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Marta und Julius stehen noch eine kurze Zeit schweigend vor der Grabstelle auf dem Altonaer Hauptfriedhof. Marta hatte eben noch die verwelkten Blumen entsorgt und einen kleinen Strauß weißer Rosen in eine der grünen Stecktöpfe vor dem Grabstein platziert. Der einzige Schmuck, den die ansonsten schlichte Grabstelle ziert. Nach einiger Zeit des Innehaltens schauen sie sich an, dann machen sich wieder auf den Rückweg zum Auto.

Schweigend gehen sie über die sandigen Wege des Friedhofes. Wäre dieser nicht ein Ort der Trauer, könnte man auch meinen, es handele sich um einen schönen Park. Herrliche alte Bäume säumen ihren Weg. Sie gehen an so manch prunkvollem Grab mit monumentalen Steinen, Kreuzen und Inschriften vorbei, lesen Namen, Geburts- und Sterbedaten. Hier liegen Familien und berühmte Väter der Stadt, Künstler, Senatoren oder erfolgreiche Kaufleute. Üppige Rhododendren, hohe Zypressen, kunstvoll beschnittene Buchsbäume und prächtige Oleander mit dunkelroten oder elfenbeinfarbenen Blüten zieren die Gräber und grenzen die großen Familiengräber hochherrschaftlich von den unbedeutenden, kleineren ab.

Selbst im Tod muss scheinbar der Nachwelt belegt werden, mit welcher Kapitalausstattung der Verstorbene seine Nachkommen versorgt hat. Dabei reicht wohl ein polierter Marmorblock nicht immer. Kleine Mausoleen, mit protzigen Säulen und kupfernen Dächern, mit eigener Wegeführung und schweren schwarzen Ankerketten, die als Zäunung satt an den gusseisernen Säulen hängen, sollen dem Besucher sagen: hier ruht jemand, der etwas ganz Besonderes war. Haltet Abstand, bestaunt sein Lebenswerk, habt Ehrfurcht. So beerdigt zu sein, ist eigentlich nur Königen vorbehalten. Sie sehen schwarze Obelisken, auf goldgefassten Fundamenten, die Spitze in den Himmel ragend, hoch hinaus, schier bis zu den Wolken reichend, einen langen Schatten auf andere Gräber werfend, so, als wollte der hier beerdigte Mensch auch noch nach seinem Ableben das warme Licht für sich allein reservieren.

Sie gehen auch an dem Feld der anonym Bestatteten vorbei. Eine große Wiese, mit breiten Sandwegen umrahmt, mit Holzbänken am Rande und einer angenehmen Stille. Wer hier liegt, wollte kein Aufheben um sich, keine Tränen vor poliertem Granit, wollte eingelassen werden, in den Schoß der Erde und sich den Ort nur mit anderen Seelen teilen, die wie er, ungestörten, schnörkellosen Frieden suchen.

Marta und Julius erreichen das weiße Gatter am Friedhofseingang. Erst jetzt möchten Sie wieder sprechen.

„Marta“, sagt Julius. „Ich weiß, dass er Dir mehr bedeutet hat …“

„Und ich weiß, dass Du es schon lange weißt.“ beruhigte ihn Marta.

„Du warst für mich immer meine Mutter. Dafür möchte ich Dir heute danken.“ Julius hakt Marta unter und drückt ihren Arm.

Marta möchte vom Thema ablenken: „Was wirst Du jetzt tun?“ fragt sie ihren jungen Begleiter. „Du musst jetzt an Dich denken, Dir schnell wieder einen Job suchen und alles, was zu regeln ist, hinter Dich bringen.“

„Leichter gesagt, als getan.“ seufzt Julius nachdenklich. „Wenn es der Job allein wäre. Aber die Schulden, die jetzt da sind, auch noch die Kosten für die Bestattung. Auf die Schnelle ist all das nicht einmal einfach so zu regeln.“ Und nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: „Ich bin völlig ratlos und ich habe Angst, Marta.“

