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In Kairo sitz Dr. Bashir Faruq an seinem edlen Schreibtisch. Die feine Maserung der Olivenbaumwurzel verleiht diesem eine besondere Eleganz und Bedeutung. Auf ihm steht das Namensschild aus Kupfer, eine englische Leselampe mit einem grünen Glasschirm und es liegen verschiedene Aktenmappen, fein säuberlich aufeinandergestapelt, in blauen, grünen, gelben und roten Pappeinschlägen, die mit mehrfarbig geflochtenen Kordeln zusammengebunden sind.

Faruq liest in einem dickeren Dokument und ist besorgt, über die Informationen, die ihm gerade vorgelegt wurden. Hiernach überlegen die europäischen Staaten, die Einreise von Flüchtlingen aus den IS-gepeinigten Regionen zu unterbinden, ja durch Erschwernisse förmlich zu verbieten. Hierbei steht besonders die Türkei im Visier der Europäer. Von den über 1,5 Millionen Menschen, die in der jüngsten Vergangenheit in die Türkei geflohen sind, seien zwar mehrere hundert Tausend wieder nach Syrien zurückgekehrt, aber nur knapp Dreihunderttausend lebten dort in Flüchtlingslägern.

Die meisten der Menschen hätten sich in den Regionen unkontrolliert verteilt, es herrscht kaum noch verlässliche Übersicht und es mischen sich immer mehr Terrorkämpfer, Attentäter und Menschen aus nicht betroffenen Regionen unter die Flüchtlinge, um über diese Weise einen schnellen Einreiseweg, legal und illegal, nach Europa zu erhalten.

Somit wird die Türkei, dem Bericht zur Folge, nunmehr nicht mehr allein als Aufnahmeland für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, sondern auch als Gefahrenquelle und als Transitland für Migranten, Wirtschaftsflüchtlinge aus Entwicklungsländern angesehen. Migranten, die nach den vorliegenden Informationen die türkischen Ausnahmeregelungen als sichere Streckenmöglichkeit nutzen, um von den Lägern und vor allen den unkontrollierten Flüchtlings-Camps aus über Griechenland oder Bulgarien nach Europa zu gelangen. Eine weitaus weniger lebensbedrohende Passage, als in einem dieser Todesboote über das Mittelmeer zu fliehen. Sie nutzen die "Politik der offenen Tür" für syrische Flüchtlinge und tragen dazu bei, dass die Türkei attraktiv ist, um von hier aus illegale Grenzübertritte zu versuchen. Zudem wird mit größter Sicherheit davon ausgegangen, dass die Türkei auch ein Transitland für Menschen aus der ganzen Welt ist, die sich dem IS, der al-Nusra oder anderen Terroreinheiten in Syrien oder dem Iran anschließen, um dort zu kämpfen. Die Türkei, mit seiner über 900 Kilometer langen Grenze nach Syrien, wäre somit ein Transferraum mit unüberschaubaren Mechanismen und Konsequenzen.

Faruq versteht diesen Bericht richtig. Er muss befürchten, dieser gibt den Auftakt dafür, die Freizügigkeit der Flüchtlinge nicht nur erheblich einzuschränken, sondern vielmehr zurückzuschrauben und eine Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen zu erzielen. Die Europäer sorgen sich, dass über diese Kanäle eine zu große Schar von Flüchtlingen bis in ihre Länder gelangt. Sie glauben ja ohnehin, nicht noch mehr leisten zu können, ihre Kontingente seien erschöpft, in vielen EU-Ländern sogar überschritten und die Abwehrhaltung nimmt täglich zu. Millionen Menschen stehen in ganz Afrika und Osteuropa in den Startlöchern, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Sie streben in die Kernländer Europas – passieren aber dabei zwangläufig die Außengebiete, die Länder, die die Grenzen Europas zu schützen haben. Das wird nicht ohne Konflikte bleiben. Und wenn sich die Welle erst einmal in Bewegung gesetzt hat, wird es kein Halten mehr geben. Das werden die Regierungen der einzelnen Länder wissen – und Europa wird reagieren. Früher oder später.

Die in diesem Bericht aufgeführten Tatsachen werden möglicher Weise Regierungen und Staaten wachrütteln, das Abwehrverhalten einzelner verstärken oder die Gemeinschaft zerrütten, auseinander dividieren. Länder, wie Griechenland, haben zudem selbst so viele innenpolitische und wirtschaftliche Sorgen, dass jeder Flüchtling, der in ihr Land kommt, sei es auch nur für den Transfer, eine Belastung bedeutet. Darin erklärt sich wohl auch gerade das Verhalten Griechischer Behörden im Umgang mit Asylanten und Flüchtlingen, die derzeit in der Regel gleich wieder zurück abgeschoben werden, zur Abschreckung zuvor vielleicht noch eine Zeit im Gefängnis sitzen müssen.

