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8. Köln, Wallraf-Richartz-Museum. Samstag, 29.11.2003
ОглавлениеPunkt Viertel nach fünf durchblätterte Zett seine Brieftasche unter dem amüsierten Blick des Museumswärters, der offenbar entschlossen war, Zett nicht zu kennen, obwohl er ihn nun wirklich oft genug gesehen hatte. Dass er am Ende ohne Ticket eingelassen wurde, war trotzdem nicht verwunderlich – zu seiner Legende gehörte auch die Mitgliedschaft im Verein der Freunde und Förderer des Museums samt Jahresausweis. Das Wunder bestand vielmehr in Zetts rechtzeitiger Ankunft.
Zuerst hatte am venezianischen Flughafen Marco Polo eine zweistündige Sicherheitsübung den Start verzögert, bis sich die Passagiere schon am Bootsanleger stauten. Dann waren Zett und Sanne in die Propellermaschine von Air Dolomiti geklettert, wo ein Defekt im Cockpit für weitere dreißig Minuten Verspätung sorgte. Susanne hatte zwischendurch ein nur halb scherzhaftes Stoßgebet zu den „total süßen“ lila Cherubim gesandt, die Zett ihr im Ursulazyklus der Accademia gezeigt hatte. Nun banden sich, kaum in der Luft, die Stewardessen Schürzen um, bevor sie Snacks servierten – was aber keine Minute wettmachte. Hoffnung schöpften sie erst wieder in München. Lufthansa, für die Air Dolomiti die Strecke bediente, wartete an der Gangway mit einem Kleinbus und den Namensschildern aller Passagiere, die innerdeutschen Anschluss brauchten. Es dauerte zwar noch, bis ihre Koffer umgeladen waren, aber dann sausten sie über das Rollfeld zuerst zu einem Flieger Richtung Münster und dann sofort weiter zu ihrer Maschine nach Köln.
„Bitte!“, hatte Susanne gesagt, diesmal eindeutig scherzhaft, „Geht doch!“
Nach der Landung nötigten die Umstände Zett zu einer drastischen Entscheidung. Als das Gepäckband sich um zehn nach vier immer noch leer drehte – um sechs schlossen die Museen – drückte er Susanne seinen Wohnungsschlüssel in die Hand und spurtete zu den Taxis, gerade mal, dass er noch über die Schulter rief: „Die Adresse steht auf meinem Koffer!“ Während er nun die Treppe stürmte und an mittelalterlichen Bildern vorbei den Saal mit der übereck gezogenen Fensterfront erreichte, der eigens für den Ursulazyklus entworfen war, rechtfertigte er gebetsmühlenhaft seinen Leichtsinn: Wären die Koffer zügig aus dem Schacht gerollt, hätte er Susanne trotzdem in seine Wohnung lassen müssen. Und zwar allein. Er konnte sie ja schlecht im nächstbesten Café absetzen mit der Bitte, schön aufs gemeinsame Gepäck achtzugeben, während er seinen Termin wahrnahm. Hatte er aufgeräumt vor seiner Abreise? Lag irgendwo noch eine Waffe? Würde sie im Kleiderschrank das Schulterholster finden, das beim besten Willen nicht mehr in den proppenvollen Wandsafe passte?
Aber was halfen die Beschwörungen – Bucholtz hatte gefaxt: „unverzüglich“! Was zumindest hieß, dass man sich treffen sollte, bevor das Museum schloss.
Und was konnte Susanne allein in Zetts Wohnung schon schlimmstenfalls anrichten? Kramte sie überhaupt in fremden Schubladen? Und wenn schon! Die Damen Smith & Wesson, SIG Sauer und Makarow sowie alle heiklen Papiere lagen im Safe.
Wirklich?
Bestimmt!
Ganz sicher?
Und Cloerkes meinte süffisant: „Null Risiko bringt null Performance.“
Fünfzehn dichtgehängte Bilder an der Wand, alle in etwa gleich hoch, dafür unterschiedlich breit, älter als Carpaccios Bilder, niemandem verlässlich zugeschrieben und im Vergleich zum venezianischen Zyklus armselig – Zett kannte sie in- und auswendig, hatte er doch den Anstand besessen, wenn schon einen gefälschten Doktor zu machen, sich wenigstens das Thema der Dissertation gründlich anzuschauen. Dort hingen Sargdeckel. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die bemalten Deckel jener Kisten, in denen die Gebeine der elftausend Jungfrauen ineinander gepuzzelt worden waren – Wirbel ins hohle Schädelchen, Fersenknochen in die Augenhöhle, Schädel in die Mulde des Beckenknochens, Elle, Wade, Oberschenkelknochen, Speiche hübsch nebeneinander wie ein Satz unterschiedlich abgenutzter Buntstifte – lauter Knöchelchen, die von geschäftstüchtigen Bischöfen aus Kölner Friedhofserde gescharrt und ausgekocht worden waren, um das Gebein vom Fleisch zu erlösen.
