Читать книгу Momentaufnahme - Sören Prescher - Страница 10
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Die Dämmerung setzte bereits ein, als sie ins Motel zurückkehrte. Sheryl und der Rest der Gruppe warteten auf dem Parkplatz und Jenny beeilte sich, damit ihre neuen Freunde nicht zu lang warten mussten.
Nachdem sie sich schnell andere Sachen angezogen und Parfüm aufgelegt hatte, klopfte sie an die Zimmertür ihrer Eltern. Mom und Dad studierten Zeitschriften und wirkten nach wie vor glücklich.
»Ach, schau an: Unsere Tochter lässt sich auch mal wieder blicken.« Wäre der Tonfall ihres Vaters nicht so ruhig gewesen, hätte sie es sich zweimal überlegt, ihn wegen des Clubs zu fragten. Aber er schien es ihr nicht übel zu nehmen, dass sie den ganzen Nachmittag weg gewesen war.
»Wie war’s am Strand?«, fragte ihre Mom.
»Ganz nett. Das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe, hat mich gefragt, ob ich nicht mit ihnen ins Shadows gehen möchte.«
»Was ist denn das?«, fragte Dad. »Ich hoffe, eine Disco oder dergleichen.«
»Dad, wir leben nicht mehr in den Achtzigern. Das ist ein Club.«
»Ist das nicht dasselbe?« Er runzelte zwar die Stirn, schien darüber aber nicht wirklich nachzudenken. »Wo genau befindet sich der Club?«
»Nur ein paar Straßen entfernt. Am Ortsende.«
»Wann bist du wieder da?«
Jenny staunte nicht schlecht. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätten ihre Eltern sie keinen einzigen Yard aus dem Haus gelassen, wenn sie nicht alles haarklein erzählt bekommen hätten. Jetzt hingegen schien sie das alles nicht weiter zu interessieren.
»Ich weiß nicht. Zu spät wird es bestimmt nicht werden.«
»Das wollen wir hoffen«, sagte Dad. »Und benimm dich bitte anständig. Wir würden hier gern noch ein paar Tage bleiben, wenn’s recht ist.«
»Du weißt doch, ich werde so lange mit dem Barkeeper flirten, bis er mich mit Whisky abgefüllt hat und dann machen wir es uns in seinem Pick-up gemütlich.«
Er blinzelte sie an. »Wenn du schwanger bist, verdonnern wir dich dazu, das Baby hier aufzuziehen. Außerdem suchen wir schöne Kindernamen heraus. Was hältst du von Wilbur als Jungenname?«
»Gute Argumente, Dad. Ich werde nicht lang wegbleiben. Und ich bin leise, wenn ich zurückkomme.«
Beide nickten. Während ihr Vater sich wieder seiner Lektüre widmete, begleitete ihre Mutter sie zur Tür. Beim Hinausgehen raunte sie Jenny ein »Morgen will ich aber ein bisschen mehr darüber erfahren« zu und zwinkerte.
»Geht klar, Mom.« Lächelnd kehrte Jenny zu ihren Freunden zurück.
Offenbar war das Shadows nicht nur der einzige Club in Milton, sondern im Umkreis von mindestens fünfzig Meilen. Jenny hatte mit der hiesigen Jugend gerechnet, eventuell mit ein paar Leuten von außerhalb, aber nicht mit so großen Menschenmassen, dass sie kaum Luft zum Atmen bekam.
Solch überfüllte Orte kannte sie bisher nur aus Boston. Allerdings wohnten dort ungefähr dreihundertmal so viele Leute wie hier. Die Musik orientierte sich ebenfalls an der der aus ihrer Heimatstadt.
Einziger Unterschied: Die R’n’B-Songs, zu denen die pulsierende Menge tanzte, lagen mindestens drei Monate hinter denen, die derzeit bei ihr daheim angesagt waren. Zwar befand sich auch Jenny nicht unbedingt auf dem neusten Stand, dennoch fühlten sich die Lieder von Rihanna, Usher und Co. irgendwie alt an. Doch hier mit den brandaktuellen Tracks empfangen zu werden, hätte sie auch sehr verwundert.
Wie verrückt das Leben doch manchmal war. Bei ihrer gestrigen Ankunft hatte sie noch befürchtet, dass der Ort viel zu ruhig wäre. Nun sehnte sie sich nach etwas Leiserem. Verwirrt über diesen Gedanken schüttelte sie den Kopf und vergewisserte sich, dass sie ihre Freunde nicht verloren hatte. Nicht auszudenken, wenn sie in diesem Gewimmel auf sich allein gestellt gewesen wäre. Aber direkt hinter ihr lief Monica, dicht gefolgt von Betty und Sheldon. Der Rest der Gruppe befand sich vor ihr und achtete mehr oder minder stark darauf, dass sie nicht von den anderen abgeschnitten wurden.