Eine Verschärfung der Lage in der Türkei, ein Land, das Faruq bisher ganz bewusst als eine der sinnreichsten Drehscheiben für die Flüchtlingsströmungen verstanden hat, bedeutet unmittelbar auch eine Reduzierung der zuzulassenden Grenzübergänge, eine Verschärfung der Kontrollen, bis hin zu einer generellen Zurückweisung. Die Konsequenzen für die syrischen Flüchtlinge, die zum Teil unmittelbar aus den Kampfgebieten fliehen, weder über Besitz noch Mittel verfügen, werden unüberschaubar. Faruq weiß, dass das Leben kosten wird.

Die türkische Regierung hat sich ohnehin bisher sehr schwer getan, dem sich direkt vor ihren Augen abspielenden Massakern des IS nachhaltig entgegenzustellen. Gerade in Bezug auf die Region Kobane, in der vor allem die kurdische Minderheit lebt, wäre es jederzeit möglich, die Truppen der Perschmerga zu unterstützen, selbst wenn es nur durch Waffenlieferungen und Logistik erfolgte. Doch die türkische Hilfe blieb in derlei Punkten bisher aus. Und der von den USA geprägte Teil der Weltgemeinschaft hat hieran auch nicht viel zu ändern versucht.

Der internationale Druck auf die Türkei konzentrierte sich in erster Line darauf, dem Flüchtlingsleid im angrenzenden Syrien oder dem Iran nicht länger nur zuzusehen, sondern wenigstens die Grenzen zu öffnen und Auffangläger bereit zu stellen. Auch die Unterstellung, die Türken sähen dem Holocaust an den Kurden mit Genugtuung zu, da es schließlich die Kurden waren, die für innenpolitische Unruhen gegenüber der türkischen Regierung sorgten, haben dazu geführt, dass die Türkei sich Zug um Zug aufnahmewilliger gezeigt hat. Gründe, die jetzt geliefert werden und eine Umkehr dieser Zugeständnisse rechtfertigen ließen, wären der Türkei somit durchaus Recht. Ebenso Recht, wie jedes Argument, dass kriegerische Vernichtungsschläge gegen die Kurden rechtfertigen ließen.

Faruq befürchtet deshalb, dass es bald für viele Menschen zu spät sein könnte, den Weg in die türkischen Flüchtlingslager einzuschlagen. Seine Möglichkeiten sind aber weiterstgehend erschöpft. Die diplomatische Lage ist zwar offen, aber die ansteigende Verweigerung ist deutlich wahrnehmbar. Die reichen Länder haben eigene Schwierigkeiten. Die innenpolitischen Lagen sind gespannt und die Regierungen haben es mit einer zunehmenden Ablehnung in ihren Bevölkerungen zu tun, weitere Menschen aus den orientalischen Krisenherden in ihr Land zu lassen.

In Deutschland formiert sich eine immer größer werdende Liga gegen muslimische Einwanderer, unabhängig, ob es sich um Flüchtlinge oder Migranten handelt. Die rechten Flügel der Gesellschaft erstarken zunehmend und untermischen sich mit bürgerlichen Meinungsträgern aller sozialen Schichten. Die bisher eher liberale Haltung gegenüber den muslimischen Bevölkerungsschichten wandelt sich zunehmend in offene Ablehnung. Es brennen wieder die ersten Asylantenheime und es formieren sich extremistische Gruppierungen die das Volk aufwiegeln. Hier wird sich schnell die Frage anschließen, welchen Ausgang das alles mittelfristig nehmen wird, ob sich die Politik dauerhaft einem Volk widersetzen kann, dass sich vor Überfremdung fürchtet und rebelliert.

Die Menschen hören von Terroristen, die sich aus den eigenen Reihen oder den unzureichend integrierten Bürgern mit Migrationshintergrund bilden und dem IS zuströmen. Sie sehen Hassprediger auf den Märkten stehen und den Koran, die so heilige Schrift, für ihre Zwecke benutzen und Ängste schüren. Die Menschen befürchten eine anstehende Überflutung ihres Landes mit Andersgläubigen und lassen Unterscheidungen immer weniger zu, ebenso wie eine Anführung humanitärer Prinzipien.

Faruq ist sich sicher, dass es zu Eskalationen in dieser Frage kommen wird. Das wird schnell dazu führen, dass sich der innenpolitische Druck in den Staaten wie ein Propf festsetzen wird. Ein Propf, der den Weg zur Rettung, die Reise in die Freiheit und Sicherheit verschließt.

Was aber kann er noch tun? Er, der einer von denjenigen ist, der diplomatische Beziehungen in die höchsten Kreise unterhält, der inmitten des politischen Geschehens wirkt und dennoch keine Hebel in Händen hält, eine Umkehr, eine Besserung, eine Erlösung zu erzielen. Dr. Bashir Faruq: ein Mann mit so viel Einfluss und doch ein zahnloser Tiger. Wie kann er noch in sein eigenen Antlitz schauen, wissend, dass noch viel, viel mehr gemacht werden müsste, um nur einen Teil des Leides zu lindern.

Und er sitzt derweil an seinem eleganten Schreibtisch in Kairo, fliegt in Länder des Wohlstandes, wird vorgelassen, gehört und wieder nach Hause geschickt. Die Hände sind ihm gebunden, mehr kann er nicht tun, das weiß er nur zu gut.

Und Faruq fühlt sich klein und hilflos.

Das Kontingent

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