Der kleine Kölner Ursulazyklus predigte: Klappt diese Deckel auf und was ihr findet, das sind namenlose Knochen. Eine banale Geschichte, platt erzählt, Schautafeln eines Moritatensängers ohne Intonation und Zeigestock. Das leierte in einem fort. Das verdarb die beste Laune, die aufkommen wollte, sobald man im Saal eintraf und merkte: Man war allein. Vor dem Auftraggeber angekommen. Sogar Cloerkes, körperlich ja nun wirklich nicht gut beisammen, schauderte zurück vor dieser Plattitüde, die ein dreidimensionales Mosaik aus Leichenteilen zugedeckt hatte. Nichts daran hielt dem Vergleich mit Carpaccio stand, nicht mal die gemalten Stoffe, trotz aller Mühe, die sich der Maler gab. Allenfalls die Kissen, die den Rücken von Ursulas Mutter im Wochenbett stützten. Aber der grüngoldene Teppich im selben Bild? Was für ein Qualitätsgefälle! Man kam nicht umhin, zu fragen, wie diese Lumpen passen sollten zur weithin berühmten Textilstadt Köln oder zum regen Handel zwischen der Serenissima Repubblica Venedig und der Freien Reichs- und Hansestadt Köln am Rhein. Zweifellos hingen und lagen in Kölns guten Stuben Orientteppiche derselben Güte, wie Carpaccio sie gemalt hatte. War also der Maler des Kölner Zyklus schlicht unbegabt – oder empfing man ihn nicht in den guten Stuben der Patrizier? Galt in Köln der Maler vielleicht nur als besserer Anstreicher?
Mit solchen Statusproblemen hatte in Deutschland schon so mancher Künstler gekämpft. Sogar der geniale Albrecht Dürer schrieb, wenige Tage, nachdem der Doge Leonardo Loredan in Venedig seine Arbeit am »Rosenkranzfest« begutachtet hatte, traurig nach Hause...
Zett öffnete den Prachtband.
„O wie wird mich nach der Sonne frieren. Hier bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer“, zitierte der Page ohne Unterleib.
„Söhnchen, trotzdem nenne ich dich nicht Albrecht, wie den alten Dürer! Und für dein ungerechtes Schicksal kann ich schon überhaupt nix. Ich möchte halt nur vorbei!“ Womit Cloerkes seinen dicken Bauch rücksichtslos am Pagen ohne Unterleib vorbeischob und dabei scherzhaft dem Loredan im Senatorenmantel links mit dem Zeigefinger drohte:
„Weißes Tüchlein in gepflegter Hand! Bedeutet Vornehmheit? Oder den gänzlichen Mangel an Klopapier? So was stecken wir uns in die Brusttasche des Sakko, allenfalls!“
„Warum schubst du den armen Kerl herum? Warum gehen wir nicht durch dein Achteck?“, fragte Zett.
„Kommt Zeit, kommt Achteck“, brummte Cloerkes. „Ich geh dann mal. Du ziehst ja offenbar die weibliche Gesellschaft vor.“
Was sich nicht leugnen ließ.
„Und nun stelle ich fest, es finden sich zwar durchaus Türme in dem Zyklus – nur mit den Spiegelungen hapert es“, mault Zett, während er, Hand in Hand mit der Stupsnase aus dem letzten Bild, den schweißtreibenden Aufstieg auf den englischen Berg in Angriff nimmt. Dort soll alles noch plump mittelalterlich wirken. Drüben in der Bretagne trimmt Carpaccio die katholischen Paläste schon stramm auf Venedigs Spätgotik und Renaissance.
Die Stupsnase läuft barfuß. Doch das ist kaum der Grund dafür, dass sie nicht schwitzt, anders als Zett. Sie scheint den steilen Berghang entlang der Mauer hinauf zu schweben, selbst, als sie aus dem Wäldchen in die gleißende Sonne treten. Da liegen die Türme von Rhodos und Sankt Markus auf Kreta schon weit unter ihnen, ebenso wie der Felssporn über der schräg gelegten Karacke, deren Rumpf gerade frisch kalfatert wird. Hoch am Berg, verdünnt und vermischt mit den Düften von Pinien, Lorbeer und heißem Gras, riecht das Pech aus dem blubbernden Kessel gar nicht so übel.