„Ich habe leider keine Mittel, mit denen ich Dir helfen könnte.“ gibt Marta schweren Herzens zu. „Die letzten Piselotten auf meinem Sparbuch sind höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber ich werde sie Dir gerne geben. Vielleicht helfen diese Dir wenigstens, die ersten Hürden zu nehmen“

Julius schüttelt vehement den Kopf. „Das wirst Du schön bleiben lassen. Deinen Notgroschen werde ich ganz bestimmt nicht an mich reißen und den Bankfritzen in den Rachen schieben.“ Er ist ganz bestimmt in seiner Antwort. „Nein, eher überfalle ich einen Geldtransporter …“

„Gott bewahre!“ ruft Marta entsetzt. „Dich auch noch ins Unglück stürzen … nein! Und wenn ich Dich im Klo einsperren sollte, aber das würde ich schon zu verhindern wissen.“ Die alte Dame lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie es ernst meint. Aber sie lächelt bereits wieder.

„Ich gebe mich geschlagen“, sagt Julius schnell. „Dem Klo ziehe ich dann doch ein gutes Essen in Freiheit vor. Komm, ich lade Dich zu einer Portion Spaghetti di Mare bei Vito ein.“

„Machen wir, aber nur unter einer Bedingung“, antwortet Marta. „Ich zahle!“

Während sie zum Restaurant fahren, ist Marta wieder ganz still und nachdenklich. Sie mag es zwar sehr, ruhig im Auto zu sitzen und die schöne Stadt an sich vorbeiziehen zu lassen, doch ihre Gedanken lassen wenig Freude aufkommen. Sie schaut auf die großen alten Häuser aus den Zwanzigerjahren, die gepflegten Vorgärten und die großen Kastanien, die in dieser Gegend häufig rote Blüten tragen. Gerade hier, zwischen Altona, Ottensen und den sich gen Westen erstreckenden Elbvororten, ist der Unterschied zwischen den Armen und Reichen besonders deutlich erkennbar. Es ist fast wie eine Reise in eine andere Welt. Unerreichbar und mit kühler Schönheit.

An vielen Stellen ist das Bild Altonas geprägt von Mietskasernen, klapprigen Wohnblöcken und ärmlichen Straßen, die sich nach und nach zu kleinen Ghettos wandeln. Hier lebt der Teil der Bevölkerung, der immer ärmer wird. Die geringen Mieten saugen förmlich die Armut an. Hier leben kleine Rentner, Sozialhilfeempfänger und ausländische Familien. Die Straßenbilder sind geprägt von langen Mänteln, verschiedenen Sprachen und den kopftuchtragenden Frauen.

Wo sie jetzt aber fahren, nur einen Katzensprung von all dem entfernt, zwischen Elbstrand und der Osdorfer Landstraße, beginnt das Revier der Reichen. Villen, inmitten großer Gärten, mit alten Bäumen und hohen Zäunen, reihen sich schier ununterbrochen aneinander. Kaffeemühlen, so genannt, weil sie an die Form alter Kaffeemühlen erinnern, rote, meist quadratisch gebaute Backsteinhäuser mit weißen Fenstern und ausladenden Eingangstüren, stehen neben herrlichen mehrstöckigen Jugendstilvillen, stuckverziert, in strahlendem Weiß oder zartem Gelb, mit grünen Kupfertürmchen und breiten, geschwungenen Treppen hinauf zu ihren doppelflügeligen Eingangsportalen.

Sie fahren durch eine Kastanienallee, an hohen weißen Mauern vorbei, hinter denen ausladende Appartementblöcke liegen. Weiße Paläste mit Penthäusern und gläsernen Terrassen. Sie fahren über kopfsteingepflasterte, schmale Straßen, vorbei am Derbyplatz, dann entlang des Jenischparks mit seinem kleinen Schlösschen, passieren Straßen mit klangvollen Namen, wie Baron-Vogt-Straße, Jürgensallee oder Parkstraße. Hier zu wohnen ist ein Privileg und für die Allgemeinheit unerschwinglich.

