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4. Venedig. Mittwoch, 19.11.2003 bis Freitag, 21.11.2003
ОглавлениеZett spielte noch am nächsten Morgen mit dem Gedanken, den Job abzulehnen, während er sich erfolglos bemühte, eine Randbemerkung in Bucholtz’ krakeliger Handschrift zu entziffern. Nachts hatte er sich in der allerödesten Discothek von Mestre die Kante gegeben. Jetzt wirkte das Aspirin nicht, weshalb er eisgekühlten Orangensaft kippte, den das Hotelpersonal mit nervtötender Langsamkeit immer erst vom Tetrapack in Glaskaraffen umfüllte. Die abgearbeiteten Sizilianer hielten bei der Plackerei streng ihre Routine ein – und wirkten dennoch fröhlich. Bei Zett lief das gerade umgekehrt: Er blies Trübsal im großen Durcheinander seines Lebens, angefangen bei den alkoholischen Exzessen, die ihn ganz ohne Spaßgewinn von Mal zu Mal heftiger ausknockten.
Außerdem war es auf Dauer bestimmt nicht gesund, mit dem toten Cloerkes zu quatschen, als wären sie ein altes Ehepaar.
Zumal der die entscheidenden Auskünfte für sich behielt. Wann hatte er mit Bucholtz über Zett gesprochen? Falls er ihn tatsächlich dem Merkwürdigen empfohlen hatte, musste das vor seinem Tod gewesen sein. Und der lag fast zehn Jahre zurück. Warum trat Bucholtz dann erst jetzt an Zett heran? Womit die Frage nach der Seriosität des neuen Auftraggebers auf den Tisch kam ... das alles drehte sich im Kreise und im Kopf herum.
Taktische Analyse: dumpfer Schmerz hinter der Stirn, kein Schluck O-Saft mehr im Glas und wenig Vertrauen zu Bucholtz, geschweige denn Sympathie. Andererseits gab es gutes Geld und den klaren Befehl: Geh zur Akademie, sieh dir schöne Bilder an – was ja nun keine arge Zumutung war für dreißigtausend Euro.
Zuletzt gab es da noch das DIN-A5-Blatt. Gestern Abend hatte Zett die digitalen Bibliotheken im Web nach Ausgaben der »Legenda Aurea« durchstöbert und tatsächlich die Passage über Kriegsübungen der Elftausend Jungfrauen gefunden. Bucholtz war also kein Banause. Nach Wegfall dieser Ausrede war Zett mit dem Wassertaxi zur Piazzale Roma gefahren und dort ins Autotaxi umgestiegen. In einer ehemaligen Chemiefabrik, die mit Theke, Riesenboxen und Flackerlicht hochgerüstet worden war, hatte er sich an das Teufelsgebräu aus süßem Prosecco und Grappa gehalten, das die Kids hier tranken. Zwischendurch hatte er ein wenig auf der Tanzfläche herumgestampft und einen Hänfling zusammengeschlagen, der einfach nicht aufhören wollte, ihm bunte Pillen zu verkaufen. Zett hatte mit der Faust geschlagen, obwohl eine Ohrfeige gereicht hätte, und wusste dabei ganz genau, dass er auf ein Problem mit unmotivierter Gewalt zusteuerte. Immerhin hatte ihn der Türsteher trotz seiner Überreaktion in Frieden gelassen, als er den Hänfling zwang, das Plastiktütchen mit den Drops herauszurücken. An seinem Ecktisch mit Blick auf die Schwingtür hatte Zett dann verworrene Zwiesprache mit Cloerkes gehalten, der ihn bedrängte, lieber ins Hotel zu fahren, bevor er auf dem Parkplatz sturztrunken dem rachsüchtigen Hänfling und seinen Kumpels in die Hände fiel. Auch eine Art von Risikomanagement!
An die Heimfahrt erinnerte Zett sich nur noch verschwommen, abgesehen vom verächtlichen Blick des Nachtportiers. Dann ins Bett, viel zu kurz. Später eiskalt duschen und nun der allerletzte Tropfen O-Saft.
Wenn er heute Morgen so unbedarft wirken sollte, wie Bucholtz ihm befohlen hatte, dann hieß es, ein Lächeln in die Mundwinkel zu schrauben und aufzupassen, dass sein Schlingergang weder Hauswände streifte noch über die Kante einer Riva ins Kanalwasser führte. Um zu verschnaufen, blieb er vor einem Schaufenster stehen, wo schön marmoriertes Papier auslag, beschloss dann jedoch, seine Notizen lieber direkt an den Rand der Kunstdrucke zu schreiben, neben und zwischen Bucholtz’ Gekritzel. Dort war der Platz großzügig bemessen, jedenfalls rings um die Detailansichten. Die kompletten Bildreproduktionen, neun an der Zahl, füllten jeweils ihre ganze Doppelseite.