Sie erkämpften sich den Weg zu den Tischen nahe der Bar. Zu Jennys Überraschung waren nicht einmal alle besetzt. Sheryl, Norman, Betty und Marvin setzten sich an einen ovalen Ecktisch, Claire, Monica, Cody, Sheldon und Jenny an den daneben.
»Möchtest du was trinken?« Cody musste beinahe brüllen, um verstanden zu werden.
»Klar, warum nicht? Was empfiehlst du denn?«
Dies war offenbar sein Stichwort und er lächelte geheimnisvoll. »Lass dich überraschen. Der Barkeeper ist mein Bruder. Der schenkt uns was ein, da drehen deine Geschmacksnerven am Rad.« Er verschwand in Richtung Bar.
Norman und Marvin folgten, gleich darauf auch Sheldon.
»Seid ihr jeden Abend hier?«, fragte Jenny die beiden Mädchen an ihrem Tisch. Auch sie schrie förmlich, um gegen die Musik anzukommen.
Monica schüttelte den Kopf. »Nein, so oft hat der Laden gar nicht offen. Hin und wieder kommen wir hierher – wenn was los ist.«
Ein Junge mit schlaksigen Armen und einem Outfit, das hätte verboten sein müssen, erschien an ihrem Tisch und beendete das Gespräch vorzeitig.
»Hi, Monica.« Die weißen Karos auf seinem karierten Holzfällerhemd leuchteten in der flackernden Beleuchtung – was die Angesprochene allerdings wenig beeindruckte.
»Brian?! Was suchst du denn hier?« Mit einem Mal war sie sehr aufgebracht. »Verpiss dich und such dir jemand anderen, den du anbaggern kannst.«
»Wir sind heute aber wieder mies drauf.«
»Ich kann dich bloß absolut nicht ausstehen. Wann siehst du das endlich ein? Verzieh dich einfach.«
Diesmal erwiderte Brian nichts, sondern sah zu, dass er möglichst schnell verschwand.
Jenny erkannte, wie sehr ihn die Worte verletzt hatten und hätte ihm gern gesagt, dass Monica es bestimmt nicht so gemeint hatte. Aber ein Blick zu ihr und ihren Freundinnen sprach eine völlig andere Sprache. Monica machte ein Gesicht, als hätte sie eine Goldmedaille gewonnen. Claire und die anderen Mädchen wirkten ebenfalls amüsiert.
»Oh Gott, was für ein Idiot!« Monica verdrehte die Augen.
Cody und Sheldon kamen in diesem Augenblick zurück.
»War das eben Brian?«, fragte Cody, während er vor Jenny ein gefülltes Glas abstellte. »Der gibt wohl nie auf, was?«
»Der Idiot lernt es einfach nicht. Dabei weiß er genau, dass ich mit Losern wie ihm nichts zu tun haben will. Trotzdem beobachtet er mich ständig beim Cheerleader-Training. Der Wichser meint wohl, ich würde es nicht mitbekommen.«
»Was ist das?« Jenny tippte gegen das Glas. Alkoholfrei sah das nicht aus.
»Oh, das wird dir gefallen. Es heißt Firestarter.«
»Klingt nicht besonders viel versprechend.«
»Probier es einfach!« Er wartete darauf, dass sie seinem Vorschlag nachkam.
Zuerst zögerte sie, dann nippte sie tatsächlich am Glas. Zu mehr kam sie allerdings nicht. Obwohl nur wenige Tropfen in ihren Magen gelangten, brannte es wie tausend Höllenfeuer. Jenny spürte, wie ihr die Gesichtszüge entglitten, während sie das Glas ungeschickt auf den Tisch zurückstellte und nach Luft schnappte. Gleichzeitig war ihr auf einmal brütend heiß.
Cody war von ihrer Reaktion sichtlich amüsiert, sagte aber nichts.
Sheldon nahm nicht so viel Rücksicht. »Das Zeug ätzt dir die halbe Speiseröhre weg. Aber es ist geil. Nach ein paar Schlückchen willst nie wieder was anderes.«
»Das glaube ich kaum.« Sie hatte Schwierigkeiten zu sprechen. Noch immer brannte der Alkohol und sie wünschte, der Barkeeper hätte vor dem Ausschenken nach ihrem Ausweis gefragt.