Die Schulen dieser Gegend haben keine sozial unverträgliche Vermischung, kein Übergewicht der türkischen oder arabischen Sprache. Sie sind `sauber´, sie gehören den Erfolgreichen, erfreuen sich höchsten Spendenaufkommens und bleiben elitär, für andere unzugänglich. Die vielen Drogenprobleme der Kinder aus den umliegenden besten Häusern werden still und ohne Aufheben intern geregelt. Man kennt das seit Jahren und offiziell ist ein derartiges Thema nicht existent. Man hat hier keine Probleme und im Falle einer zu großen Auffälligkeit wird der Schüler dezent in ein adäquates Internat umgeschult.

Marta und Julius erreichen das italienische Restaurant, welches rückwärtig zur Altonaer Kinderklinik liegt. Sie steigen aus und setzen sich an einen Tisch, der von einer großen blau-weißen Markise überdeckt ist. Sie werden jetzt bestellen und sich Mühe geben, eine Stunde nicht an all ihre Probleme zu denken.

Während die beiden bei Antipasti und Spagetti di Mare sitzen, sind wir anderen fast in unmittelbarer Nähe. Der Altonaer Bahnhof liegt wenige Autominuten vom Restaurant entfernt und weder Marta, noch Julius ahnen, dass dort gerade etwas Aufregendes passiert.

Fredo hat es in der Bahnhofsvorhalle besonders eilig und geht unserem kleinen Männer-Trupp dominant voran. Willi versucht mit aller Macht unverdächtig auszusehen. Künstlich schlendert an der Seite von Ruprecht und fällt dabei so auf, dass er sich auch gleich ein Schild mit der Aufschrift `Taschendieb´ vor seine Brust hätte halten können. Fritz ist unsicher, ihm ist die Sache sichtlich unangenehm. So schwitzt er gerade noch mehr, als sonst. Fredo aber geht unverblümt an den Informationsschalter. Dort erkundigt er sich nach dem Ort, wo die Schließfächer für die Gepäckaufbewahrung zu finden sind. Ich sehe, wie ihm mit dem Finger die Richtung gezeigt wird. Fredo nickt der jungen Frau im Schalter einen kurzen Dank zu und deutet uns anderen mit dem Kopf dorthin, wo die Schließfächer sein sollen.

Kurz darauf nähern wir uns dem Bereich und zögern gleich wieder. Ruprecht gebietet, kurz noch einmal zusammen zu kommen und möchte etwas erklären.

„Also, ich denke, es ist nicht unbedingt förderlich, wenn wir uns jetzt zu fünft vor die Schließfächer begeben und blöd wie Ochsen dreinschauen.“ Er sieht uns reihum an und prüft unser Einverständnis. „Ich schlage vor, dass Fredo und ich zu zweit an die Schränke gehen und erst einmal schauen, ob es hier überhaupt ein Fach mit dieser Nummer gibt. Sollte es kein Fach geben, dann kommen wir ohne weitere Anzeichen einfach wieder zu Euch zurück. Ihr könnt ja eine Rauchen und Euch über das Wetter unterhalten.“

Er schaut wieder in unsere Runde. Kein Widerspruch.

„Sollte es diese Nummer tatsächlich hier geben, wird sich Fredo unauffällig so hinstellen, dass ich kurz den Schlüssel probieren kann. Passt dieser nicht, brechen wir ab und kommen ebenfalls wieder sofort zu Euch zurück.“

Nach einer kleinen Pause fragt er: „Ist das so klar? Oder gibt es noch Fragen?“

Wir schütteln alle verneinend den Kopf. Unsere Anspannung aber wächst sekündlich und ich spüre, wie mir der Schweiß unter meinem Hemd den Rücken herunterläuft. Willi ist knallrot bis blau im Gesicht und ich habe für eine kleine Sekunde Angst, dass er uns jetzt hier umfällt.

