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II.

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Die Linie, auf der sich die Metamorphose des Fundamentalismus vollzieht, ist klar zu erkennen. Anstelle der alten religiös motivierten Weltablehnung tritt eine Kampfansage an die Gegenwart, die sich teils am reinen Naturzustand, teils an dessen Rudimenten orientiert; anstelle der buchstäblich interpretierten Offenbarung das Gewissen; anstelle der Kommunikation mit einem transzendenten Gott die ‚moralische Instrumentalisierung Gottes‘, die diesen zum Stifter einer rein innerweltlichen, von allen gut gesinnten, der Stimme ihres Herzens folgenden Laien zu verstehenden Moral erhebt (Kondylis 1986, 371). Zwar ließe sich argumentieren, daß Rousseau auch die Moral zu den entarteten Formen der Gesellschaftlichkeit rechnet, insofern er die Verteilung von Achtung und Mißachtung als ‚ersten Schritt hin zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster‘ identifiziert (DI 189). Doch erfolgt dieser Angriff auf einen Moralcode im Namen einer ebenfalls moralischen Codierung, die um die Unterscheidung von gut/schlecht bzw. gut/böse kreist. Die öffentliche Wertschätzung wird als böse perzipiert, weil sie den Menschen von anderen Personen, deren Meinungen, Absichten und Gefühlen abhängig macht; wodurch sie ihm das nimmt, was seine Stärke und Güte ausmacht: seine Unabhängigkeit (Meier, in: Rousseau 1993, LXV). Die Kritik an der Moral bleibt damit eine innermoralische, immanente Kritik, die den Code gut/böse gegen den Code Achtung/Mißachtung ausspielt.

Fundamentalistisch wird diese Position in dem Augenblick, in dem sich der Appell an den guten Willen mit dem Versprechen verbindet, das Böse, die Quelle allen Unheils, aus der Welt zu schaffen. Der erste Schritt hierzu wird getan, wenn ein ‚höherer Geist‘, der Gesetzgeber, die Aufgabe übernimmt, „gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum, das für sich ein vollendetes und einzeln bestehendes Ganzes ist, zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält; die Beschaffenheit des Menschen zu seiner eigenen Kräftigung zu verändern und an die Stelle des leiblichen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur empfangen haben, ein nur teilweises und geistiges Dasein (une existence partielle et morale) zu setzen“ (CS 46/381).

Die Überwindung des entarteten Naturzustands ist möglich, so Rousseaus Botschaft, wenn die durch die gleiche Entwicklung gesteigerte Vernunft sich in einem herausragenden Individuum inkarniert, das dann alle übrigen dazu zwingt, „ihren Willen der Vernunft anzupassen“ (CS 44/380). Ist eine solche Anpassung einmal erfolgt, haben sich die Menschen ihrer Sonderinteressen begeben und ganz auf das Allgemeine ausgerichtet, so kann der Gesellschaftsvertrag geschlossen werden – ein Vertrag, bei dem sich die Individuen so, wie sie sind, ohne jeden Vorbehalt, restlos der Gesamtheit überantworten, um dafür im Gegenzug von dieser als untrennbare Momente des Ganzen aufgenommen zu werden. Durch diesen Vertrag tritt an die Stelle der einzelnen Personen ein geistiger Gesamtkörper (un corps moral et collectif), der über ein gemeinsames Ich (moi commun) verfügt (CS 19/361).

Gewiß: die hier anvisierte Verschmelzung ist nicht vollkommen. Als moralisch-körperliche Doppelwesen können die Menschen nur ihre moralische, nicht aber ihre physische Vereinzelung aufheben, woraus sich eine unvermeidliche Spaltung ergibt: als citoyens sind die einzelnen Glieder des Kollektivsubjekts, als sujets dagegen isolierte Untertanen. Unbedingten Vorrang aber genießt in dieser Konstellation zweifellos das moi commun, ist doch nur sein Wille der allgemeine Wille, dem gegenüber dem Willen der einzelnen wie auch gegenüber der volonté de tous allein Wahrheit zukommt (CS 32/371). In ihm finden die Menschen in dieser Welt, was die religiöse Tradition nur jenseits derselben für möglich hielt: Absolutheit, Unfehlbarkeit, Unzerstörbarkeit. So endet, was als humane Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus begonnen hatte, mit einem erneuten Erlösungsversprechen, das nun ganz innerweltlich formuliert ist:

„Wenn die bisherige Zwangsform der Gesellschaft fällt, und an ihre Stelle die freie Form politisch-ethischer Gemeinschaft tritt – eine Form, in der jeder, statt der Willkür anderer unterworfen zu sein, nur dem allgemeinen Willen, den er als seinen eigenen erkennt und anerkennt, gehorcht – dann ist die Stunde der Erlösung gekommen. Aber vergeblich wird diese Erlösung durch äußere Hilfe erhofft. Kein Gott kann sie uns bringen; sondern der Mensch muß zu seinem eigenen Retter und im ethischen Sinne zu seinem Schöpfer werden. Die Gesellschaft hat in ihrer bisherigen Form der Menschheit die tiefsten Wunden geschlagen; aber sie allein ist es auch, die diese Wunden heilen kann und heilen soll“ (Cassirer 1989, 39).

Aus Cassirers Beschreibung geht klar hervor, daß der anvisierte Erlösungsweg derjenige der Selbsterlösung ist. Das läßt sich jedoch noch weiter eingrenzen. Von den verschiedenen Pfaden, in die sich dieser Weg gabelt, scheidet derjenige des Ritualismus aus, da die für Rousseau charakteristische Hinwendung zur moralischen Empfindsamkeit stets mit einer Abwendung vom Ritual einherzugehen pflegt (Douglas 1981, 37). Wegen der für den Deismus typischen Zurückweisung des göttlichen Voluntarismus, die sich bei Rousseau wie bei einigen anderen Deisten bis zu einer Neutralisierung Gottes zuspitzt (Kondylis 1986, 371 f.), kann man auch die beiden Heilswege der Askese und der Kontemplation ausschließen, die die Annahme eines allmächtigen, überweltlichen Gottes zur Voraussetzung haben. Asketische Züge im weiteren Sinne des Wortes, wie sie sich etwa im Konzept einer ‚natürlichen Askese‘ finden (Plake 1991, 14 ff.), sind damit freilich ebensowenig geleugnet wie mystische Elemente: erinnert sei hier nur an das von Rousseau mehrfach beschriebene Erleuchtungserlebnis von Vincennes im Jahre 1749, aus dem die beiden Diskurse und der Emile hervorgegangen sind (Ritter, in: Rousseau 1978, Bd. I, 7 ff.).

Es bleiben die Erlösung durch soziale Leistungen und durch Selbstvervollkommnung/Selbstvergottung. Für das erstere spricht das große Gewicht, das Rousseau der Brüderlichkeit zumißt, die er im Brief an Beaumont aus dem Christentum ableitet (ebd., 536), gleichwohl ganz unchristlich versteht, indem er sie von der Erbsünde und der Willkür der Gnade abkoppelt. Bei näherer Betrachtung aber wird deutlich, daß die sozialen Leistungen keinen Eigenwert haben, vielmehr eine Art offshoot der Selbstvervollkommnung darstellen, um die Rousseaus eigentliches Interesse kreist. Gewiß: sich in ein être moral zu verwandeln heißt aufzuhören, ein être absolu zu sein. Es heißt aber zugleich, dem göttlichen Instinkt zu folgen, der sich im moralischen Gewissen artikuliert und darauf drängt, alles Äußere, Mittelbare aufzuheben und in ein neues, größeres Selbst einzuschmelzen: das moi commun. Wenn dieses so eingerichtet ist, daß es den Kriterien der vollständigen Transparenz und der absoluten Genügsamkeit entspricht, haben wir es mit einer „Vorwegnahme des Reiches Gottes“ zu tun, wie sie Rousseau am Beispiel von Clarens in der Nouvelle Heloise geschildert hat (Starobinski 1988, 168). Im Prinzip kann dieses Ziel aber auch von einem einzelnen erreicht werden, der die vollkommene Ruhe der Genügsamkeit gewonnen hat. In der fünften ‚Träumerei eines einsamen Spaziergängers‘, die der Erinnerung an seinen Aufenthalt 1765 auf der Insel St. Peter im Bieler See gewidmet ist, beschwört Rousseau jene Augenblicke, da er im Kahn liegend oder am Ufer sitzend auf den See blickte:

„Und was genießt man in einer solchen Lage? Nichts, das außer uns selbst wäre, nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein, und solange dieser Zustand währt, ist man, wie Gott, sich selbst genug“ (Rousseau 1978, Bd. II, 699).

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