»Wie ist nun dein erster Eindruck von Milton?«, fragte Cody, als wäre alles in bester Ordnung. Anscheinend war das Getränk für ihn nur Mittel zum Zweck. Die wirkliche Anmache folgte erst noch. »Ich hoffe, dass wir keinen all zu schlechten Eindruck bei dir hinterlassen haben.«
»Nein, bisher reicht es nicht für eine Beschwerde. Da müsst ihr mir schon ein wenig mehr bieten.«
Alle an dem Tisch lachten auf, nur Jenny wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Zum Glück sprang Sheldon nur Sekunden später auf und verschwand mit Claire auf die Tanzfläche. Wenig später folgte Monica und ließ Jenny mit Cody allein am Tisch zurück. Was eindeutig nicht nach Zufall roch.
»Du scheinst nicht auf den Mund gefallen zu sein«, sagte sie an Cody gewandt.
»Ja, das hat man mir schon mehrfach gesagt. Ich und meine große Klappe.«
»So war das nicht gemeint.«
»Ich weiß. Was hältst du davon, wenn wir nachher ein wenig im Mondlicht spazieren gehen?«
War das ein Witz? Die Überleitung kam so plötzlich, dass Jenny sie nur schwer ernst nehmen konnte. Das ist also seine Masche, dämmerte es ihr. Gleichzeitig war sie erstaunt, dass er einen derart romantischen Vorschlag machte. Er passte gar nicht zu ihm. Aber anscheinend fuhr er auf diesem Wege die meisten Erfolge ein.
»Na, du gehst aber ran.«
»Wieso? Das sind ganz ehrenvolle Absichten. Ich bin ein Gentleman durch und durch. Wäre so ein Spaziergang nicht ein wundervoller Abschluss eines wundervollen Tages?«
»Schon, aber ich bin bereits hundemüde.« Dies war in jeder Hinsicht eine Lüge. Jenny fühlte sich munterer denn je –woran der Firestarter sicherlich nicht ganz unschuldig war.
»Schade. Draußen gibt es noch so viel zu erleben. Das Rauschen der Wellen, der Glanz des Mondes. Mit etwas Glück sehen wir Sternschnuppen. Das willst du dir echt entgehen lassen?!«
Das Angebot klang wirklich reizvoll. Ganz gleich, wie oft Cody diese Sprüche wahrscheinlich schon vorgetragen hatte, sie funktionierten. Auch bei ihr traf er damit voll ins Schwarze. Trotzdem zögerte sie. »Nein, heute nicht. Ein anderes Mal vielleicht.«
»Gut, wie du willst.«
Von einem Atemzug zum nächsten rauschte die Temperatur in den Keller. Cody wirkte nicht nur enttäuscht, sondern schien regelrecht verärgert zu sein. Anscheinend kam es nicht so oft vor, dass ihm jemand einen Korb gab. Schon gar nicht ein sechzehnjähriges Mädchen, das neu in der Stadt war. Obendrein eines, das Single war.
Danach herrschte Schweigen. Cody drehte sich zur Tanzfläche um und Jenny war froh, als Sheldon und Claire wenig später zurückkamen. Jede Ablenkung war höchst willkommen.
»Na, bei euch alles klar?«, fragte Sheldon. Ohne ein Wort zu sagen, stand Cody auf und verschwand in der Menge.
»Uhhh … das scheint dem Guten ja richtig an die Nieren gegangen zu sein«, sagte Claire. »Sag bloß, du konntest seinem Charme widerstehen?«
»Ja, so könnte man es ausdrücken.«
»Das passiert nicht oft.« Sheldon nickte beeindruckt. »Normalerweise bekommt er, was er will.«
»Bei mir hat es eben nicht geklappt.«
»Mädchen, dafür bewundere ich dich«, sagte Sheldon und warf Betty am Nachbartisch einen viel sagenden Blick zu. »Es wundert mich, dass Sheryl und Norman noch nicht gegangen sind«, fuhr er fort. »Normalerweise verdrücken sie sich recht schnell, um noch ein wenig … Na du weißt, was ich meine.«
Wie auf Stichwort erhoben sich die beiden. Normans Hände strichen gierig über Sheryls Po. Anscheinend hatte es da jemand besonders eilig.
»Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben«, rief Sheldon hinterher. »Da gingen sie hin und waren nicht mehr gesehen.«
Norman tat so, als würde er sich mit dem Mittelfinger an der Nase kratzen. Dann schlang er seinen Arm um Sheryl und kämpfte sich durch die tanzende Menge. Jenny schaute ihnen nach und erblickte Cody wenige Yards neben dem Ausgang. Er unterhielt sich mit einem blonden Mädchen und strich ihr dabei mit dem Zeigefinger über die Brust.