Ruprecht wendet sich noch kurz an Willi: „Und Du mein Freund, komme bloß nicht auf den Gedanken Deine Lippen zu spitzen und herum zu pfeifen. Pfeifen ist noch verdächtiger, als sich ständig umzusehen.“ Er schaut noch kurz in unsere Gesichter. „Bleibt alle ganz locker – wir machen das schon!“

Dann geht er mit Fredo schlendernd zu den Fächern. Während sie näherkommen, schauen sie schon nach den erkennbaren Schließfachnummern und schlagen dann einen Haken nach links, um gleich wieder rechts hinter der ersten Reihe zu verschwinden. Meine Spannung wächst noch einmal und ich zittere, so dass ich meine Hände in die Hosentasche stecke. Ich will mit meinen drei bei mir stehenden Freunden ein lockeres Thema anfangen, mir fällt aber keines ein. Schließlich rede ich tatsächlich über das Wetter:

„Sicher wird es in den nächsten Stunden trocken bleiben.“ vermute ich und lasse dabei die Schließfächer nicht aus den Augen.

„Naja, man kann ja nie wissen. Könnte auch regnen.“ erwidert Fritz.

„Ich glaube aber, dass es sonnig bleiben wird.“ sage ich wieder.

„Oder es regnet.“ auch Willi beteiligt sich.

„Jaaah …. oder eben das.“ Ich bin mir vollkommen bewusst, dass wir uns absolut bescheuert verhalten und hoffe, dass uns niemand belauscht.

Aber wer sollte sich schon für uns hier interessieren. Die Menschen um uns herum huschen und eilen entweder von den Zügen heraus auf die Straßen, oder eben herein, um ihre Bahnen nicht zu verpassen. Es ist geschäftig und teilweise hektisch. An den vollsten Stellen stehen Männer, die die `Penner-Zeitung´ verkaufen, an verschiedenen Ecken sitzen Obdachlose, die mit einem Pappschild am Boden um ein Almosen bitten. Ein einzelner Bettler humpelt an einem krummen Gehstock langsam durch den Bahnhof. Er hält einen leeren Plastikbecher vor sich, solch einen, den es in den Kaffeeautomaten gibt. Zitternd, stumm und irgendwie penetrant hält er diesen den vorbeihuschenden Passanten hin. Aber nur selten fällt dort etwas für ihn ab.

Ich drehe mich kurz um und sehe, wie zwei Polizisten auf ihrem Streifengang in unsere Richtung kommen. Einer von ihnen trägt eine Maschinenpistole vor dem Bauch. Beide haben Schusswesten an, tragen an ihren Koppeln gut gesicherte Pistolen, und ihre weißen Mützen signalisieren etwas Hoheitliches. Ich werde nervös, denn mit zwei Polizisten möchte ich mich hier und jetzt nicht unbedingt unterhalten. Sie kommen geradewegs auf uns zu. Mir läuft sofort ein kalter Schweiß den Rücken herunter. Was wollen die, frage ich mich. Sehen wir aus, wie Schwerverbrecher? Fritz legt beruhigend seinen Arm auf den meinen und drückt mich kurz dreimal hintereinander.

„Wenn Tante Erna gleich kommt, dann siehst Du zu …“ dabei sieht er mir direkt und fest in die Augen, „…, dass Du den Rollstuhl aus dem Waggon bekommst.“ Das Wort `Rollstuhl´ betont er dabei besonders.

Ich sehe ihn dämlich an. Wer ist Tante Erna? Fritz wird lauter.

„Und du schaffst das Gepäck von Tante Erna dann auf einen Gepäckwagen, damit wir nicht so viel schleppen müssen.“ Er hat sich an Willi gewendet und der nickt, ohne dass dieser irgendein Wort verstanden hat.

Die Polizisten sind jetzt auf unserer Höhe und schauen uns an.

Fritz fährt unbekümmert fort: „Draußen sind ja ausreichend Taxen. Ich denke, da wir auch eine dabei sein, die Tante Ernas Rollstuhl mitbekommt.“ Auch dieses Mal betonte er den Rollstuhl wieder.