Folgte man ihm? Zett übte sich in Harmlosigkeit. Die Schlange vor dem Ticketschalter verschaffte seinem maladen Kreislauf eine halbstündige Gnadenfrist an frischer Luft, bevor er schließlich Saal XXI betrat, wo Vittore Carpaccios Ursulalegendenzyklus aus der abgerissenen Scuola di Sant’Orsola eine würdige Zuflucht gefunden hatte.
Würdig, das hieß: Oberhalb des Marktsegmentes, in dem etwa ein Willem Cloerkes mitmischen konnte. Zwar kam bei aller Würde der internationale Kunstmarkt nie zum Erliegen, doch bevor die Accademia sich von Exponaten dieser Güteklasse trennte, musste schon mindestens Paolo Veronese von den Toten auferstehen. Andererseits nahmen es oft die würdigsten Player am Markt mit der Freiwilligkeit von Transaktionen nicht so genau, ja nahmen sogar die Dienste von Leuten wie Cloerkes in Anspruch. Zett hatte zum Beispiel eine ziemlich belastbare Theorie, betreffend den hochwürdigen Empfänger eines gewissen Altartryptichons. Cloerkes hatte den Namen nie ausgesprochen, doch Zett hatte neben ihm gestanden im Pritschenhaus bei Pilsen, vor den halb schon verpackten Tafeln aus bemaltem Ulmenholz, für die man dem Bürgermeister des Städtchens ein funkelnagelneues Feuerwehrauto aus dem Westen schuldete. Und natürlich exzellente Kopien. Cloerkes hatte Zett angestachelt: „Los, vergiss den Schulquatsch, sperr die Augen auf. Schau hin! Du weißt nichts, vertrau nur deinem Blick ...“
Dann hatten in der Auffahrt die hydraulischen Bremsen des mächtigen roten Brummers gepufft und gezischt und schweren Kastanienduft durch das offene Rolltor in die Halle geweht. Und der Deal war perfekt.
Cloerkes hatte im großen Stil mit fast allem gehandelt, außer mit Menschen, Drogen und Waffen. Kriegsdiamanten jedoch, Medikamente, Zigaretten ohne Steuerbanderole oder Kunst von mehr als zweifelhafter Provenienz hatten bequem in sein gemütliches holländisches Gewissen gepasst. Wofür zahlte man schließlich die fiktive Gardinensteuer?
Die Kunst jedoch, sogar das Kunsthandwerk, waren ihm heilig geblieben. Nichts stieß ihn so ab wie der Genuss am bloßen Besitz. Vielmehr rang er mit ganzer Kraft um Verständnis, wobei er oft tief in die Materie eindrang und zu Ergebnissen kam, die quer standen zur herrschenden Meinung in der akademischen Welt.
Eines Tages, viele Jahre, bevor er Zett begegnete, hatte Cloerkes sich dann ein Mal zu oft über das kunsthistorische Establishment geärgert und selbst zu schreiben begonnen, schmale, um Lesbarkeit bemühte Büchlein, die mit der Zeit immer ansehnlichere Auflagen erzielten. Insgesamt zwanzig Bände. An den letzten Sieben hatte Zett auf diese oder jene Weise mitgewirkt. Man hockte sowieso ständig beisammen. Da ergab sich das von selbst. Bei den letzten vier Büchern hatte Cloerkes ihn verdientermaßen als Co-Autor mit auf den Titel genommen. Heute litt Zett wie ein Hund, weil er aus seiner neuen Identität heraus nicht mehr an die Tantiemen herankam. Die flossen jetzt, weil der verstorbene Herr Zottnow weder Frau, noch Kind oder Geschwister gehabt hatte, auch beide Eltern tot waren, ausgerechnet an seinen fast hundertjährigen steinreichen Bankiersopa Ruffy in der Schweiz. Ein Treppenwitz, über den Cloerkes sich kaputt gelacht hätte.
