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III.

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Es liegt auf der Hand, daß ein solches Verständnis von Erlösung der Verwirklichung des Gesellschaftsvertrags kaum zu überwindende Hindernisse in den Weg legt. Die Bürger, die ihn schließen sollen, müssen in möglichst identischen Verhältnissen leben, um nicht in wechselseitige Abhängigkeit zu geraten; sie müssen über größtmögliche Autarkie verfügen, denn nur, wenn sie sich selbst mit ausreichenden Subsistenzmitteln versorgen können, besteht die Gewähr dafür, daß sie frei sind. Lohnarbeit, komplexere Technologien und Luxusproduktion sind damit ausgeschlossen, ebenso Handel, Wucher, Profitstreben: „Aber gebt nur Geld her und man wird euch bald mit Ketten lohnen. Das Wort Finanzen ist ein Sklavenwort und in einem wirklichen Gemeinwesen unbekannt. In einem wahrhaft freien Land tun die Bürger alles mit ihren Armen und nichts mit dem Geld; weit entfernt, sich von ihren Pflichten freizumachen, würden sie noch dafür bezahlen, sie persönlich zu erfüllen“ (CS 106/429).

Eine weitere Voraussetzung scheint schließlich in einen ausweglosen Zirkel zu führen. Damit die Individuen sich zu der vom Contrat Social projektierten Gesellschaft zusammenschließen, ist verlangt, daß sie nicht durch eine lange Sklaverei, durch Luxus und Laster korrumpiert sind. Sie müssen, um die Vorteile des Zusammenschlusses überhaupt erkennen zu können, schon vorher über die erforderliche Vaterlandsliebe und den nötigen esprit social verfügen, um ihr Privatinteresse hintan zu stellen und sich vorbehaltlos dem Ganzen auszuliefern, was aber voraussetzte, daß die Wirkung zur Ursache würde, „daß der gesellschaftliche Geist, der das Werk der Verfassung sein soll, selbst den Vorsitz in der Verfassung führen sollte, und daß die Menschen schon vor dem Bestehen der Gesetze das wären, was sie erst durch dieselben werden sollen“ (CS 48/383). Allein ein solches Volk ist nach Rousseau zur Annahme von Gesetzen fähig, das durch Einheit des Ursprungs, der Interessen oder der Übereinkunft verbunden ist, ein Volk, das noch nicht das Joch der Gesetze getragen hat, nicht von Gewohnheiten und Aberglauben beherrscht wird, von seinen Nachbarn nichts zu befürchten hat und sich selbst zu genügen vermag; ein Volk schließlich, in dem jeder jedem bekannt ist und niemand eine schwerere Last zu tragen hat, als er vermag. Alle diese Bedingungen, bemerkt Rousseau, fänden sich selten beieinander, weshalb auch so wenige Staaten eine gute Verfassung hätten (CS 57 f./390 f.). Müssen wir angesichts solcher Bedingungen den Contrat Social nicht als eine chimère de spéculation ansehen, als eine leere Vorstellung, der keine geschichtliche Realisierungsmöglichkeit entspricht, weil sie das, was sie voraussetzt, immer erst selbst zu erbringen hat?

Rousseaus Haltung in dieser Frage ist ambivalent. Auf der einen Seite ist er Realist genug, um einzusehen, daß in entwickelten Großstaaten wie Frankreich die Chancen für eine Verwirklichung des Gesellschaftsvertrags nicht mehr gegeben sind und auch durch politische Eingriffe nicht wiederhergestellt werden können. Die menschliche Natur, schreibt er in einer späten Verteidigungsschrift, gehe nicht wieder zurück und niemals kehre man in die Zeiten der Unschuld und Gleichheit heim, wenn man sich einmal von ihnen entfernt habe. Es sei daher nie seine Absicht gewesen, zahlreiche Völker und große Staaten zu ihrer ursprünglichen Einfalt zurückzuführen, sondern lediglich, den Fortschritt derer aufzuhalten, deren Kleinheit und Lage dies noch ermögliche (Rousseau 1978, Bd. II, 569 f.). ‚Konservativ‘ ist dies nur dann, wenn man diesen Begriff in einem rein formalen Sinne versteht. Auf jeden Fall ist es eine Barriere gegen fundamentalistische Intentionen, da es darauf verzichtet, das Gestaltungspotential der Moral gegen den Status quo zu mobilisieren.