Die Polizisten sind an uns vorbei und haben nun einen der Obdachlosen ins Visier genommen, der an der Ecke gerade lauthals Passanten anpöbelt. Ich danke dem Mann insgeheim für sein Dasein und werde ihm dafür nachher einen Euro in die Hand drücken.

Da erscheinen Ruprecht und Fredo wieder. Sie kommen um die Ecke der Schließfachanlage und ihren Gesichtern ist rein gar nichts zu entnehmen. Sie sind jetzt bei uns und Fredo raunzt uns an: „Los kommt. Nicht hier. Wir müssen Ruhe haben.“

Wir ziehen uns gemeinsam zurück und beschließen, dass wir uns in meine Wohnung begeben. Wir gehen besonders schnell. Wir laufen schon fast und Fredo gibt das Tempo vor. Willi stöhnt und schnauft, er ist derlei Bewegung nicht gewohnt und ich habe wieder Angst, dass er den Weg zurück vielleicht nicht übersteht. Ich bin ich Hochspannung, mich fröstelt es leicht und merke, wie meine Hände zittern.

Die Strecke, so schnell wir sie auch bewältigen, will kein Ende nehmen. Unsere Gedanken kreisen wirr. Weder Fredo noch Ruprecht haben irgendeinen Ton verlauten lassen. Sie gehen beide mit erster Mine voran und wir anderen eilen ihnen wie Lemminge hinterher. Wir erreichen die Straße mit unserem Haus und eilen durch das Tor in den Hinterhof. Mit doppelten Schritten jagen wir die Treppenstufen hinauf zu meiner Wohnung und als wir an meiner Türe ankommen, sind wir völlig außer Atem. Ich nehme meinen Wohnungsschlüssel und zittere so, dass ich ihn fast nicht ins Schloss bekomme. Mein Herz rast und als wir eintreten, schließe ich hinter allen mit Schwung die Eingangstüre. Wir lassen uns in die Sessel fallen. Nur Ruprecht steht mit dem Rücken zu uns am Fenster und schaut hinaus. Die Spannung ist unerträglich und alle warten auf die erlösende Information der beiden.

Fredo legt den Schließfachschlüssel vor unseren Augen in die Mitte meines Wohnzimmertisches. Ruprecht dreht sich jetzt um, zieht etwas aus der Innentasche seines Sakkos und legt es ebenfalls auf den Tisch, direkt neben den Schlüssel. Es sind mehrere Fünfzig-Euro-Scheine, glatt und schier, als kämen sie gerade aus der Druckerpresse.

Ich traue meinen Augen nicht und in meinem Kopf kreisen sofort die wildesten Gedanken. Mit offenen Mündern gaffen wir auf die Scheine – keiner von uns wagt etwas zu sagen.

Ruprecht aber erklärt ganz ruhig: „Davon sind noch ein paar Bündel im Schließfach.“ Er klingt fast so, als rede er von alten Socken, die ein Reisender dort vergessen hat.

„Wieviel?“ frage ich.

„Keine Ahnung.“ Antwortet Ruprecht. „Es sind zehn Bündel. Geschätzt vielleicht irgendwas zwischen dreißig- und fünfzigtausend Euro.“

„Habt ihr das denn nicht gezählt?“ Willi ist leicht entrüstet.

„Gezählt?“ ruft Fredo. „Ja, wir stellen uns da mitten im Bahnhof hin, und zählen Geld.“ Seine Augen blitzen Willi an. „Mensch, für wie blöd hältst Du uns eigentlich?“

„In dem Schließfach ist noch was.“ berichtet Ruprecht weiter. Wir halten alle sofort inne und schauen ihn gespannt an.

„Ein Karton. Und wenn ich mich mein Laienverstand nicht irren lässt, dann sind darin verschiedene Druckplatten.“ Ruprecht schaut wieder aus dem Fenster.