Willem hatte in Kunstdingen über eine profunde Bildung verfügt. Trotzdem kam die Vulgärversion seiner Methode ihrem Geheimnis am nächsten: „Vergiss den Schulquatsch, mein Junge“, hatte er doziert, als sie sich noch gar nicht lange kannten, „den ziehst du locker aus dem Ärmel, sobald du ihn brauchst. Aber zuerst schau hin, schau tief hinein und halte Einzug in das Bild wie sein rechtmäßiger Bewohner. Mische dich unter deine angestammte Nachbarschaft, mach mit, was das Zeug hält! Umgarne sie oder spuck ihnen ins Gesicht. Hasse und liebe, lache und weine, friss und saufe mit ihnen! Riskier ein Tänzchen mit der schönen Helena! Träufle dem Gekreuzigten linderndes Opium auf die Lippen! Du glaubst nicht, was die Bilder dann alles erzählen!“
Zett drehte sich einmal um die eigene Achse und sah insgesamt neun große Formate, zwischen 1490 und 1495 gemalt. Allerdings hingen sie nicht in der Reihenfolge ihres Entstehens, sondern in erzählerischer Abfolge, von der Brautwerbung bis zum Massaker und zur Apotheose Ursulas.
Die englischen Botschafter bei der Brautwerbung. König Maurus und seine Kronräte empfangen sie im offenen, licht- und luftdurchfluteten Hafenpavillon. Im Gemach gleich nebenan spricht Ursula mit ihrem Vater. Gleichzeitigkeit verschiedener Erzählstränge und Episoden ist das gestaltende Prinzip des Zyklus’.
Verabschiedung der Werber. Im denkbar repräsentativsten Thronsaal überreicht Maurus dem englischen Botschafter die diplomatische Note mit seiner Antwort. Der Hofchronist schreibt im Hintergrund mit, während das Volk zur offenen Tür hereinschaut.
Rückkehr der Werber nach England. Hier ist der Hafenpavillon nicht ganz so prächtig wie bei Maurus. Auch könnte der englische König durchaus mal Unkraut zupfen lassen. Am anderen Kanalufer jedoch, zugänglich über eine venezianische Brücke, wirkt alles sehr proper: Türme, ein dreistöckiger Palast und ummauerte Gärten bilden den Hintergrund, in dem es von Publikum nur so wimmelt. Der kostbar gewandete Mann im äußersten Vordergrund, dessen Blickrichtung die Mittelachse des Bildes definiert, während er frech dem Betrachter den Rücken zuwendet, muss etwas zu bedeuten haben. Unbedingt!
Aufbruch der Brautleute zur Pilgerfahrt. Das Bild mit den meisten Zeitebenen. Ursulas Bräutigam Ätherius wird von seinem englischen Vater verabschiedet – vor einer Hügellandschaft mit zwei mittelalterlichen Festungstürmen. Am selben Hafenbecken begrüßen sich die Brautleute zum allerersten Mal. Am selben Hafenbecken werden sie von Ursulas Eltern auch gleich wieder verabschiedet und schiffen sich ein – vor dem Hintergrund eleganter venezianischer Architektur. Und aus demselben Hafenbecken läuft schließlich ihr Schiff zur Pilgerfahrt aus.
Ursulas Traum. Ein Doppelbett mit Baldachin. Ursula träumt in Rückenlage. Durch Fenster und zwei Türen dringt der helle Tag herein, und mit ihm kommt der Engel der Weissagung.
Die Pilger in Rom. Zu Füßen der Engelsburg begegnen sich unter stürmischem Himmel zwei lange Menschenreihen: Der Zug der elftausend Jungfrauen, an seiner Spitze Ursula mit Ätherius. Und ein Zug von Klerikern, an dessen Spitze der eigens für die Legende erfundene Papst Cyriacus schreitet.
Ankunft im belagerten Köln. Die Stadt liegt hinter mittelalterlichen Festungsmauern, über denen ein venezianischer Campanile aufragt. Davor zelten die hunnischen Belagerer. Ihrem König wird gerade das Warnschreiben aus Rom vorgelesen, während Ursulas Schiffe am Rheinufer vor Anker gehen – unbekümmert durch die bedrohliche Szenerie.
Das Massaker. Links wird gemordet. Rechts zu Grabe getragen. Im Hintergrund Skutari von den Türken belagert.
Ursulas Himmelfahrt. Über dem Gedrängel kniender weiblicher und männlicher Märtyrer fährt Ursula gen Himmel – in die weit geöffneten Arme des Rauschebartes. Vorbei an der immer noch dauernden Belagerung Skutaris durch die Türken.
Was hatte Bucholtz ihm gestern aufgetragen? Nutze meine Notizen! Schreibe die Einleitung für den Prachtband über kriegerische Jungfrauen – Attila und Venedig – Hunnen – Pfeile – Agrippa – Spiegelungen – Türme...
Schön, Türme gab es reichlich, zum Beispiel in der Rückkehr der Werber nach England. Da behauptete der Museumskatalog frech, die Türme gehörten zu Venedigs Arsenal – obwohl man sich in kaum zwei Kilometern Luftlinie bequem vom Gegenteil überzeugen konnte. Nicht mal mit den Kupferstichen Jacopo de Barberis im Hinterkopf ließ sich Übereinstimmung herbei fantasieren.