Eine Grille zirpt. Zu Ehren von Ursulas Einschiffung scheppern Posaunen von den Zinnen der beiden gewaltigen Festungsbauwerke. Drüben aus Venedig antworten Fanfaren, auf diese Entfernung unhörbar. Man sieht nur die Bläser und das blitzende Metall in seinem typischen Auf und Ab. Die Stupsnase pfeift leise mit der Grille um die Wette, durch eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen.
„Keine Angst, dass du dein Schiff verpasst?“, fragt Zett. „Verrätst du mir, wo das Langbein geblieben ist?“
„Nö“, erwidert sie. „Also bei den Brücken hätten wir gleich unter uns die Hängebrücke über die Hafenausfahrt, da wo der dunkle Mann steht, weißer Turban, weißer Kaftan, siehst du? Zerkon heißt er und ist im wahren Leben viel, viel kleiner als gemalt und außerdem kein Muselman. Die beiden Festungstürme von den Inseln sind hinlänglich beschrieben, auch literarisch.“ Sie weist empor, wo die sonnenverbrannte Bergwiese über den Steilhang hinaufführt zu dem ummauerten Städtchen auf dem höchsten Punkt des Zyklus. „Hier ein paar Türmchen, da ein paar Türmchen“, flötet sie. „Unten im Hafen, im Vordergrund der Holzsteg mit Ursula und die dreckige britische Erdmole. Verkeilt dazwischen das Boot, von dem die Teppiche ins Wasser hängen. Kannst du gern eine Brücke nennen, mein Ritter. Was bist du so still?“
Zett, dem sonst vor keinem senkrechten Felsen bange ist – ihn schwindelt bei diesem läppischen Aufstieg, den nur ein Angeber alpines Bergwandern nennen würde. Der Schweiß läuft in die Augen und er muss blinzeln, was seinen Blick erheblich trübt. Gut: Hier und da steht immer wieder mal ein Festungstürmchen oder ein Campanile. Die Sache mit den Arsenaltürmen ist offenkundig Quatsch. Soviel darf als erwiesen gelten. An den Zinnen abgezählt. Eine freche Provokation des kunsthistorischen Establishments nennt Cloerkes sowas.
„Schau mal unser Äffchen da am Hafenpavillon ... gegenüber deinen dummen Arsenaltürmen“, juchzt die Stupsnase. „So ein gut dressiertes Äffchen unser Simmi! Hat brav geholfen, dem bösen Hunnenkönig Opium in seinen Wein zu tun, am Tag, als wir ihn endlich drankriegten ...“
„Drankriegten?“, fragt Zett.
Aber die Stupsnase liegt plötzlich, als könnte sie aus dieser Position das Äffchen greifen, schon auf dem überkragenden Hang, der gefährlich wippt. Ein bisschen Gras wächst da und Gestrüpp und beides droht nun abzustürzen unter dem kaum spürbaren Gewicht der Stupsnase. Was tun? Wagt sich auch Zett noch auf das Kliff, bringt sein Gewicht wahrscheinlich diese Formation, die zwischen den Türmen von Rhodos und Kreta dräut wie ein umgekehrter Galeerenrammsporn, zum Einsturz. Dummes Mädchen! Sie hat doch noch Zeit, bevor es für sie ans Sterben geht.
Weit hinten, in einem anderen Bild, ragt das gewaltige Steingebirge der Engelsburg empor. Winzig klein versucht Cloerkes sich dort in der Ferne an einen Mann mit Hut heranzumachen, aber der wird abgeschirmt von Bischöfen und Kardinälen in Rot und Gold. Eigentlich beschirmt sogar der Baldachin gar nicht zunächst den Papst, sondern den Mann mit Hut. Nur spiegelt sich nichts von alledem.
Der Uhrturm, in dem Zett mit Cloerkes gehockt hat? Fehlanzeige. Die Turmruine im Massakerbild? Skutaris bescheidene Wehrbauten? Nichts. Könnte man Ursulas Palmstrunk, von dem sie gen Himmel auffährt, als Turm bezeichnen? Wenn schon: Spiegelbild hat er keins.
„Zu Hilfe, Herr Ritter!“
Auf dem sandigen Pfad, der bis an die äußersten, schon ins Leere überhängenden Büsche führt, wimmelt es plötzlich von ekligem Getier, das der Stupsnase den Rückweg abschneidet. Skorpione. In Massen. Zett, der sich nicht vorstellen mag, wie sie bleich und schlaff und tot in seinem Arm hängt, greift nach seiner Waffe. Nichts. Nicht mal das Schulterholster. Er bückt sich zum Knöchel. Wieder nichts. Panik wallt hoch. Die Waffen liegen im venezianischen Bankschließfach, weil er sie ja nicht durch die Kontrolle am Flughafen kriegt.