Auf der anderen Seite hält Rousseau unter bestimmten Bedingungen den Gesellschaftsvertrag doch für möglich. In Frage dafür kommen einmal die erwähnten Gemeinwesen, die über die erforderlichen Bedingungen der Kleinheit und der Lage verfügen – die Bauern des Wallis, die montagnons in der Nähe von Neuchâtel, Städte wie Genf oder eine Insel wie Korsika, das Rousseau schon im Contrat Social als das einzige Land in Europa bezeichnet, das noch einer guten Gesetzgebung fähig sei (CS 58/391). Für die Korsen, die ‚noch fast im Naturzustand leben und gesund sind‘, schreibt er 1765, aufgefordert von korsischen Patrioten, das Projet de la Constitution pour la Corse, in dem er die Grundideen des Gesellschaftsvertrags zum Verfassungsmodell einer agrarischen Demokratie konkretisiert, das alle negativen Tendenzen der Moderne eliminiert: Großgrundbesitz, Handel, Luxus, Konkurrenz, Mobilität, Herrschaft der Stadt über das Land (Rousseau 1981, 509 ff./901 ff.).

Im Unterschied zu diesen Beispielen bezieht sich Rousseaus Schrift über die Regierung Polens auf ein Land, das bereits sehr weit von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit entfernt ist. Es handelt sich um einen großen Flächenstaat mit starker Polarisierung zwischen arm und reich, ausgeprägten Herrschaftsbeziehungen bis hin zur Leibeigenschaft sowie einer Anarchie, wie sie für das Auflösungsstadium des Naturzustands charakteristisch ist. Rousseaus Empfehlungen kommt deshalb eine Bedeutung zu, die weit über seine sonstigen, eher ‚katechontischen‘ Ratschläge hinausgeht. Der polnische Staat soll in seinem Umfang erheblich reduziert und in eine Föderation kleinerer Staaten verwandelt werden. Das ökonomische System soll auf den Primat der Landwirtschaft ausgerichtet und so organisiert werden, daß möglichst wenig Geld gebraucht wird. Die Verwaltung soll vereinfacht werden, indem man die Beamtenbesoldung auf Naturaldeputate umstellt, die nötigen Infrastrukturmaßnahmen über Frondienste abwickelt und die staatlichen Geldleistungen minimiert. In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, das stehende Heer abzuschaffen und die Verteidigungsaufgaben einer Miliz zu übertragen.

Um die soziale Kohäsion zu sichern, soll der Abbau der Organisationen durch einen Ausbau des Erziehungswesens und eine Aktivierung des Patriotismus kompensiert werden. Rousseau propagiert eine Pädagogik, die ihre Objekte in permanenter Bewegung hält; eine ebenso permanente Mobilmachung der Bürger für die Sache des Vaterlandes in öffentlichen Festen, Kulten und Zeremonien; die rigorose Verbannung aller Zerstreuungen; die Etablierung gesellschaftlich verbindlicher Formen der Ächtung; und die Einschwörung der Bürger auf jene religion civile, für deren Verletzung schon der Contrat Social die drakonischsten Strafen vorsieht (CS 156/468). Und wie auch anders: Wenn der allgemeinste Wille immer der gerechteste und die Stimme des Volkes die Stimme Gottes ist (EP 232/246), kann, wer ihr nicht folgt, nur ein Teufel sein. Und gegen Teufel ist das härteste Mittel gerade recht.

Der moralische Fundamentalismus, das zeigen Rousseaus Vorschläge überaus deutlich, zielt nicht auf die Fundamente der schlechten Vergesellschaftung. Es gehe nicht darum, heißt es in der Korsika-Schrift, das Privateigentum völlig aufzuheben, sondern nur darum, es zu bändigen und dem öffentlichen Wohl unterzuordnen (Rousseau 1981, 541/931). Ebensowenig, präzisiert die Polen-Schrift, sei geplant, die Geldzirkulation zu unterdrücken; sie solle nur verlangsamt und von den polarisierenden Wirkungen auf die Sozialstruktur abgekoppelt werden (ebd., 621/1007 f.). Das Mittel für diese Zähmung der Wirtschaft ist die Hypertrophie der Moral: die öffentliche Belobigung der Gutmenschen durch Zensur- und Wohltätigkeitsausschüsse, die zu permanenter Buchführung über ihre Untertanen aufgefordert werden, die Manipulation der Meinungen, die – zwar nicht explizit geforderte, aber implizit in Kauf genommene – Diskreditierung derjenigen, die es an Einsatz fehlen lassen (ebd., 638/1025). Hobbes hatte sich noch damit begnügt, lediglich die Handlungen der Menschen durch den Leviathan kontrollieren zu lassen. Rousseau dagegen weiß, daß ein moralischer Staat auch auf das Innere Zugriff nehmen muß:

„Wenn es gut ist, zu wissen, wie man sich der Menschen, so wie sie sind, bedienen soll, so ist es noch weit besser, sie so zu bilden, wie man sie nötig hat. Die uneingeschränkteste gesetzmäßige Macht ist diejenige, welche bis in das Innerste des Menschen dringt und nicht weniger auf den Willen als auf die Handlungen einwirkt. Es ist gewiß, daß die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht“ (EP 237 f./251).

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