„Schulquatsch“, hänselte Cloerkes.
Naja, im selben Katalog hieß es auch, Jacopo de Voragines »Legenda Aurea« stammten von 1475, offenbar im gänzlich überflüssigen Bemühen, Zusammenhänge zwischen Carpaccios Literaturrezeption und seiner Motivwahl herzustellen. Wobei man großzügig Voragines Todesdatum im Jahr 1298 übersah. Solcher Art war der Stoff, aus dem sich Cloerkes’ Verachtung für das Establishment speiste.
Nachdem Zett sich ein paar Mal um die eigene Achse gedreht hatte, meldete sich das Teufelsgebräu aus der chemischen Disco zurück. Heftiger Schwindel. Zett suchte den Druckpunkt am Nagelbett des kleinen Fingers, dessen Massage den Kreislauf in Schwung hielt. Akupressur half manchmal sogar im Krieg. In Bosnien hatte Zett die Blutfontäne aus einer zerschossenen Arterie gesehen, und der Sanitäter brauchte nur...
„Vergiss den Schulquatsch“, rief Cloerkes. „Misch dich unters Volk!“
Neben dem offenen Gittertürchen im Vordergrund stand ein junger Page. Der hatte schon in der Scuola di Sant’Orsola dort gestanden, bevor man an ebendieser Stelle eine Tür benötigte und den Ärmsten unterhalb seiner Schultern absägte. „Lass mich mal rein, Söhnchen“, drängelte Cloerkes taktlos, „kannst ja eh nichts anfangen mit all den Schönheiten hier, als Page ohne Unterleib.“
Zett atmet ein, dann sehr tief aus. Dann schnuppert er Meer und nassen Hund. Das Windspiel tollt vom Hafenbecken heran und schüttelt Wasser aus seinem Fell, spritzt seinen Herrn nass und dessen Verhandlungspartner. Doch Herrchen feilscht erbittert um die Differenz zwischen einem Ballen chinesischer Tributseide und zehn Unzen Weihrauch, ohne Notiz zu nehmen von der muffigen Dusche, von Zett oder dem hoch zeremoniellen Empfang der Botschafter im Vordergrund: Die Briten wollen Ursula als Braut für ihren Thronfolger.
Derweil gleitet ein Boot mit prallem Lateinersegel in den Hafen, wo das behäbigere Schiff der Diplomaten schon sicher beim Fahnenmast vertäut liegt. Nur – ankert da eine Karacke oder eine Cocha? Zett beschattet die Augen gegen das bleigrau stechende Mittagslicht: Einmaster jedenfalls, Segel gerefft und über dem galeerentypischen Heckkastell mit Laterne das Verdeck aus purpurnem Tuch.
Hunde, wohin man blickt – der nasse Stinker, das angeleinte Windspiel links – Windspiele müssen groß in Mode sein am Hof von König Maurus. Nur die Jungfrauen machen sich rar, abgesehen von Ursula selbst, die rechts im Bild dem deprimierten Vater ihre Vision schildert. Ein blasser Backfisch, eher rührend als schön. Die Magd auf der Treppe vor dem Gemach so schön, wie eine fünfzigjährige Frau mit Krückstock eben sein kann. Dementsprechend ist Cloerkes längst weiter, während Zett sich dem Handwerkszeug seines Berufes widmet.
„Großes Schwert, Kumpel“, schmeichelt er dem jungen Krieger.
„Eine Schiavona, Signore. Oder eigentlich deren Vorform, ein Exemplar noch ohne Handkorb.“
„Muss aber ziemlich schwer zu führen sein. Zweihänder?“
„Noch ganz in der Tradition des europäischen Langschwerts, Signore. Wie ich schon sagte. Die richtige Schiavona hat dann den Handkorb, weshalb Ihr sie nicht als Zweihänder führen könnt. Aber auch sie kann man natürlich in der engen Mensur mit der zweiten Hand dicht oben beim Griff packen ...“
„Ach – und oben ist die Klinge gar nicht so scharf?“
„Aber nein, Signore!“
„Heißt also, man kann den Griff auch als Hammer benutzen. Oder am Körper des Feindes reißen ... oder auch an seiner Waffe.“
„Sehr wahr, Signore, doch in jedem Fall verlangt diese dalmatische Waffe viel Kraft. Was ja bei Euch, Signore, kein Hindernis darstellen dürfte. Wollt Ihr Fechtstunden?“
„Danke, ich bin bei den Schützen“, sagt Zett. Denkt aber was ganz anderes. Denkt: „dalmatische Waffe“. Kaum bewege ich mich im venezianischen Bild, schon führt es mich zur Küste gegenüber. Paar Mal zu oft im Zwielicht über die Adria gefahren...