»Der lässt nichts anbrennen.« Wut und Enttäuschung loderten in ihrem Inneren. Zwar nicht viel, aber dennoch genug, um sich schlecht zu fühlen. Im selben Moment stieg aber auch Erleichterung in ihr auf. Zum Glück war sie nicht auf seine Floskeln hereingefallen.
»Es werden immer weniger«, sagte Sheldon Jenny ins Ohr, als Cody wenig später mit der Blondine den Club verließ. Dann winkte er Betty und Marvin vom Nebentisch zu. »Was machen wir mit dem angebrochenen Abend?«
»Ich bin recht müde«, erwiderte Jenny schnell, weil sie befürchtete, die anderen könnten einen weiteren Vorschlag machen. »Ich denke es wird Zeit für mich, ins Bett zu gehen.«
»Sehe ich genauso. Lass uns zusammen ins Bett gehen.« Der Gag war so schlecht, dass er ihr gar keine andere Chance als zu schmunzeln ließ.
»Auch dieses vielversprechende Angebot muss ich leider ablehnen.«
»Mein Herz zerfließt vor Trauer.« Unterstreichend presste sich Sheldon die Hand gegen die Brust. Als wenig später auch Betty und Claire gähnten, gab er sich geschlagen. »Na gut, dann gehen wir eben. Heute ist hier sowieso nicht viel los.«
Keiner widersprach und Jenny war froh, als sie den Club verließen.
Bis zur nächsten Straßenkreuzung gingen sie gemeinsam. Abgesehen von ihnen war die Straße vollkommen leer. Nicht einmal Autos fuhren um diese Zeit noch, was in Boston ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, ganz gleich, wie spät es war. Wenigstens spendeten die Straßenlaternen gelbes Licht.
Direkt neben der Ampel blieb Sheldon stehen und nickte nach links. »Du wirst vermutlich dort entlang gehen. Dein Motel liegt ja nur noch einen Steinwurf entfernt. Wir müssen in die entgegengesetzte Richtung.«
»Sehen wir uns morgen am Strand?«, fragte Claire.
»Ja, gern. Warum nicht?«
»Fein. Dann gebe ich Sheryl Bescheid, dass sie dich morgen zur selben Zeit wie heute abholt. Sie wohnt nicht weit vom Motel entfernt.«
»Wunderbar. Danke, Claire. Bis morgen dann.«
Unterwegs zu ihrer Unterkunft ließ sie den Tag Revue passieren. Besonders die Zeit am Strand und die Sache mit Cody waren sehr prägend gewesen.
Ohne Zweifel, sie mochte die Clique. Jeden Einzelnen von ihnen. Wahrscheinlich sogar Cody, obwohl der durch seine letzte Aktion etliche Pluspunkte verspielt hatte. Nichtsdestotrotz spürte Jenny eine gewisse Distanz zwischen ihnen und ihr. Sie waren nicht gleich und würden es auch niemals sein. Dafür war die Clique einfach zu oberflächlich und kühl. Wie Monica Brian behandelt hatte, war ein sehr gutes Beispiel dafür. Die Leute in der Clique waren einfach nicht die Sorte von Menschen, denen man seine Gedanken, Gefühle und intimsten Geheimnisse anvertraute. Was sehr bedauerlich war.
Oberflächliche Freunde besaß sie daheim genug. Bloß diejenigen, die sich wirklich für sie und ihre Probleme interessierten, waren rar. Wieso eigentlich? Was war so schlimm daran, ganz für jemanden da zu sein und nicht nur in den guten Zeiten, um gemeinsam Spaß zu haben?
Aber wenigstens schafften es Sheryl, Claire und die anderen, sie jeden unschönen Gedanken in ihrem Kopf vergessen zu lassen. Zwar war Jenny nicht mit allem einverstanden, was die Gruppe tat, aber dennoch waren sie bedeutend besser, als sich hier allein zu langweilen. Darauf, die Zeit ausschließlich mit ihren Eltern zu verbringen, verspürte sie wenig Lust. Nein, in der Hinsicht kamen ihr die anderen sehr gelegen. Möglicherweise war mehr Spaß auch genau das, was Jenny brauchte. Nachdenken und einsam sein konnte sie in Boston noch genug.
Wie von Sheldon prophezeit, befand sich das Motel wirklich nur noch wenige Yards entfernt. Lächelnd schlich sie über den Parkplatz weiter zu ihrem Zimmer. Mittlerweile war sie wirklich hundemüde.