrezia terrorisieren ließ, der listigen silbergrauen Katze, von der er geglaubt hatte, dass er ihr sein Leben verdankte. Es war der Weg zu Marla gewesen. Der Weg ins Paradies.
Die Hecke aus Steinlorbeer duftete, die Blätter waren weich und die Zweige biegsam. Doch er passte nur mit größter Mühe noch hindurch. Es stimmte also: Er hatte zugenommen. Zu viel. Schwer atmend trat er den Rückzug an und schlich zu seinem Lieblingsplatz, auf das Bett aus duftenden Blüten, das er unter dem Mimosenbaum zusammengescharrt hatte. Und jetzt kam der zweite Test. Ob er wohl seine Flanken noch bequem mit der Zunge erreichte? Ja. Auch das ging noch. Katzen, die ein Heim mit festen Mahlzeiten hatten und zu dick geworden waren, trugen oft verfilzte Fellplacken an den Hinterläufen, weil sie dort mit der Zunge nicht mehr hinkamen. »Wohlstandsverwahrlost« hatte Lucrezia das genannt, damals, als sie beide aus schierer Not rank und schlank waren.
War es bereits so weit? War er auf dem besten Weg, ein Opfer des guten Lebens zu werden?
Er schob die Nase in die trockenen gelben Blüten. Hier, unter dem Mimosenbaum, hatte alles angefangen. Hier hatte er zum ersten Mal die feine helle Stimme vernommen, die zu einem kleinen Mädchen mit braunen Augen unter hellen Wimpern gehörte.
»Höher!«, hörte er die Stimme rufen. »Ja! Fang den Ball!«
Er spitzte die Ohren und hob den Kopf. Vielleicht war das die richtige Idee. Was sagte Marlas Maman, Ivonne, wenn Frederick sich darüber beklagte, dass er zugenommen hatte? »Bewegung, mein Lieber! Das ist das Einzige, was hilft!«
Wie der Mensch, so die Katz. Filou erhob sich, dehnte und streckte sich und schüttelte die gelben Blüten aus seinem Pelz. Dann trabte er hinüber zur Wiese.
Etwas Rotweißblaugestreiftes raste auf ihn zu, gefolgt von einem roten Kugelblitz, der ihn fast gerammt hätte. Filou fauchte und buckelte. Aber es war nur Monpti, der ihn glatt übersehen hatte und nun mit stolz wehendem Schweif zurück zu Marla trabte, etwas Buntes im Maul, das Filou bekannt vorkam. »Na warte«, dachte Filou. »Das ist mein Bällchen.«
Er schlich sich näher heran. Marla hockte neben Mabelle und hielt Monpti die Hand unters Maul, der sich kokett weigerte, ihr das Bällchen zu überlassen. Wie groß die beiden Kleinen geworden waren in den letzten Monaten. Irgendwie hatte er das gar nicht richtig mitbekommen. Monpti war rot wie er. Und Mabelle hatte die gleichen Farben wie Josephine – Weiß mit Schwarz und Rot. Und den feinen roten Streifen auf der Nase. Wie schön sie schon war. Und Monpti, der Frechdachs? Er könnte meiner sein, dachte Filou und betrachtete den Kleinen liebevoll, der endlich das Bällchen fallen gelassen hatte und nun gebannt zusah, wie es auf Marla zurollte.
»Aufpassen!«, sagte das Mädchen, griff nach dem Ball und täuschte den nächsten Wurf vor. Zitternd vor Anspannung wartete Mabelle, während Monpti voreilig lossprang.
»Früher bin ich bis zur Wäscheleine gekommen«, dachte Filou und spannte die Muskeln an. Als Marla endlich warf, schnellte er hoch, drehte sich im Sprung, sah den Ball hoch oben kreiseln, spürte eine Bewegung an seiner Flanke und merkte noch, wie Mabelle an ihm vorbeizog. Dann plumpste er unelegant zu Boden.
»Filou! Hast du dir wehgetan?« Marla war sofort bei ihm. Aber das passte ihm überhaupt nicht. Erst recht nicht, dass Mabelle, die mit dem Bällchen im Maul neben ihm gelandet war, das Ding mit der Pfote zu ihm hinüberstupste. Gönnerhaft, bildete er sich ein und schlich beschämt davon.
Nichts konnte ihn trösten. Du musst dein Leben ändern, dachte er.