Hier geht es einstweilen nur einen Steinwurf ans andere Kanalufer, wo Cloerkes den Turm bestiegen hat und aus den Fenstern über der astronomischen Uhr winkt. Auch Zett ist im Nu oben. Vom Stiegenhaus hört er das Tock, Tock, Tock des mächtigen Uhrwerks und riecht den Dunst ranzigen Öls, mit dem sie die Zahnräder schmieren. Zett spürt die leichte Vibration des Bodens aus Terrazzo Marmorin – in der Lagune, beim Gezeitenwechsel, keine Seltenheit.
Cloerkes ist ganz in seinem Element: „Hier fühle ich mich wie in Mauro Codussis Uhrturm am Markusplatz! Obwohl das die Bretagne sein soll, sieht hier alles nach Venedig aus. Venezianità als Selling Point: Venedigs Bauten und Kanäle, die Festungstürme seiner Stützpunkte im Mittelmeer, seine Trachten, Fahnen, Wappen, Traditionen und sein Abwehrkampf gegen die Türken, bis ins letzte Bild, wo vorne Ursula gen Himmel fährt, der Hintergrund jedoch das heiß umkämpfte Skutari zeigt. Da machen wieder mal die Türken Stunk – ewige Störenfriede auf dem Balkan. Carpaccio tut nur so, als erzählte er die Tragödie der Jungfrauen mit den Hunnen. Was er tatsächlich für sein zeitgenössisches Publikum malt, ist Venedigs Geschichte mit den Türken.“
„Und ich dachte, wir tanzen mit der schönen Ursula“, stichelt Zett. Danach gehen sie getrennte Wege, beiderseits leicht vergrätzt.
Nein! Zett neigt wirklich nicht zum Tratsch, aber bei ihrem Vater eben war Ursula noch eine sittsame Brünette. Ein paar Bilder, ein paar Brücken weiter, reicht sie ihrem Bräutigam die Hand, als prachtvoller venezianisch blonder Lockenkopf, dem sich das geraffte rote Kleid um ein Bäuchlein fältelt, dessen Wölbung an Schwangerschaft gemahnt. Dabei begegnen sich die Brautleute hier zum allerersten Mal. Und so etwas wie unbefleckte Empfängnis ist für ihresgleichen nicht vorgesehen.
Wieder ein Bild weiter träumt Ursula von ihrer Mission. Zett kriecht millimeterweise auf die leere Doppelbetthälfte und unter ihre rote Decke, wo er seine Hand auf ihren Bauch gleiten lässt, der hier so flach und straff ist, als müsste sie ihre Galeere selber rudern. Vollkommen gleichmäßig hebt und senkt er sich beim Atmen, obwohl Ursula doch gerade den eigenen Tod träumt. Zett flüstert: „Warum schläfst du im Doppelbett, sag mal, warum muss der Schriftzug ‚Infanta‘ deine Jungfernschaft extra behaupten? Hm, Fräulein? Da wäre doch ein Einzelbett viel überzeugender!“
„Ach Ätherius“, seufzt sie, offenbar im Glauben, Zett wäre ihr Bräutigam.
Vom Fußende schnalzt der Engel der Weissagung tadelnd mit der Zunge, dieser Trauerkloß mit Märtyrerpalme und ausgefransten Flügeln. Sein unpassender blonder Lockenkopf erinnert Zett wieder an Ursulas Frisur:
„Okay, das Haar kannst du dir von Bild zu Bild färben.“ Er denkt nach. „Aber bei der Abfahrt aus England warst du schwanger – jetzt bist du’s nicht mehr. Abtreibung ausgeschlossen. Gab es da eine Fehlgeburt? Oder hast du dein Kind heimlich zur Welt gebracht? Schläft es jetzt bei der Amme? Warum sonst fehlt hier eine Wiege?“
Aufgeregt schlägt der Engel der Weissagung mit den Flügeln. Ursula jedoch schmiegt ihre Wange tiefer in die Hand. Atmet nach einem kleinen Seufzer ruhig weiter. Schnarcht nicht. In ihrem zarten Alter ist das Gaumensegel wohl noch straff. Sagt man nicht den Rückenschläfern nach, gänzlich angstfrei zu sein? Beneidenswert: ein Seelenfrieden, der ohne Sicherheit auskommt. Von dem zu kurz geratenen Engel ist im Ernstfall kein Schutz zu erwarten. Und der Welpe am Fußende des Bettkastens taugt nicht zum Wachhund, egal wie giftig er aus dem Bild heraus den Betrachter fixiert.