Mit dem erstbesten dürren Ast schlägt er die Biester nach rechts und links aus dem Sand ins Gras oder Gebüsch, wobei mächtig Staub aufwirbelt. Immerhin gelangt er so zur Stupsnase, die ihm, ohne lange zu fackeln, huckepack auf den Rücken springt.
Das Kliff, der Felsvorsprung, wohl mehr ein von Regen und Wind modellierter Erdvorsprung, neigt sich und bröckelt. Lange geht das nicht mehr gut. Hinter ihnen quillt aus vergilbtem Grün ein ekliges Gewusel von Skorpionen auf den Pfad, über- und untereinander krabbelnd in Schichten, die jeder Hoffnung auf eine Rückkehr zu Fuß Hohn sprechen. Hundertfach der nach oben gekrümmte Stachel am Arsch, hundertfach dieses obszöne Spiegelbild des immer heftiger wippenden Kliffs. Leider hat Bucholtz nach einer solchen Spiegelung nie gefragt.
„Dabei sind doch Skorpione einzelgängerische Tiere“, wundert sich Zett.
„Na bitte“, kreischt die Stupsnase, „bück dich auf Augenhöhe zu ihren Stacheln und erklär ihnen das!“
Sie hockt ihm inzwischen auf den Schultern und auch sie schwitzt jetzt. Jedenfalls hofft Zett, dass es sich bei der Feuchtigkeit um Schweiß handelt. Er hält sie bei den Fesseln. Sein Daumen streift ihre Ferse, glatte Hornhaut, bestens gepflegt – fühlt sich an wie warmes Glas.
„Du schrubbst wohl viel mit dem Bimsstein?“
„Gewiss, sonst wird es auf dem Hochseil zu gefährlich!“
Zett stutzt, fragt aber nicht nach – zu bedrohlich wuseln die Skorpione heran. Totstampfen mit den Hornhautfüßen der Stupsnase dürfte kaum funktionieren. Vorwärts kein Ausweg. Vielleicht nach oben? Aber keins dieser Gestrüppzweiglein trägt auch nur einen einzelnen Menschen, geschweige denn zwei. Rückwärts die Tiefe? Zett hat schon abgestürzte Leiber gesehen. Zerschmetterte Rümpfe mit verrenkten Gliedern. Oder, im Gegenteil, äußerlich unversehrte Körper, zusammengehalten von der ungemein elastischen Haut, während drinnen alles Mus war.
Ein Feuerzeug wäre jetzt nicht schlecht, doch Zett raucht schon lange nicht mehr.
„Hilft nichts“, ruft er. „Runter von meiner Schulter! Wir werfen Kieselsteine auf die Biester und Erdbrocken, das treibt sie vielleicht zurück. Lieber stürzen, bevor das Geschmeiß uns erwischt.“ Dann, im absurdesten aller Momente, fällt ihm die Frage ein: „War Ursula eigentlich schwanger?“
Stupsnase sammelt Kiesel und holt weit aus.
„Im übertragenen Sinne wird sie als Mutter der Hunde verehrt“, schnauft sie, ganz außer Atem, während sie zielsicher Skorpion für Skorpion abschießt und zwischendurch mit beiden Händen Sand schaufelt, um die jeweils vorderste Angriffswelle für den Augenblick zu begraben. Eine ziemlich riskante Taktik, offenbar ist sie mit der Lebensweise dieser Tiere nicht sehr vertraut.
„Mutter der Hunde? Und mit dieser dürftigen Metapher geht es schon ans Sterben?“, fragt Zett. „Und alles nur für deinen blöden rotweiß kostümierten Affen auf den Stufen der englischen Loggia?“
„Simmi war uns entlaufen“, schmollt sie.
Ob sein Rotweiß wohl die Arbeitskleidung ist? Oder tarnt er sich nur in Rot und Weiß als Symbol für den dummen englischen Heidenhof? Neben dem Perlhuhn. Alles nur großes Theater in Rot und Weiß mit Fahnen, Wimpeln und Standarten, mal mit zwei, dann wieder drei Kronen.
Nun prügelt auch Stupsnase mit einem Ast auf die vordersten Skorpione ein. „Das schaffen wir nicht mehr“, keucht sie. „Komm du jetzt schnell auf meinen Rücken!“
„Aber ...!?“, ruft Zett.
