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I.

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Um die Eigenart von Rousseaus Fundamentalismus zu verstehen, muß man sich zunächst klarmachen, inwiefern es sich nicht um einen religiösen Fundamentalismus handelt. Ein solcher ist nicht von vornherein auszuschließen, hat Rousseau doch den Boden der positiven Religion nie völlig verlassen. Er glaubt an den Schöpfergott der jüdisch-christlichen Tradition, an das Evangelium Christi, an die Pflicht, die Religion des Landes zu bekennen und zu lieben7. Der savoyische Vikar, so skeptisch hinsichtlich der einzelnen Dogmen, weiß doch zumindest um die Ordnungsfunktion der Offenbarungsreligionen und der auf sie gegründeten Kirchen: Jemanden dazu zu überreden, seine Religion zu verlassen, meint er, „heißt, ihn dazu zu überreden, Böses zu tun und folglich selbst Böses zu tun“ (Emile 330/629). Nicht ohne Grund bezeichnet Troeltsch Rousseau als „eine wirklich religiöse Natur“, als „die am meisten religiöse Persönlichkeit“ unter allen Deisten (Troeltsch 1925, 482).

Nichtsdestoweniger sehen wir Rousseau nirgends bei jener Aktivität, die für den religiösen Fundamentalismus essentiell ist: der Reaktivierung und Mobilisierung der religiösen Tradition. Seine ganze Anstrengung richtet sich vielmehr darauf, diese Tradition zu entwerten, sie als religiöse Quelle zu entkräften (Cassirer 1991, 46). Rousseau verwirft die Offenbarungen, weil in ihnen Gottes Wort durch die Stimme des Menschen verfälscht werde. Er bezweifelt die Autorität der Propheten und der Kirchenväter, attackiert das Interpretationsmonopol der Theologen und die Überzeugungskraft der heiligen Texte (DI 389). Dem Literalismus, der überall eine Wurzel des religiösen Fundamentalismus ist, erteilt er eine Absage, wie sie schroffer nicht sein könnte: „Immer Bücher! Welch eine Manie! Weil Europa voll Bücher ist, betrachten die Europäer sie als unentbehrlich, ohne zu bedenken, daß man auf drei Vierteln der Erde niemals ein Buch gesehen hat. Sind nicht alle Bücher von Menschen geschrieben worden? Wozu braucht sie also der Mensch, um seine Pflichten kennenzulernen?“ (Emile 322/620)

Rousseau verwirft indes nicht nur die Tradition, an der eine Revitalisierung der Religion anzusetzen hätte. Er versperrt zugleich den Weg in die Weltablehnung, der zwar nicht die großen Kulturreligionen schlechthin charakterisiert, wohl aber ihre fundamentalistischen Umdeutungen. Rousseau übernimmt weder die gnostische Negativierung des Kosmos noch die patristische Modifikation derselben, nach der die Welt nicht an sich, sondern nur durch den Sündenfall böse sei. Er schließt sich statt dessen der spezifisch neuzeitlichen ontologischen Theodizee an, nach der Gott ebenso wie die von ihm geschaffene Welt gut ist (Kondylis 1979, 120 ff.). Kein böser Demiurg hat die Welt als ein von Grund auf miserables, vernichtungswürdiges Werk geschaffen; keine Erbsünde hat sie bis zum Jüngsten Gericht befleckt. Vielmehr: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen“ (Emile 9/245).

Rousseaus Insistenz auf der ursprünglichen Güte der Natur und des Menschen verbietet es, ihn in eine direkte Kontinuität mit dem religiösen Radikalismus zu stellen, wie dies Eric Voegelins Auffassung vom gnostischen Charakter der Aufklärung entspricht (Voegelin 1959, 10). Für ihn ist die Welt kein gottfernes Zwangssystem, Gefängnis oder Labyrinth, aus dem es zu entfliehen gilt. Sie ist ganz im Gegenteil ein Spiegelbild des Schöpfers, dessen Bonität sowohl für den Anfangszustand verbürgt ist, in dem die Menschen noch den Tieren nahe sind, als auch für einen großen Teil der folgenden Geschichte. Im Streit mit Voltaire über das Erdbeben von Lissabon hat Rousseau sich denn auch folgerichtig auf die Seite von Leibniz und Pope gestellt und Voltaires negative Verbindung von Gott und Natur zurückgewiesen (Brief an Herrn von Voltaire: Rousseau 1978, Bd. I, 315 ff./1059 ff.).

Die fehlende Weltablehnung, an der ein religiöser Fundamentalismus ankristallisieren könnte, wird durch eine um so vehementere Zeitablehnung kompensiert, die sich auf beinahe sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen erstreckt. Schon der Erste Diskurs greift das Selbstverständnis der Epoche frontal an, indem er bezweifelt, daß der Fortschritt der Wissenschaften die Tugend gefördert habe. Die folgenden Schriften relativieren diesen Vorwurf, erweitern aber die Anklage eher, indem sie nun auch andere Faktoren für die allgemeine Verderbtheit verantwortlich machen: das Privateigentum und die Arbeitsteilung, den Handel und die Entdeckungsfahrten, das Bevölkerungswachstum und die großen Städte; das Bedürfnis, mehr zu haben, als man zum Leben braucht; das Streben nach Ungleichheit, nach Reichtum, nach Macht. Rousseau macht seiner Zeit den Prozeß; und sein Urteil fällt so vernichtend aus, daß er nicht wenigen Zeitgenossen als ein moderner Anachoret erscheint, als ein politischer Sonderling, „der die Sekte des Diogenes nach zwei Jahrtausenden wieder zum Leben erweckt“8.