„Hey, Ursula, bist wahrscheinlich ein großes Mädchen und passt auf dich selber auf, oder? Dumm nur, dass du trotzdem am Ende der Geschichte tot bist!“
Bucholtz’ Gekritzel, so ausufernd es sich über die Seitenränder ergießt, ist nutzlos.
„Das Bäuchlein allerdings könntest du freundlicherweise erklären, ganz zu schweigen von deinem – sorry! – glasigen Blick vor den Toren Roms ... was gibt es da zu meckern, die verkrümmte Hornhaut gehört zu den Begleitsymptomen guter Hoffnung!“
Zett unterbricht, als der Engel der Weissagung heftiger mit den Flügeln schlägt, das Hündchen kläffend davon springt und der Luftzug im offenen Buch auf Ursulas Schreibtisch die Seiten umblättert. Als dann auch noch das Stundenglas splittert und Ihre Majestät, die Zeit, in der Gestalt von Sand durchs Zimmer spritzt, macht er sich davon. Hier ist im Augenblick wohl niemand an Aufklärung interessiert.
Überall Fassaden! An König Maurus’ Hof gibt es zum Beispiel eine Tendenz zur Angeberei. Offenbar will man alle Räumlichkeiten präsentieren, die man so hat. Warum sonst werden die fremden Diplomaten im Hafenpavillon begrüßt, durchaus schon sehr repräsentativ, bei der Abreise jedoch ins denkbar formellste Staatsgemach komplimentiert, wo ihnen König Maurus das Antwortschreiben aushändigt?
„Wow!“, ruft Cloerkes, plötzlich wieder im Bild. Er würdigt die Verabschiedung der Botschafter keines Blickes, sondern starrt gebannt auf die Rückwand des Saals, deren prachtvolle Marmorinkrustation ihn aus dem Häuschen bringt. Zeit seines Lebens hat er das Ornamentale geliebt. Geometrie lautet sein zweiter Vorname. Cloerkes’ Essbesteck bleibt nie ordentlich neben dem Teller, sondern wird zum gleichschenkligen Dreieck, in dessen Mitte zuverlässig Pfeffer und Salz zu stehen kommen. Die Marotte setzt sich durch unzählige geometrische Stricheleien in seinen Notizbüchern fort, die Zett nach Cloerkes’ Tod flüchtig durchblättert, ehe er sie verbrennt. Bis in Cloerkes’ Terminkalender hinein erstreckt sich der Tic. Die zeigen quasi auf jeder Seite mathematische Flächen. Fünf Termine am Tag – sowas kommt nicht untereinander neben die vorgedruckten Uhrzeiten, sondern an die Schenkel eines säuberlich gezeichneten Fünfecks.
Hier im Bild schmückt die komplexe Geometrie aus buntem Gestein die Rückwand des Thronsaals – vor einer Grundfläche aus Muschelkalk. Sinnige Anspielung, denn gleich nebenan, über dem Türsturz des Hauptportals, symbolisiert die Jakobsmuschel Pilgerschaft im Allgemeinen, gar nicht besonders auf Ursula gemünzt. An der Rückwand jedoch prangt zuinnerst ein Quadrat, gerahmt von einem Achteck, das von vier sechseckigen Parallelogrammen gebildet wird, sozusagen in die Länge gezogenen Bienenwaben. Da herum noch ein Quadrat – aus acht Quadraten. Da herum ein zweites Achteck, das zu allerletzt wieder von einem großen Quadrat aus demselben orangefarbenen Marmor gefasst wird. Kurz – eine geometrische Orgie ganz nach dem Geschmack des Willem Cloerkes.
„Ja, pass halt besser auf“, nörgelt der, „weil dein letztes Quadrat nämlich ein Rechteck ist. Aber ich will mal nicht so sein! Das Achteck wird unser Port in Carpaccios Welt. Wie sagen deine Speznaz-Kumpels so trefflich? Any time, any place, any mission! Nur auf Russisch.“
„Wieso Port?“, fragt Zett.
„Der Zyklus hat neun Bilder. Das Achteck acht Ecken. Durch jede Ecke kommen wir aus unserem Bild in eins der übrigen acht Bilder. Nenn es von mir aus Mnemotechnik. Ich teile mir die Welt halt geometrisch ein!“
„Jaja – auf gerader Linie in den Tod! Und ich muss das mit ansehen!“
Zett würde jetzt sehr gern entspannen. Schon wieder wird ihm unbehaglich, kribblig, nähert sich jener Zustand, den er am meisten fürchtet unter all seinen derzeitigen Zuständen. Am schlimmsten ist gar nicht die Dauerspannung, die kein Loslassen mehr kennt. Am schlimmsten ist die falsche Sorte Entspannung, die ihn mit einem dröhnenden, den ganzen Körper erfassenden Strom an den Boden schweißt, als flösse das Leben heraus. Aber so weit ist er heute noch nicht.
