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1. Rousseau und die Folgen

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Nach einer einflußreichen neueren Deutung muß der moderne Fundamentalismus als Ergebnis einer Verschmelzung heterodoxer religiöser Traditionen mit dem Jakobinismus angesehen werden, dessen Kern im „Glauben in den Primat der Politik und die Fähigkeit der Politik, Gesellschaft zu rekonstituieren“, bestehe (Eisenstadt 1998, 67). Das ist eine bestreitbare These. Das Wesensmerkmal des Jakobinismus – der Glaube an die Allmacht der Politik – ist kein Wesensmerkmal des Fundamentalismus, nicht des modernen, der sich an Moral, Kunst oder Erotik orientiert, nicht des religiösen, von dem zu Recht gesagt wird: „Der politische Aktivismus ist oftmals nur ein vorübergehender Zug, den fundamentalistische Bewegungen unter gewissen Zeitumständen annehmen, aber auch wieder ablegen können“ (Riesebrodt 2000, 55). Umgekehrt ist das gemeinsame Merkmal aller Fundamentalismen – die Welt- bzw. Zeitablehnung – kein Wesensmerkmal des Jakobinismus. In dem Katalog der Präferenzen, die man ihm zugeschrieben hat – von der Unteilbarkeit der nationalen Souveränität über die Zentralisierung von Staat und Gesellschaft bis zur Idee der Erneuerung des Menschen durch die republikanische Schule (Furet/Ozouf 1996, 1171) –, sucht man vergeblich danach, und dies nicht von ungefähr. Robespierre, der wie kein anderer den Geist des Jakobinismus repräsentiert, ist tief durchdrungen vom Glauben an den Fortschritt der Menschheit, nicht nur auf physischem, sondern auch auf moralischem Gebiet. Die Jakobiner mögen an die Allmacht der Politik, an das Charisma der Vernunft und an die Verwirklichung der Tugend geglaubt haben; Fundamentalisten waren sie deshalb noch lange nicht.

Damit ist jedoch nicht gesagt, daß der Fundamentalismus keine Rolle in der Französischen Revolution gespielt hätte. Zeiten beschleunigten sozialen und politischen Wandels pflegen Polarisierungen zu fördern, so daß neben einem Extremismus des Fortschritts stets auch mit dessen Gegenteil zu rechnen ist. Der Name, der sich hierfür sofort aufdrängt, ist Rousseau, dessen Werk zwar auf alle Richtungen der Revolution gewirkt hat (und damit auch auf die Jakobiner), dessen fundamentalistische Grundintention gleichwohl nur von wenigen aufgenommen und bis in die letzten Konsequenzen geführt worden ist. Rousseau war vielleicht nicht, wie Nietzsche gemeint hat, der erste moderne Mensch (KSA 6, 150). Gewiß aber war er der erste Moderne, der die Menschheit anstatt in einem allgemeinen Fortschritt zum Besseren in einer zunehmenden Denaturierung und Dekadenz begriffen sah. Er war der erste Diagnostiker einer genuin modernen Krise, die geradewegs auf die Revolution zusteuerte. Und er war schließlich auch der erste, der das Heil nicht mehr von der Religion, sondern von Moral und Politik erwartete. Gründe genug, um ihm im Pantheon des modernen Fundamentalismus einen zentralen Platz zuzuweisen.

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