Uns hat es wieder die Sprache verschlagen. Hat er eben `Druckplatten´ gesagt? Wenn das stimmt, dann können es nur solche sein, mit denen man das Geldpapier bedrucken kann. Das kann der einzige Grund sein, warum Kalli Druckplatten in einem Schließfach versteckt hat.

Nach kurzer Besinnung greife ich auf den Tisch und nehme die Fünfziger in die Hand. Ich verteile die beiden anderen Scheine an die Runde. Wir alle betasten das Papier und halten die Scheine gegen das Licht. Sie fühlen sich nicht nur echt an, sie sehen auch so aus, zumindest auf den ersten Blick. Ich selbst bin überhaupt nicht in der Lage, etwas Gefälschtes zu entdecken. Diese Scheine könnte man mir ohne weiteres unterjubeln – ich würde nichtsahnend ohne Argwohn bleiben.

„Ist das denn nun Falschgeld … oder … ?“ fragt Fritz als Erster.

Fredo ist sich sicher: „Darauf kannst Du einen lassen …“ Er setzt sich auf die Lehne meines Sessels. „Und zwar einen, der richtig stinkt.“

Ruprecht nimmt seine Geldbörse aus der Tasche und holt einen Fünfziger heraus. Wir alle greifen in unsere Portemonnaies. Nur Willi und ich haben noch Fünfziger. Wir vergleichen unsere mit den Noten aus dem Schließfach. Es dauert einige Minuten, bis wir alle einmal darauf geschaut haben. Dabei fühlen wir jeweils in der einen Hand den Schein von mir, in der anderen den aus dem Schließfach, halten beide nebeneinander gegen das Licht, fahren mit der Fingerspitze über die Scheine, drehen sie um und wiederholen das Gleiche für die andere Seite.

Willi scheint besorgt: „Wir müssen uns merken, welcher Schein von uns ist.“ gib er zu bedenken.

Und er hat Recht. Die beiden Scheine ähneln sich nicht nur, wie ein Ei dem anderen, sie sind für uns Laien überhaupt nicht auseinander zu halten. Wir haben kein geschultes Auge für die Echtheitsprüfung von Banknoten und das bisschen Wissen über die Sicherheitsmerkmale reicht nicht, um eine verlässliche Expertise abgeben zu können. Ich habe mir den Silberstreifen angesehen: absolut identisch. Dann das Wasserzeichen: ebenso exakt, wie das auf dem Originalschein. Farben und Druck sind nicht wirklich zu unterscheiden und selbst das Hologramm wirkt auf mich bei beiden nahezu gleich.

Ich nehme meine Leselupe zur Hand und mache das Oberlicht an. Ich suche mir eine Stelle auf dem Schein von mir, die ich sofort darauf mit der gleichen Stelle des anderen Scheines vergleiche. Ich wechsele dabei schnell hin und her. Ich will mir kleine Details merken, die vielleicht unterschiedlich sind. Ich kann nichts feststellen. Beim Hologramm allerdings fällt mir auf, dass das auf dem Schein aus meinem Portemonnaie in der Vergrößerung anders schimmert, nicht ganz so metallisch, finde ich. Darüber hinaus kann ich nichts Auffälliges entdecken.

Fredo nimmt die mitgebrachten Scheine nochmals in die Hand und sieht sich diese nacheinander einzeln an. „Sie haben alle unterschiedliche Nummern.“ bemerkt er. „Auch das hat Kalli bedacht.“

„Moment einmal“, sage ich, „Du sagst also, dass die Scheine aus dem Schließfach Blüten von Kalli sind? Dass er demnach Falschgeld produziert hat?“ Ich bin immer noch entrüstet und will es nicht fassen.

