Читать книгу Filou - ein Kater auf Abwegen - Sophie Winter - Страница 7
DREI
ОглавлениеEr wusste nicht, wofür er sich bereitmachte. Er wusste nur, dass er es tun musste.
»Wo bist du eigentlich den ganzen Tag?«, quengelte Josephine. »Und die halbe Nacht? Du treibst dich herum!«
»Ich erzähl’s dir später, ja?« Er legte ihr sanft die Vorderpfote um den Hals mit der weißen Pelzkrause und biss sie zärtlich in den Nacken. »Jetzt muss ich.« Er knuffte Monpti in die Seite und leckte Mabelle die Nase. Dann machte er sich auf den Weg, bevor Marla aufwachen und sich besorgt über ihn beugen konnte.
Ivonne kümmerte sich glücklicherweise mehr um Lucrezia als um ihn. Und vor allem kümmerte sie sich um ihre Bilder, die sie wie eine Besessene malte und die überall herumstanden und übel rochen. Und wehe, man kam in ihre Nähe! Entweder brach sie in ein entsetzliches Gezeter aus oder man blieb an den Dingern hängen und verlor sein halbes Fell, wenn man sich wieder losriss.
Frederick war die meiste Zeit in seiner Autowerkstatt und wollte keine »Weiberdebatten«, wenn er nach Hause kam. Der hatte eine ganz einfache Erklärung dafür, dass Filou seinen Fressnapf meistens stehen ließ.
»Der Junge hat Frühlingsgefühle, glaub mir«, hatte er Ivonne gestern zugeflüstert. Wobei alles darauf hindeutete, dass in Wahrheit Frederick von Frühlingsgefühlen befallen war. Marla hatte sofort protestiert. »Filou hat doch Josephine! Filou ist treu!«
Treu wie Gold, dachte Filou, that’s me. Treudoof. Ein Langweiler. Ein fauler Sack. Ein Wohlstandsverwahrloster. Und dagegen musste er etwas tun.
Sein Programm war anspruchsvoll und duldete kein Publikum. Er zwängte sich ein weiteres Mal durch die Hecke, durchquerte den Nachbarsgarten, fand einen halbwegs bequemen Durchgang in der stachligen Ligusterhecke auf der anderen Seite, lief zur Place de la Patrie und am Kriegerdenkmal vorbei, grüßte im Vorbeilaufen Fidel und rannte dann schnurstracks hinunter zu seinem alten Quartier. Die Ruelle des Camisards lag noch im Schatten. Als er ans Haus von Maxim und Manon gelangte, dem Schrecken seiner Jugendzeit, wäre er fast wieder umgekehrt. Als ob er noch ein kleiner furchtsamer Kater wäre! Er riss sich zusammen, richtete sich stolz auf und stolzierte auf Yapper zu, den Dackel, der vor dem Haus auf der Treppe lag und döste, neben sich das rosa Strickpüppchen, das er immer bei sich trug. Gleich würde das Geknurre und Gekläffe losgehen. Doch Yapper hob noch nicht einmal den Kopf, als Filou vorbeitänzelte. Er war alt geworden.
Endlich Frieden! Herrlich. Einerseits. Andererseits: Wenn schon Yapper keinen Lebensmut mehr zeigte …
»Man wird alt und schwach und stirbt«, hatte ihm Lucrezia einst erklärt, mit der ihr eigenen Abgebrühtheit. »Wann?«, hatte er sie damals gefragt. »Wann wird man alt? Nach dem Sommer?« Dann starb alles ab, das wusste er, die Blumen und das Gras. Das Laub verfärbte sich, schrumpelte, fiel von den Bäumen. Keine Schmetterlinge und Mauersegler mehr. Und überall der Geruch nach Moder und Verfall. Aber mittlerweile hatte er nicht nur einen Sommer überlebt, sondern auch einen Herbst und einen Winter. Wann also war es so weit? War seine verminderte Sprungkraft wirklich schon der Anfang vom Ende?
Er bog um die Ecke in die Rue Basse. Links stand das Haus, in dem er nach dem Tod seiner Mutter groß geworden war. In einem Kellerloch, bei Lucrezia, die ihn aufgesammelt hatte. Sie pflegte auf der Kohlenkiste zu thronen, auf einem Sack, er schlief auf einem Weinfass, von dem man runterrollte, wenn man nicht aufpasste. Ob das alles noch so aussah wie damals?
Er bremste in vollem Lauf. Das Haus, sein Haus, ihr Haus war verschwunden. An seiner Stelle ragte ein Haus aus hellen Steinen empor, die Fugen zwischen den dicken Quadern sorgfältig verputzt. Und dort, wo das Kellerfenster gewesen war, ihr Ein- und Ausstieg…
Er schob den Kopf vor und blinzelte. Endlich begriff er. Das Kellerfenster war noch immer da, aber es war kein dunkles Loch mehr. Es hatte ein Fenster erhalten, und das stand nicht mehr offen. Und das neue Haus war das alte Haus, auch wenn es nicht mehr vertraut roch.
»Sie rauben uns den Lebensraum«, hatte der große alte Magnifico damals bei jedem Haus ausgerufen, an dem sich Menschen zu schaffen gemacht hatten. Es fing damit an, dass sie die bequemen alten Matratzen und Säcke, das Stroh und die Lumpen herausräumten. Dass sie Tapeten herabrissen und verfaulte Holzböden beseitigten. Dass sie putzten und säuberten und die vertrauten Gerüche tilgten. Die neugemachten Häuser rochen scharf, nach Mörtel und Farbe. Und, was das Schlimmste war: Alle hatten gut schließende Fenster und Türen.