„Ich bin tot, du kannst noch sterben“, schimpft sie. „Tu also ganz, wie dir beliebt!“ Und damit rafft sie – noch während Zett sich ziert, seine Muskelpakete auf ihren schmalen Mädchenrücken zu retten – das Obergewand, das sich entfaltet wie ein Paraglider, und stürzt von der Klippe.
Sie fliegen. In den Ohren knackt es, als sie immer rascher sinken.
„Da schau her“, murmelt er beim Anflug auf Köln. „Das Engelein hat Flügel.“ Sie setzt ihn ab und startet schon wieder durch. Ohne Gruß. „Wie heißt du eigentlich?“ ruft Zett ihr nach. Ohne Antwort. Auf dem Schiff landet sie inmitten der übrigen Jungfrauen und verschwindet im Menschengewimmel.
Schade, denkt Zett und winkt anstandshalber noch mal in Richtung Schiff.
Ankunft der Pilger in Köln. Von der erzählerischen Logik her das drittletzte Bild – vor dem Schlachtfest und der Apotheose. Entstehungsgeschichtlich jedoch ist dieses Bild aus dem Jahr 1490 das erste, das Carpaccio für den Zyklus malt. Und wenn wir nun berücksichtigen, denkt Zett, dass hier nicht nur Ursulas Schiff gerade landet, sondern zeitgleich die Hunnen den Brief jener obskuren Verräter aus Rom studieren, den Brief, der die ach so gefährliche Jungfernschar ankündigt...
„... dann fängt Carpaccio beim Verrat zu malen an“, beendet Cloerkes den Satz. „Was immer das bedeuten mag.“
Zett nickt. Versonnen krault er die Dogge, die den Steg bewacht, am Ohr. Sie schlabbert ihm den Schweiß von den Händen, was sich gar nicht schlecht anfühlt. Auskunft, warum im Hintergrund ein Hunne mit seiner Armbrust zielt auf die Taube hoch oben im Geäst des Baumes, ist nirgends zu erlangen. Offenbar eine Kriegslist ... Spuren verwischen ... weg mit der Brieftaube, mutmaßt Zett, bis Cloerkes ihn giftig anfährt:
„Was für ’ne Taube, mein Junge? Erzählst du mir gleich noch, dass da ein Grünflügelara sitzt, bloß, weil du mal im Dschungel klettern warst? Schau gefälligst auf den Hakenschnabel, das punktierte Brustgefieder und die plusterigen Fänge – das ist ein Wanderfalke, Tom, ein Jäger, wie der Hund. Frag mich nicht, warum Carpaccio hier zwei Jagdweisen gegenüberstellt, die christliche Hetzjagd mit der Meute und die muselmanische Falkenjagd ... hunnisch, wollte ich sagen, zwei Sorten höfischen Gepränges jedenfalls, mitten in Krieg und Martyrium.“
Dem Söldner ist es peinlich, Tauben mit Falken zu verwechseln. Zett sucht Abstand zu der Blamage. Schaut zum Uhrturm: Halb sechs und sein Kontakt ist immer noch nicht aufgetaucht. In dreißig Minuten schließt das Museum. Was, wenn die ganze Hetze umsonst war?
Aus den Fenstern des Kölner Eckturms brüllen die Belagerten Warnungen über den Rhein: „Haut bloß ab, legt da nicht an, da sind doch Hunnen, macht, dass ihr fortkommt, Mädels, rettet eure Haut!“
Doch die Mädels sind Zett nun plötzlich egal, ihn interessiert weit mehr, warum die Kölner immer noch nicht ihre Zugbrücke eingeholt haben. Zett mustert den spiegelblanken Rhein dort hinten. Warum hat Carpaccio mit einem Verrat begonnen, unmotiviert mitten in der Geschichte, einem Verrat überdies, der keine tragende erzählerische Funktion für die Legende hat – denn was wäre aus den Elftausend schon geworden, hätten sie Köln ohne Vorwarnung erreicht? Hätten die Hunnen dann die Gelegenheit zum Schänden und Morden verstreichen lassen? Brauchten sie erst was Schriftliches, um so richtig den Barbaren rauszulassen?
Aber die Jungfrauen haben ja Kriegsübungen absolviert. Das muss den Hunnen natürlich berichtet werden, das können sie nicht ohne weiteres ahnen, zumal die Bilderzyklen diesen Halbsatz der »Legenda Aurea« diskret aussparen. Wer hat die Jungfrauen gedrillt? Für welchen Einsatz? Und warum wehren sich die Kämpferinnen nicht, jetzt, wo es drauf ankommt? Die können doch auf Seilen tanzen und sogar – wollen mal sagen – Fallschirmspringen.
