Читать книгу Momentaufnahme - Sören Prescher - Страница 5

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»Jetzt sind wir gleich da.« Vom Fahrersitz aus drehte sich Richard Bradfield lächelnd zur Rückbank um.

Jenny glaubte ihm kein Wort. Wie oft hatte Dad in der letzten Stunde prophezeit, dass es nicht mehr lang dauern würde? Die ersten Male war sie tatsächlich darauf reingefallen. Aber der einzige Grund, weshalb er die Geschwindigkeit reduzierte, waren schwer beladene Lastwagen vor ihnen, von denen es auf den Straßen hier unzählige gab.

Scheinbar ziellos kurvten sie durch die verschlafene Landschaft Neuenglands. Das Navi hatte längst den Dienst quittiert, was Jenny ihm nicht verdenken konnte. Noch immer fragte sie sich, was sie in einem Kaff namens Milton verloren hatte.

Es wäre definitiv besser gewesen, zu ihrem Onkel Howard nach Rhode Island zu fahren. Aber nein, sie hatte sich ja dazu überreden lassen, ihre Eltern zu begleiten. Als wenn sie mit ihren sechzehn Jahren nichts Anderes und Besseres zu tun hätte. Aber laut ihrem Dad sollte es ja ganz großartig werden.

Schon klar.

Dass das eine kolossale Lüge war, war ihr spätestens beim Anblick der kleinen Ortschaften klar geworden. Sie bestanden selten aus mehr als einer Handvoll Häuser, von denen die meisten ziemlich mitgenommen aussahen. Wahrscheinlich wussten die Menschen hier noch nicht einmal, was ein iPad war. Davon, wie man so was benutzte, ganz zu schweigen. Hier, am Ende der Welt, war alles möglich.

Im Autoradio sangen die Mamas und Papas von California Dreaming und Jenny hielt es für den schlechtesten Scherz überhaupt. Liebend gern hätte sie sich an einem kalifornischen Strand aufgehalten und sich die Sonne auf die Haut scheinen lassen. Aber bis auf die brütende Hitze hatten beide Orte nicht das Geringste gemeinsam.

Ihre Mom schien gegen derlei Gedanken komplett immun zu sein. Ihr Kopf wippte im Liedtakt.

Jugenderinnerungen konnten eigentlich nicht der Auslöser dafür sein, da das Lied einige Jährchen älter als sie sein müsste. Egal.

Das am Straßenrand vorbeisausende Ortsschild verriet, dass ihr Dad sich diesmal nicht geirrt hatte. Sie hatten Milton tatsächlich erreicht. War das eine Verbesserung oder Verschlechterung ihrer Lage? Jenny zog es vor, lieber nicht darüber nachzudenken.

Links erstreckten sich die ersten Häuser. Alles weiß getünchte Bauten, wie für ein Werbeplakat geschaffen. Kommen Sie nach Maine, wo die Welt noch in Ordnung ist.

Passend dazu bemerkte sie einen grauhaarigen Mann, der seinen Hund spazieren führte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war seine größte Sorge, was es heute Abend zu essen geben könnte.

»Siehst du, Jenny?« Dad schmunzelte sie durch den Rückspiegel an. »Dein alter Herr hatte doch Recht. In wenigen Minuten kannst du auf deinem Motelbett liegen und durch das Fenster den frischen Duft der Natur atmen.«

»Yippie.« Sie verkniff sich die freche Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Er hätte sie ohnehin nur in den falschen Hals bekommen.

»Richard, siehst du dort vorn den Mann und die Frau?« Mom zeigte auf ein älteres Ehepaar, das gemächlich über den Bürgersteig spazierte. »Bei ihnen kannst du dich nach dem Motel erkundigen.«

»Das brauch ich nicht. Wir finden es auch allein. So groß kann der Ort nicht sein.«

Zwanzig Minuten später saß Jenny noch immer auf dem Rücksitz des alten Plymouth und irrte zusammen mit dem Rest der Familie durch das Labyrinth von Miltons Straßen. Mittlerweile hatte selbst ihr Vater eingesehen, dass sie ihr Ziel ohne fremde Hilfe nicht finden würden. Den Mann und die Frau, die sie beim Erreichen des Ortes entdeckt hatten, hatten sie drei weitere Male gesehen und nun endlich überwand Dad seinen Stolz.

Jenny interessierte die Wegbeschreibung wenig. Auf der anderen Straßenseite erspähte sie einen Teenager mit dunkelbraunen Strubbelhaaren, schwarzem T-Shirt und einem alt aussehenden Buch in der Hand. Jenny kniff die Augen zusammen, schaffte es aber nicht, den Titel auf dem Umschlag zu lesen. Der Junge wirkte verträumt und hätte sie vermutlich nicht einmal bemerkt, wenn sie direkt vor ihm gestanden hätte. Trotzdem war er süß.

Mittlerweile hatte Dad das Gespräch beendet und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Jenny widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße vor ihr. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Eltern das Motel ein weiteres Mal übersahen.

Momentaufnahme

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