Filou setzte eine Protestmarke an die Hausecke, eilte über die Straße und sprang über die Mauer, hinter der die Gemüsegärten lagen. Es roch nach frisch bearbeiteter Erde, noch feucht vom Morgentau. Er konnte nicht widerstehen und stürzte sich voller Lust auf ein feingeharktes Beet, kratzte und wühlte, dass die Brocken flogen, bevor er einen sauberen und, wie er nach vollendeter Tat feststellte, wohlriechenden Haufen hineinsetzte, den er sorgfältig wieder zuschüttete. Warum ihn der alte Mann beschimpfte und bedrohte, der in diesem Moment durch die Pforte in den Garten trat, konnte er beim besten Willen nicht nachvollziehen. Was mussten sich die Menschen immer so anstellen? Er hatte schließlich alles so gemacht, wie es sich gehört.
Vorsichtshalber machte er, dass er davonkam. Hinter den Gärten führte ein gepflasterter Hohlweg den Hang hinauf. Hier war es kühl und feucht, selten drang die Sonne bis auf die bemoosten Steine vor, die schon seit unvordenklichen Zeiten hier liegen mussten, sie waren rund und glatt getreten von Menschenfüßen und Katzenpfoten. Und von Eselshufen. Frederick hatte eines Abends am Kamin von den Maultieren erzählt, die früher hier entlanggekommen waren, beladen mit allerlei guten Dingen. Die Maultierpfade führten quer durch die Cevennen, vom Süden zum Norden, und Filou wurde ganz schwindelig, wenn er daran dachte, dass die Tiere und Menschen Tage und Wochen und Monate unterwegs gewesen waren. Wie hielten die das aus? Reisen war nichts für ihn, hatte er nach einem Besuch beim Tierarzt beschlossen, für den man ihn in einen Korb gezwängt und ins Auto geschleppt hatte, in einen entsetzlich lauten, engen und übelriechenden Kasten.
Endlich endeten die Mauern rechts und links des Pfades, noch wenige Meter, und er war am Ziel – auf dem Roche du Diable. Von hier aus überblickte man ganz Beaulieu. Und hier oben war man meistens allein.
Nur heute nicht.
Er bemerkte die beiden Menschen erst, als er fast vor ihnen stand. Sie sprachen kein Wort, was ungewöhnlich war. Normalerweise konnten Menschen nicht lange stillsitzen und den Mund halten, im Unterschied zu Katzen.
Es war ein Mann, der dort saß, den Rücken an einen der Felsen gelehnt. Der Roche du Diable bestand aus einer Felsspitze, hinter der eine Art Plateau lag, auf dem drei große Bäume standen, die ihre Äste über einen Kreis aus neun Steinen reckten. Ein magischer Ort. Der Mann hatte die Arme um eine Frau gelegt, oder war es ein Mädchen? Ganz ausgezehrt und bleich sah sie aus. Und … Filou stockte der Atem. Sie hatte keine Haare. War sie tot?
Aber nein. Sie regte sich. Sie sagte etwas. Es klang wie »Das letzte Mal«. Dann stand sie auf, unbeholfen, schwankend, der Mann versuchte, ihr zu helfen, aber sie schaffte es allein. Doch als die beiden den Weg nach unten einschlugen, ließ sie sich von ihm stützen.
Filou legte sich neben einen der Steine, auf eine duftende Matte aus Thymian, und dachte nach. War die Frau am Verwelken? War das – Sterben? Er musste die Angelegenheit mit Fidel besprechen. Der Mops hatte zwar seltsame Ansichten und Angewohnheiten – wer trug einem »Herrchen« schon freiwillig das Zeichen der Knechtschaft hinterher, die Leine? Aber er war das schlaueste Wesen, das er kannte.
Endlich riss er sich aus seinen fruchtlosen Gedanken. Es gab ein Leben vor dem Tod, und das wollte er auskosten. Filou sprang auf den größten der Steine, der ihm genug Fläche bot, und begann sein Programm. Wie um ihm zu helfen, flogen Bienen und Schmetterlinge heran, nach denen er springen konnte – natürlich ohne eine der Kreaturen zu fangen. Er war kein Jäger.
Selbst die Vögel schienen zu begreifen, was er wollte, und flogen in Reichweite seiner Tatzen über ihn hinweg. Er sprang und drehte sich und tanzte, bis die Sonne so weit hochgekrochen war, dass sie durch das Dach aus frischem jungem Laub dringen konnte. Dann legte er sich in den Schatten eines der Steine und döste.
Und tauchte ein in eine graue Welt, an deren Ende eine schwarze Wolke aufstieg, die sich in rasendem Tempo näherte. Jetzt erinnerte er sich wieder an den Albtraum. Etwas Finsteres zog herauf. Etwas Böses. Es wollte ihm alles nehmen, was ihm lieb war. Josephine. Und Monpti und Mabelle. Marla. Ivonne und Frederick. Selbst der Gedanke, Lucrezia zu verlieren, tat plötzlich weh. Er musste etwas tun. Kämpfen. Sich gegen die Wolke stemmen. Sie in die Flucht schlagen.
Endlich wachte er vom eigenen Knurren und Fauchen auf. Und vom Zucken seiner Läufe.