Anders gefragt – wären die Kriegsübungen bloße Erfindung Jakobs von Voragine, und elftausend schüchterne, naive Jungfrauen in Begleitung von Prinzen und Klerikern schippern über den Rhein gen Köln ... sehen die denn nicht das Hunnenlager? Verstecken sich die Hunnen zur Belagerung so weit im Vorgebirge, dass niemand sie vom Fluss bemerkt?
Wohl kaum. Warum also landen Ursulas Jungfrauen vor Köln, im vollen Bewusstsein, dass die Stadt umzingelt ist von Attilas Horde? Bislang haben die Hunnen ihnen doch gar nichts getan, behindern in keiner Weise ihre Pilgerfahrt, die Englandmission oder das Glaubensbekenntnis. Vielmehr legen die Pilgerinnen es geradezu mutwillig auf ihren Tod an, sonst würden sie an Köln vorbeifahren, anstatt freiwillig ins Verderben. Wer verhält sich derart unplausibel, bloß, weil man einmal schlecht geträumt hat...?
Die Konstruktion quietscht und ruckelt in jedem Gelenk. Selbst wenn man die Kriegsübungen der Jungfrauen streicht, holpert die Geschichte immer noch. Und da man sie mit noch so vielen Streichungen nicht hinbekommt – muss etwas fehlen. Zett hat jetzt eine Menge Fragen an die Stupsnase. Er tritt in die Fensterecke. Auf dem Rathausvorplatz umkreist eine Polonäse Weihnachtsmarktbesucher die Mikwe, und zieht fröhlich weiter in Richtung Glühwein und kling Glöckchen, klingelingeling. Es ist zwanzig vor sechs. Über dem Rhein leuchtet grün der Schriftzug „Lufthansa“...
... auf dem Rhein, im Zyklus, spiegeln sich zwei Brückentürme mit Brücke dazwischen, wobei der Brückenbogen und seine Spiegelung im Wasser gemeinsam einen perfekten Kreis bilden. Ein O wie in Orbis. Nach dem Erdkreis, dem Orbis Terrarum, benennen sich Zetts neue Auftraggeber, das führen sie in ihrem Logo, so wie Executive Outcomes einst den Schachspringer.
Das Quietschen der Gummireifen auf dem Parkett war zu hören, bevor die Spiegelung des Rollstuhls im Fensterglas erschien. Langsam drehte Zett sich zu dem schiefen Oberkörper um, dessen Haltung unwillkürlich an den Physiker Stephen Hawking erinnerte. Das verhärmte Gesicht des Mannes war eine Landschaft hektisch roter Flecken. Es strengte ihn ungeheuer an, den Stuhl zu lenken mithilfe dieser Vorrichtung, halb Schlauch, halb Joystick, von der eine Leitung zu dem weißen Kasten unter seinem Sitz führte. Die Hände konnte er nicht mehr gebrauchen. Die lagen schlaff und verkrümmt auf der Kamelhaardecke in seinem Schoß. Mit einem Geräusch, als spuckte er aus, löste er die Lippen von der Lenkvorrichtung, wodurch der Rollstuhl zum Stehen kam.
„Herr Doktor Zett?“, fragte der Mann. Er röchelte beim Sprechen. Zett nickte. „Ich bin Ihr Kontakt.“
„Woher soll ich das wissen?“, fragte Zett.
„Sie sind Ihrem Auftraggeber auf Torcello begegnet, Sie erhielten dreißigtausend Euro Vorschuss, plauderten über Carpaccio und hörten von Karl, dass er seinem alten Freund Richard Lank noch was schuldet. Lank – das bin ich.“
Aus dem Saal des Meisters der Katharinenlegende trat der Museumswärter zu ihnen, der Zett schon böse angestiert hatte, als der am Knöchel vergeblich nach seiner Smith & Wesson tastete. Jetzt wollte er wohl unterstreichen, dass die Besucher über Lautsprecher aufgefordert wurden, sich so kurz vor Schluss doch bitte zum Ausgang zu begeben. Mit einem schmerzlichen Zug um den Mund fertigte Lank ihn ab.
„Danke, Herr Küppers, wir brauchen Sie heute nicht!“
Keine Sekunde dachte der Uniformierte über Widerworte nach, sondern zupfte nur seine Krawatte zurecht, bevor er sich zurückzog.
„Sie kommen mit Befehlen?“, fragte Zett.
