Читать книгу Das Kontingent - Stefan G. Rohr - Страница 13

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Zur gleichen Zeit grübelt einige tausend Kilometer entfernt der alte al-Basir und macht sich Sorgen, was zu tun sei. Die Situation in Kobane, auch wenn sie immer noch in dem Stadtteil zugegen sind, der gewisse Sicherheit verspricht, wird die Situation doch zunehmend unüberschaubarer und lebensbedrohlicher. Er wird seine Familie hier nicht schützen können. Er, als alter Mann, schon gar nicht mehr. Und was soll eine alte Frau machen können, eine junge Mutter oder ein kleines Kind? Wenn der Sturm sie erfasst, dann sind sie verloren. Er selbst hat keine Angst um sich, er würde dem Tod ins Auge schauen, erst Recht, wenn er mit diesem seine Lieben schützen oder gar retten könnte. Die Gewalt aber hat zu große Ausmaße angenommen. Ein Flächenbrand, der das ganze Land erfasst hat, weite Regionen über die Grenzen hinaus und niemand ist nirgends mehr wirklich sicher.

Seine Tochter ist über den sechsten Monat. Seit Monaten sind sie unterwegs und haben keinerlei ärztliche Versorgung erhalten. Die Anstrengungen schaden ihr und er befürchtet, dass sie das Kind verlieren könnte. Und bald wird sie niederkommen. Seine Frau kann helfen, aber wird das reichen? Wie soll es mit einem Neugeborenen auf ihrem beschwerlichen Weg weitergehen? Hat das Kleine überhaupt eine Chance, wenn sie hier bleiben? Und die Gefahr, dass sie bei einem Vorstoß von den Mordtruppen des IS aufgebracht werden, in deren Hände fallen, ist jederzeit gegeben. Zu nah ist die Kampflinie und der Tod wartet jeden Tag aufs neu, holt sich seine Opfer.

Er weiß, was die Mörderbanden mit gefangenen Frauen machen. Erst Recht mit Christen. Ein schneller Tod wäre in einem solchen Moment eine Gnade für alle. Damit wäre jedoch nicht zu rechnen, im Gegenteil. Die Grausamkeiten, die er gesehen, gehört und die so unfassbar sind, dass jede Beschreibung fehlt, zerbrechen ihm schon beim ersten Gedanken daran sein Herz und es dreht sich ihm fast der Magen um. Sie müssen hier weg, raus, zu einem sicheren Ort. Seine Heimat ist verloren, für lange Zeit, er kann nicht mehr warten und hoffen, dass es bald vorbei und wieder besser ist. Sein Land wird weiterhin von Schurken regiert und die einstige Hoffnung auf eine Demokratie, eine Normalisierung der Bedingungen, sind jäh verflogen.

Die einzige Möglichkeit, und darüber denkt er in diesen Tagen immer wieder nach, ist der Aufbruch in eines der Flüchtlingslager außerhalb Syriens. Wie er weiß, gibt es zwar einige im eigenen Land, so zum Beispiel nahe der Stadt Aleppo, die sicheren aber liegen in Jordanien, im Libanon oder in der Türkei. Nach Jordanien oder in den Libanon zu gelangen, wird in ihrer Lage kaum noch möglich sein. Den Weg werden sie nicht mehr schaffen. Sie sind aber bereits an der Grenze zur Türkei und dorthin gehen immer mehr seiner Landsleute auf der Flucht vor dem Terror des IS. Die Grenzen sind für Flüchtlinge nicht unüberwindbar. Er weiß, dass der türkische Staat die Verfolgten aufnimmt und in die Läger lässt, die von den internationalen Hilfsorganisationen unterstützt werden. Tausende seiner Landsleute haben dort schon Schutz erhalten. Für eine kleine Familie, mit einer alten Frau, einer Schwangeren und einem kleinen Mädchen wird es sicher noch Platz geben.

Ein Überwechseln auf die türkische Seite muss aber vorbereitet sein. Sie brauchen die Kraft für den Weg und Geld, um dort nicht mittellos zu sein. Wer weiß denn, was mit ihnen und all den anderen Flüchtlingen geschehen wird, wohin sie am Ende gebracht, auf welche Orte sie irgendwann vielleicht verstreut werden.