„Mein Freund“, antwortet Fredo und richtet sich an alle, „ich sage das nicht nur, es ist für mich eine klare Sache. Warum wohl sollte man so viel Geld in ein Bahnhofsschließfach legen? Gleich neben ein paar Druckplatten, die auf den ersten Blick, dann aber auch sehr deutlich zu erkennen, das Muster von einem Fünfziger aufweisen? Und nebenbei liegt im Hofgebäude ein Haufen Banknotenpapier – ebenso Fünfziger?“ Er macht eine rhetorische Pause. „Für mich ist eins und eins gleich zwei. Hat jemand eine andere Erklärung zu bieten?“

Keiner von uns kann dem etwas entgegen setzen. Fredo hat es auf den Punkt gebracht – auch wenn wir es als schmerzlich empfinden, dass sich unsere Vorahnungen in dieser Sache zu bestätigen scheinen.

Fritz versucht dennoch eine andere Überlegung zu platzieren: „Geld im Schließfach, aber selbst hohe Schulden?“ Er ist dabei nachdenklich, aber bestimmt. „Das wäre doch irgendwie idiotisch…“

Ruprecht fährt dazwischen: „Es sei denn, der liebe Kalli hatte einen gewichtigen Grund dafür – oder einfach nur ein sauschlechtes Gewissen.“ Dann fährt er fort: „Im Karton ist übrigens noch etwas. Ein schwarzes Schulheft mit Notizen. Ich konnte zwar nicht lesen, um was darin stand, aber ich habe eine Vermutung.“

„Denke bitte laut …“ flehe ich.

Ruprecht ist hochkonzentriert. „Nun ja, es werden möglicherweise Hinweise zu der Druckweise sein, die er sich da notiert hat. Vielleicht so etwas, wie eine Verfahrensanleitung oder Hinweise, wie er bestimmte Dinge gemacht hat, damit es bei einer Wiederholung gleich wird und er anfängliche Fehler vermeiden kann. So würde ich das jedenfalls gemacht haben. Und das würde ich dann auch in das Schließfach packen.“

Ich denke weiter: „Vielleicht hat er aber auch notiert, wo er bereits Falschgeld in den Umlauf gebracht hat.“

Die anderen schauen verdutzt und ich stelle fest, dass meine Vermutung tatsächlich wohl nicht auszuschließen ist. Es ist Zeit für etwas Alkoholisches. Ich stelle Schnapsgläser auf den Tisch und schenke Wodka ein. Wir haben uns jetzt alle einen Schluck verdient. Da sitzen wir nun, vor uns ein Schlüssel und ein paar Geldscheine, die offensichtlich von unserem verstorbenen Freund gefälscht wurden, und zwar so gut, dass es uns schwerfällt, das auch wirklich zu glauben.

Fredo kippt seinen Schnaps in einem Zuge weg. „Die Dinger sind eine Wucht!“ ruft er fast ein wenig begeistert. „Um nicht zu sagen: eine Riesenwucht!“

Ruprecht schüttelt den Kopf: „Wer hätte das gedacht? Wie lange hat Kalli wohl schon die gefälschten Scheine in den Umlauf gebracht?“

Meinen Glauben an das Gute will ich nicht so leicht aufgeben. „Ich denke, nicht lange.“ sage ich schnell. „Ich glaube eher, er hat das ausprobiert und am Ende hat ihn der Mut verlassen.“

„Oder das schlechte Gewissen hat ihn eingeholt.“ Entgegnet mir Fritz.

Ruprecht verlangte einen zweiten Wodka. „Wie auch immer. Ich glaube aber auch nicht, dass er – wenn überhaupt – viel davon unter die Leute gebracht hat.“

Wir denken nach und es ist wieder still unter uns geworden. Wir haben heute etwas Ungeheuerliches entdeckt und dennoch sind wir letztlich nicht so tief bestürzt, wie es anständige Menschen in einer solchen Situation eigentlich sein sollten. Auf die Idee, in diesem Moment zur Polizei zu gehen, ehe es zu spät dafür ist, ist bisher auch niemand gekommen und ich selbst wische diesen Gedankenansatz gerade wieder weg, ohne zu wissen, warum ich das eigentlich tue. Die mangelnde Betroffenheit in Bezug auf unsere scheinbar doch leicht brüchige Moral und Sittlichkeit ist unübersehbar.