„Ja“, sagte Lank. „Karl hatte mal wieder den richtigen Riecher!“
„Ach ja?“
„Ich komme in letzter Zeit nicht viel herum, lege offen gestanden auch gar keinen großen Wert mehr darauf in meiner Verfassung. Aber dass ich für die Ursulalegende unterwegs bin, wird jeder noch so skeptische Beobachter glauben. Ohne Verwunderung. Worauf es ankommt. Wir haben nämlich einen Notfall, von dem niemand erfahren darf. Und Sie als Außenseiter sind da unser Glück im Unglück. Nur Bucholtz, Sie und ich wissen Bescheid.“
„Verzeihen Sie, aber wäre es nicht bequemer, man gäbe mir ein Handy mit Prepaidkarte? Nicht, dass ich den Dingern trauen würde.“
„Bleiben Sie dabei“, sagte Lank. „Im Augenblick bestellt in Köln niemand auch nur eine Pizza per Handy, ohne dass sein Gespräch aufgezeichnet und durch ein Sieb von Algorithmen gequetscht wird. Mehrfach. Und wie gesagt: Unser Problem darf nicht bekannt werden. Nicht mal unsere eigene Security weiß Bescheid.“
„Weil sie nichts taugt?“
„Bilden Sie sich keine Schwachheiten ein“, pöbelte Lank. „Weil wir keine Gerüchte in die Welt setzen dürfen!“
„Was soll ich tun?“
„Wenn wir das genau wüssten, wären wir beträchtlich weiter!“
„Aha“, sagte Zett.
„Monica ist verschwunden, Frau Ricasoli, Karl Bucholtz’ Lebensgefährtin.“
Zett grinste. Bei NBK hatte er zwar vorwiegend Personenschutz gemacht, doch auch das Management von Beziehungskrisen zählte zum Leistungsprofil des Unternehmens.
„Grinsen Sie nicht so schmierig!“, fuhr ihn Lank an. „Karl und Monica sind ein glückliches Paar, ein eingespieltes Team. Sie würde niemals einfach so verschwinden, und ganz bestimmt nicht jetzt, bei Konferenzbeginn.“
„Wer konferiert mit wem worüber?“, fragte Zett.
Lank überging die Frage. „Entweder hatte sie einen Unfall, oder sie wurde, was wir befürchten, entführt. Es heißt, Sie kennen sich mit Geiselnahmen aus?“
„Was denn jetzt? Ist Frau Ricasoli in der Gewalt von Geiselnehmern – oder hat sie sich den Fuß verknackst und wartet in der Notaufnahme?“, fragte Zett.
„Karl hat seit fünf Tagen nichts von ihr gehört.“
„Ihre Wohnung?“
„Keinerlei Spuren. Die Reise war auch nicht spontan. Sie hat den Wagen voll tanken lassen, um eine Freundin zu besuchen. Das Fahrzeug wurde nahe der Wohnung dieser Freundin gefunden, verschlossen und leer. Der Besuch fand nicht statt. Und Sie dürfen getrost davon ausgehen, dass Polizei und Krankenhäuser uns umgehend informiert hätten.“
„Wo steht das Auto?“
„Kempen, Kleinstadt am Niederrhein.“
„Als ich Herrn Bucholtz auf Torcello traf, hatte er eine Leibwache. Ich schließe daraus, auch Frau Ricasoli wurde bewacht?“
„Sie hätte Personenschutz haben sollen, pfeift aber manchmal auf das Protokoll. Das hat sie von Karl – und mir, fürchte ich.“
„Bekennerschreiben? Forderungen?“
„Negativ.“
„Herr Lank! Bitte!“
„Ja ... ich muss wohl auspacken“, seufzte Lank. „Zunächst einmal, und das ist von nicht zu überschätzender Bedeutung, wissen von der Sache nur Karl, ich und Sie.“
„Und Frau Ricasoli. Und, falls vorhanden, die Entführer.“
„Wir brauchen einen Profi, keinen Klugscheißer, Herr ... Thomas Zottnow!“ Zett schluckte. „Wir sind eine international tätige Organisation mit einer Handvoll über die Welt verstreuter Partnerorganisationen. Nennen Sie uns politische Lobbyisten, robuste Think Tanks, ganz egal. Manchmal ziehen wir alle am selben Strang. Manchmal jedoch – und das ist leider hier der Fall – vertreten wir kontroverse Positionen. Meine Gruppe gilt zurzeit als halbwegs neutral in allen strittigen Punkten. Darum bat man uns, den Tagungsort zu stellen und eine Art Friedenskonferenz zu moderieren. Wir sollten vielleicht das Haus verlassen, was meinen Sie? Ich glaube, man will Feierabend machen!“
Im Aufzug nahm er den Faden wieder auf. „Drei Bruderräte haben ihre obersten Chefs nach Köln geschickt, um zu verhandeln. Das sind misstrauische Leute, Herr Zett, Leute, die stets um ihre Sicherheit besorgt sind. Deshalb mussten wir Geiseln stellen.“
„Klingt ganz wie Business as usual in einer globalisierten Welt.“
„Halten Sie gefälligst das Maul und lernen Sie“, knurrte Lank. „Unsere Geiseln mussten halbwegs gleichrangig sein mit unseren Gästen, und da wir nicht nur aus Chefs bestehen, blieb zu entscheiden: Geht der Chef auf Reisen, und sein Stellvertreter moderiert die Konferenz, oder umgekehrt? Aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, ging unser Chef auf Reisen. Was soll’s, wo wir schon mal so weit sind: Unser Chef ist eine große Führungspersönlichkeit aber ein schlimmer Dickkopf. Vermitteln kann er nicht. Er würde gern, bildet sich sogar ein, er könnte, aber er kann es nicht. Unter seiner Leitung geriete die Konferenz zum Fiasko. Darum haben wir diskret dafür gesorgt, dass der Stellvertreter die Konferenz moderiert. Der ist geschmeidig und kann vermitteln, und dieser Stellvertreter ist ...“
„... Karl Bucholtz“, sagte Zett.