In der Apotheose sieht Ursula einfach nur blöd aus. Carpaccio hat sie in fades Blau gekleidet, das gar nichts mehr mit dem Himmelblau des Rombildes gemein hat.
Oder? Zett überlegt: Wie sieht hellblauer Atlas aus, wenn er mit Blut durchsuppt ist?
Über der Brust faltet sie die Hände. Der Maler verhüllt ihre Kontur mit steifem schwarzgoldenem Brokat, sodass über etwaige prä- oder postnatale Zustände keinerlei Aussage mehr zu treffen ist. Ursula steht auf einem Gestrüpp aus angeblich elftausend Palmwedeln, das unten am Strunk von einem doppelten Ring winziger Cherubim gebunden wird, plumpen lila Schmetterlingen, die wie ein Polizeikordon den Weg der toten Seelen in den Himmel sichern. Güldenes Licht umwabert Ursulas Gestalt auf dem Gestrüppplateau. Wölkchen rings um den güldenen Schein. Rings um die Wölkchen flattern Putti – die müssen dann ja wohl Seraphim sein, wenn die violette Sippschaft am Strunk Cherubim darstellt. Insgesamt bemüht man sich, Ursula zwischen zwei Fahnen empor zu hieven, in Rauschebarts weit geöffnete Arme.
Rings um die Strünke der Märtyrerpalmen knien sie alle. Eine niedliche Stupsnasige, eine vulgäre Beterin mit gotisch gefalteten Patschhändchen. Der falsche Papst, von dem nur die Augenpartie unter der Tiara sichtbar bleibt inmitten des Gewühls. Ein paar Mitglieder der Stifterfamilie Loredan, deren eines im Bildhintergrund das belagerte Skutari gegen die Türken verteidigt. Und schließlich die Besondere – die mit den langen Oberschenkeln. Da hat der Willem Cloerkes was verpasst! Das Gewand umschmeichelt die endlose Strecke von den Knien bis zur Hüfte. Ihre feingliedrige Hand streichelt den Palmenstrunk. Ihr zartes Gesicht schmiegt sie, wie verliebt in das Martyrium, an die Laibung, wo sich elftausend Palmwedel auffächern.
Der Chronologie nach ist sie tot, denn das Massaker hat ja schon im vorigen Bild stattgefunden. Aber wie diese schöne junge Frau, die in ihrem Leben alles hätte haben können, sich an das raschelnde Gestrüpp aus Stechpalmen schmiegt und ihre Wange am scharfen Teufelskraut blutig schneidet, das verstärkt in Zett jenes sattsam bekannte Kribbeln.
„Mach das nicht, Mädchen, hörst du! Verliebe dich nicht in den Tod! Nimm die Finger vom Grün und lass Ursula gen Himmel fahren. Hock nicht auf den Fersen, hörst du, krieg den Arsch hoch, dann bist du größer als die anderen. Die Loredan sorgen schon für sich selber. Den Papst gibt es gar nicht. Also nimm die kleine Stupsnase bei der Hand, lass die übrigen elftausend verzückten Kühe weiter von ihrer mystischen Vereinigung mit dem Rauschebart träumen und macht, dass ihr Land gewinnt! Im Hintergrund jagen die Türken. Die haben Skutari wieder mal nicht erobert. Jetzt wollen sie wenigstens Beute, Vieh und Frauen. Raus aus dem Bild, macht endlich voran, sonst endet ihr als Kollateralschaden!
Nun dröhnt es schon bedenklich im Kopf. Zett riecht den Dieselgestank von Panzermotoren. Ohne an Cloerkes’ Achteck einen Gedanken zu verschwenden, tut er einen Schritt zurück und steht nun im vorletzten Bild, wo er im Hinblick auf sein persönliches Wohlbefinden besser nicht stünde. Hier wird es ernst.
Todernst wird es im vorletzten Bild, mit dem Zett nicht mehr zurande kommt. Rechts des Fahnenmastes tragen sie Ursula auf einer Bahre davon – Kopfkissen und Decken erinnern an ihr träumerisches Doppelbett. Links geht es richtig zur Sache unter Fanfarengeschmetter. Wozu waren all die Kriegsübungen gut? Die Manöver? Schwärmt aus, bildet eine Linie, formt ein Karree, das ganze taktisch ausgebuffte Vor und Zurück, das die Hunnen doch angeblich so fürchten? Hier knien und stehen, hier fallen die Elftausend ohne den Hauch einer Chance, ganz ohne Gegenwehr. Hier wird nicht fair gekämpft, sondern massakriert – ein widerliches Schlachtfest. Der türkische Bogen des angeblichen Hunnen ist bis aufs äußerste gespannt. Der Pfeil zielt auf die kniende Ursula. Wenn Zett jetzt eingreift, trifft der Pfeil jemand anders – und schon steckt er in Ursulas Herz. So wehrlos. So über alle Maßen unfair! Haben diese Menschen wirklich ihr Schicksal frei gewählt, oder liegt all dem eine ganz andere, noch zu ermittelnde Geschichte zugrunde?