Wir sind zwar irgendwie betroffen, doch es scheint, dass der Grund hierfür darin zu suchen ist, dass wir uns eher mit der Frage zu plagen begonnen haben, was wir nun mit all diesen Erkenntnissen anstellen sollen. Was bedeuten diese jetzt für uns alle, für jeden einzelnen? Ich fühle mich ein wenig hin- und hergerissen. Bin ich denn schon so abgestumpft, dass ich nicht aufspringe und eine Moralpredigt vom Stapel lasse? Bin ich etwa latent kriminell und bereit, das, was Kalli getan hat, gutzuheißen und vielleicht sogar für mich zu verwerten?

Was ist mit Ruprecht, unserem Erzengel der Gesetzestreue? Er müsste jetzt doch eine flammende Rede über tugendhaftes Bürgertum und gnadenlose Strafjustiz halten, uns alle auffordern, sofort und mit aller Macht dem Unrecht Einhalt zu gebieten. Er ist aber ebenso still, wie wir alle hier. Keiner mag eine Brandrede halten. Aber so richtig bestürzt ist auch keiner von uns. Wir sitzen eher da, mit aufkeimender Faszination, lassen die Scheine immer wieder kreisen und blicken fast ein wenig diebisch lauernd in die Runde. Wer wird wohl als Erster etwas sagen? Wer wird den Mut haben, das auszusprechen, was wir alle denken?

Wenn Marta jetzt hier säße, dann würde sie uns donnerhaft die Köpfe waschen und uns mit zischenden Stockhieben zur nächsten Polizeistation treiben. Mindestens aber würde sie so lange nicht Ruhe geben, bevor nicht alle Fundstücke, Scheine wie Platten, das noch unbenutzte Papier unwiederbringlich vernichtet wären. Sie würde selbst das Benzin über den Scheiterhaufen schütten und den Streichholz zünden. Ohne eine einzige Millisekunde dabei zu zögern, das vernichtende Feuer höchst persönlich zu entfachen. Sie würde warten, bis alles bis zur Unkenntlichkeit verglüht ist, uns dann zu einem fulminanten Abendessen einladen, um ab diesem Moment nie wieder ein Wort über die ganze Sache zu verlieren.

Aber wir hier, wir sitzen mit zunehmend aufkommenden Zügen Schwerkrimineller im Gesicht da und warten darauf, dass irgendeiner unter uns den erlösenden Satz bringt. Habe ich gerade erlösend gedacht? Ja, tatsächlich: erlösend. Wir sitzen doch auf einem Schatz, den wir nur noch zu heben brauchen. Ein Virtuose der Druckkunst hat uns diesen hinterlassen. Er hat es uns vorgemacht und wir haben nun die Möglichkeit, es ihm nachzumachen, auszuwerten, auszukosten. Alles, was wir dafür brauchen, ist scheinbar vorhanden. Und wenn man es Recht bedenkt …

„… dann haben wir eine vollständige, funktionstüchtige und kampferprobte Druckerei.“ sagt Fredo plötzlich in die Stille hinein. „Wir können mehr Geld drucken, als wir jemals ausgeben können. Wir brauchen nur loszulegen.“

„Du bist völlig durchgeknallt!“ kontert Ruprecht. Aber so richtig ernst klingt das nicht mehr.

Und dann ist da noch dieses Funkeln, das Blitzen in unseren Augen. Verrät sich so die Versuchung? Haben sich so Adam und Eva angesehen, als sie den Apfel in der Hand hielten? Sehe ich in unseren Blicken die pure Lust zum verbotenen Abenteuer? Das, was Kindern in den Augen steht, wenn sie zur Mutprobe stehlen gehen? Oder sehe ich das Kriminelle in uns, den unbändigen Trieb zu einem Verbrechen? Die perfide Lust an der Illegalität und den kühnen Traum vom perfekten Verbrechen? Sehe ich das, was Bonny und Clyde in den Augen gestanden haben könnte, wenn sie selbst in den Spiegel schauten.

Das Kontingent

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