Die Garderobiere kam hinter ihrer Theke hervor und legte liebevoll eine Pelerine um Lanks Schultern und das obere Gestänge des Rollstuhls. Lank nickte. „In der Tat. Somit dürfte klar sein, was wir befürchten.“
„Nicht ganz“, sagte Zett.
„Wenn Monica entführt ist ... und die Entführung wird bekannt, ist Karl draußen. Dann kommt Czartoryski, übernimmt die Konferenz und fährt den Karren an die Wand. Folglich darf nicht bekannt werden, dass Monica entführt ist, um keinen Preis. Ist das klar?“
„Ich hab’s gehört“, sagte Zett, „aber ich versteh’s nicht. Nehmen wir an, Frau Ricasoli wurde tatsächlich entführt – kriegt Bucholtz da nicht Herzflattern? Wie leitet er unter diesen Umständen die Konferenz?“ Lank schwieg, was daran liegen mochte, dass ihm nun drei flache, schiefe Treppenstufen bevorstanden. Sein Hightechrollstuhl bewältigte das Problem jedoch umstandslos. Summend fuhr er kleine Stützräder aus und beförderte Lank Stufe um Stufe abwärts auf Straßenniveau. Dann schoss ein schwarzer Kastenwagen um die Ecke, bremste vor Lank und klappte eine Rampe aus. „So, wie Sie das berichten“, sagte Zett, „liegt der Verdacht nahe, dass nicht irgendwer Frau Ricasoli entführt hat, sondern eine Partei, die an der Konferenz teilnimmt. Und unter diesen Umständen kann Ihr Freund unmöglich vermitteln. Er ist befangen, spätestens, sobald die Entführer ihm Forderungen stellen.“
„Lassen Sie das unsere Sorge sein“, sagte Lank.
„Ich verstehe immer noch nicht, was Sie von mir wollen.“
„Das ist doch sonnenklar: Sobald wir wissen, wer Monica wo festhält – führen Sie die Befreiung durch, und zwar ohne unsere Sicherheitsabteilung, denn wenn wir die einschalten, erfährt unser Chef davon und entzieht Bucholtz die Konferenzleitung.“
„Sie müssen ja wissen, was gut ist für Ihre Konferenz“, sagte Zett und konnte sich nicht verkneifen zu ergänzen: „Und für Frau Ricasoli.“
Fast sah es aus als nickte Lank: „Die Außenseiterlösung.“
„Aber ich bin kein Unbekannter mehr für Ihren Apparat. Denken Sie nur an die Schnitzeljagd durch Venedig! Eure Frau ... Peeters? Hieß sie nicht so?“
„So heißt die Dame in der Tat – und kennt Sie als Kunsthistoriker, Herr Doktor Zett. Halten Sie uns nicht für Amateure!“
„Ich geb mir Mühe“, sagte Zett, der eine Person befreien sollte, die möglicherweise gar nicht entführt war, deren Entführer sich nicht meldeten und deren Aufenthaltsort unbekannt war. „Das ist der unmöglichste Job, den ich je hatte.“
„Nun – Agrippas Getreidespeicher wartet und sammelt“, rief Lank. Aber das war wohl nur für den Chauffeur bestimmt, der gerade das Seitenfenster herunterfuhr. „Die Neuigkeiten morgen Nachmittag, ab vier beim Ursulazyklus!“ Quietschend nahm er die Schräge. „Ab vier!“, wiederholte er, während die Rampe schloss.