Da liegen sie, seine Lieben, und schlafen. Das Enkelkind im Arm seiner jungen, wieder schwangeren jungen Mutter, seine schon alte Frau, zusammengekauert gegenüber, geschützt von einem im Fenster angebrachten Holzbrett, das Kugeln und Splitter abwehren soll. Als ob ein Stück Holz das könnte. Sein Tee ist längst kalt, er hält in seit Stunden in seinen zitternden Händen und er fühlt den Rosenkranz in seiner Tasche. Jetzt zu Gott zu beten, lehnt er weiter ab. Gott hat alles andere, als es verdient, dass er ihn anruft. Das Leid kann nicht Gottes Wille sein. Das Sterben ringsum, die aufgerissenen Bäuche, Hinrichtungen, grausamste Folter und gnadenloses Wüten entgegen alle Menschlichkeit – ist das Gottes Fügung? Wenn ja, so ist dieser Gott schon lange nicht mehr der seine. So einen Gott anzubeten widerspricht seinem Herzen und Verstand.

Alle Lehre von der Güte und Gerechtigkeit seines Gottes sind dahin. Kein Erbarmen mit den Folteropfern, keines mit denen, die mit ihren Eingeweiden in den Händen einen langen, grausamen Tod in den Ruinen erleiden. Keine Güte gegenüber den vielen Frauen, die vergebens auf ihre Söhne und Männer warten. Einen solchen Gott will er nicht mehr anbeten müssen. Und soll das etwa eine Prüfung bedeuten? Will Gott schauen, ob seine Schäfchen auch in der größten Not am Glauben festhalten, ihm huldigen? Einen Gott, der so grausam sein sollte, den will er nicht ehren. Den wird er eher verfluchen und sich wehren, in dessen Antlitz zu schauen, seine Orte aufzusuchen, vor seinen Heiligtümern zu knien, die Beichte abzulegen.

Was soll er beichten? Dass er seine Familie retten muss, dass er stiehlt, um das tun zu können, dass er auch vor einem Mord nicht zurückschrecken würde, sollte es um das Leben der ihm Schutzbefohlenen gehen? Wenn das die Sünden sind, die ihm ein ewiges Leben verwehren sollten, dann ist er heute schon verdammt. Durch das Fegefeuer geht er bereits, zusammen mit seiner Familie, die sich in all der Zeit stets ehrfürchtig ihrem Gott zugewendet hat. Schlimmer wird nur noch die Hölle, an deren Rand sie bereits stehen, deren Geruch sie schon erreicht, deren Farben den nächtlichen Himmel bluten lassen, deren Verdammte sie immer wieder schreien hören. Ja, die Hölle ist direkt vor ihnen und Luzifer streckt seine Hand nach ihnen aus.

Einer seiner Schüler hat ihn einmal gefragt, ob Gott wirklich allmächtig sein. Als er das bejahte, fragte der Schüler, ob Gott dann einen so großen Stein schaffen könne, der so schwer sei, dass selbst Gott ihn nicht mehr tragen könnte. Er antwortete dem Schüler, dass auch das möglich wäre, da Gott sowohl die Kraft für die Schöpfung, als auch für die Unendlichkeit hätte. Und es sei genau dieser Glaube an Gottes Macht, die einen Christen in ebensolcher Weise stärken und diesen für dessen Ewigkeit vorsehen. Der alte Mann kann jetzt aber weder Schöpfung noch eine unendliche Göttlichkeit sehen. So wirft er mit Abscheu und unter Tränen seinen Rosenkranz in das noch lodernde Feuer im Herd.

In dieser Nacht wird der alte Mann nicht schlafen. Er fasst einen Entschluss. In seinem ausgefransten Kaftan hat er gut und sicher seine letzte Habe eingenäht. Goldmünzen, die er in noch guter Zeit, als wäre es weise Voraussicht, als Faustpfand für schlechte Tage gekauft hat. Sie sind das Letzte, was seine Familie noch besitzt. Ihr Wert ist nicht allzu groß, er wird aber vielleicht ausreichen, um ein sicheres Flüchtlingslager auf der türkischen Seite zu erreichen. Sein Ziel hat einen Namen: das Lager von Adiyaman.

Das Kontingent

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