In seiner Verwerfung der Gegenwart stützt sich Rousseau auf verschiedene Gründe. Im Ersten Diskurs orientiert er sich an der Idee einer wahren, von der vertu durchdrungenen Kultur, in der die Handlungen des Menschen nicht zu eigengesetzlichen Sphären verdichtet, sondern Ausdruck seines Inneren, seines authentischen Selbst sind. Der Kern des ‚Rousseauismus‘ wird genau hier liegen: im Appell an die Ganzheit, im Wunsch, „die Trennungen des Subjekts von den gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierungen weitestgehend rückgängig zu machen, dem ‚homme‘ des gesellschaftlichen Zustands seine größtmögliche Authentizität und Unmittelbarkeit wiederherzustellen“ (Link-Heer 1986, 147). Im Zweiten Diskurs fungiert als Maßstab zunächst die Fiktion eines reinen Naturzustands, in dem die Menschen isoliert, ohne Sprache, ohne Familie, ohne Sozialverbände leben und eben deshalb gut sind; später das Konzept eines modifizierten, durch diverse ‚Revolutionen‘ veränderten Naturzustands, der durch eine die natürliche Unabhängigkeit nicht tangierende, ergo: gute Vergesellschaftung bestimmt ist (DI 301, 195). Von dieser Epoche, die durch Seßhaftigkeit, Sprache, Familien- und Nationsbildung, Differenzierung der Geschlechter und Vorformen des Eigentums geprägt ist, heißt es ausdrücklich, sie sei die glücklichste und dauerhafteste gewesen, da sie die rechte Mitte zwischen der Indolenz des Anfangszustands und der Entfesselung der Eigenliebe gehalten habe:

„Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr findet man, daß dieser Zustand der am wenigsten den Revolutionen ausgesetzte, der beste für den Menschen war und daß der Mensch nur aufgrund irgendeines unheilvollen Zufalls aus ihm herausgetreten sein muß, der sich zum allgemeinen Nutzen niemals hätte ereignen sollen. Das Beispiel der Wilden – die man beinahe alle an diesem Punkt angetroffen hat – scheint zu bestätigen, daß das Menschengeschlecht dazu geschaffen war, für immer in ihm zu verbleiben; daß dieser Zustand die wahrhafte Jugend der Welt ist; und daß alle späteren Fortschritte dem Scheine nach ebenso viele Schritte hin zur Vollendung des Individuums und in Wirklichkeit zum Verfall der Art gewesen sind“ (DI 193 f.).

Um angesichts dieses, in seinen Augen unumkehrbaren Verfalls der ‚guten Vergesellschaftung‘ noch über eine Einspruchsinstanz zu verfügen, rekurriert Rousseau nach dem Zweiten Diskurs zunehmend auf eine Eigenschaft des Individuums – eine Eigenschaft, die zwar auch dem historischen Wandel, insbesondere der Entwicklung der Einbildungskraft und des Verstandes, unterworfen sein, darüber hinaus aber über ein transhistorisches, in der anthropologischen Grundausstattung verankertes Fundament verfügen soll: das Gewissen. Rousseau übernimmt es aus der christlichen Tradition, wandelt es jedoch gründlich um. Es ist nicht mehr, wie bei den Gnostikern, der göttliche Funken, der den mit ihm Begabten den Ausweg aus dem Gefängnis der Welt eröffnet, nicht mehr, wie bei den kirchlichen Theologen, die Stimme eines jenseitigen Gottes als einer im nachhinein verurteilenden wie Gnade gewährenden Instanz; vielmehr ist es ein dem Menschen angeborenes Gefühl, eine spontane Fähigkeit, Handlungen im vorhinein, ohne Blick auf göttliche Belohnungen oder Strafen, als gut oder böse zu beurteilen, ein Mechanismus der Selbstüberwindung, der aus eigener Kraft das Opfer vollbringt und dafür schon im Diesseits ein Stück der ewigen Seligkeit empfängt: das gute Gewissen (Kittsteiner 1991, 277). Gott ist aus einer außerweltlichen zu einer innerweltlichen Größe geworden, zu einem Teil des Menschen, der sich sichtend und richtend auf seine übrigen Teile bezieht. Er hat damit selbst seine älteren Hierophanien in schwer verständlichen und mehrdeutigen Texten überflüssig gemacht und spricht nunmehr unmittelbar durch den guten Willen: Alle diejenigen, die an Gott glauben, so Rousseau in einem Brief aus dem Jahr 1769,

„meinen um des Heils willen, darauf mit einem Glaubenssatz antworten zu müssen, und sie antworten mit der Offenbarung. Ich, der ich an Gott glaube, ohne diesen Glauben für notwendig zu halten, sehe nicht, warum Gott ihn uns hätte geben müssen. Ich glaube, daß ein jeder einst gerichtet wird, nicht nach seinem Glauben, sondern nach seinen Taten, und ich glaube nicht, daß es zu Werken eines Lehrgebäudes bedarf, da es an seiner Statt das Gewissen gibt9.

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