Zett tobt durch das Bild, bricht einem der Schlächter die Nase – gleichwohl fährt dem Papst dessen Kurzschwert durch den Hals. Nicht die Spur von militärischem Training! Hilflos blökende Lämmer. Dem Kardinal durchbohrt ein Armbrustbolzen die Wange, wenigstens nicht die Stirn, weil nämlich Zett dem Schützen in die Weichteile getreten hat. Gleichwohl ist die Wunde tödlich. Klumpig pladdert das Blut zu Boden. Sein süßer Eisengestank mischt sich mit dem, was Menschen im Tod und in Todesangst sonst noch unter sich lassen. Äxte und Schwerter werden geschwungen. Das Pochen, das Knirschen und Schmatzen beim Spalten der Schädel. Durchschnittene Hälse, Blut spritzt wie aus einem verkalkten Duschkopf. Pulverdampf. Dieselabgase. Schluchzende Menschen, am Haar unter tödliches Eisen gezerrt, während MG-Feuer ... überall kommt Zett zu spät. Er rettet keine einzige. Gemäß der Logik des Bilderzyklus bricht auch die Stupsnase zusammen, die Hochbeinige – welch obszöne Verschwendung von Leben! Dazu dirigiert Attila höchstpersönlich, rotgolden gepanzert, mit dem Reiterhammer seine Militärkapelle, scheppert serbischer Rechtsrock aus dem Lautsprecher...
Und das war’s dann! Taumelnd floh Zett aus den Bildern und sank auf das harte Lederpolster ohne Rücken- oder Seitenlehne, weshalb er hintenüber kippte und an die Decke starrte, als er zur Besinnung kam. Wie üblich bot der Himmel keine Antworten.
Zett stolperte durch das Museum, rempelte, ohne es zu wollen, Leute an, fiel peinlich auf, sodass ihm Rausschmiss drohte, Hausverbot, das vorzeitige unrühmliche Ende seines Auftrags. Aber er war nicht mehr Herr seiner selbst. Sinn und Kraft flossen aus ihm heraus, wie durch ein riesiges Leck in einem der vielen Schiffe des Zyklus’...
Falsches Bild: Durch ein Schiffsleck strömt Wasser herein, nicht hinaus. Nicht einmal mehr die simpelste Metapher bekam er hin!
Mit knapper Not gelangte er ins Freie und nahm Venedigs Brücken, die Gassen und Rivas, die Calle und Campi unter die Füße. Nicht, dass er gerannt wäre oder sich auch nur beeilt hätte. Doch endlose Stunden hindurch hielt er auch nicht mehr an.
Carpaccio malte Hunnen, meinte aber Türken, was letztlich ganz egal war, denn am Ende waren alle Hauptdarstellerinnen tot. Von den Anschlägen, die in Istanbul das britische Konsulat und die HSBC-Niederlassung trafen, merkte Zett nichts, während er auf nackten Füßen, Schuhe und Socken in der Hand, über die Riva degli Schiavoni schlurfte und fast bis zur Bettschwere gewandert war. Überhaupt merkte er wenig, sah den wahren Auftrag hinter dem Tarnnetz aus Bildern nicht und schon gar nicht Bucholtz’ zähe Diplomatie, gegen die in Istanbul erfolglos angebombt wurde.
Zett wusste nur, dass diese Bilder es ihm nicht leicht machten. In kurzen Pausen trainierte er mit dem Prachtband, kämpfte sich mühsam durch das Gekritzel über eine große Theateraufführung mit lauter Hunnen, merkte wohl, dass er es übertrieb, kam aber nicht dagegen an, denn er fühlte sich herausgefordert über jedes erträgliche Maß.
Den Zusammenbruch, kurz und heftig, überstand er in einer vermüllten Sackgasse beim Arsenal. Danach war er euphorisch, wie lange nicht mehr, bis die Euphorie wieder ins Gegenteil mündete – in die nächste Attacke des furchtbaren Kribbelns, das ihn glücklicherweise erst im Hotel überfiel. Nachdem Zett auch damit durch war, am frühen Freitagnachmittag, fand er endlich ein bisschen Schlaf.