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Ich erwache. Auf die Uhr zu schauen, brauch ich nicht. Es ist wie immer genau sechs Uhr. Die kleine Fabrik auf der gegenüberliegenden Seite der Straße hat ihren Betrieb aufgenommen. Und sie weckt mich beharrlich mit ihren monotonen Geräuschen. Mein Fenster, das direkt zur Straße geht, dämpft den Schall der Maschinen nur wenig. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Wie fast jeden Morgen mache ich mich startklar, obwohl ich nicht weiß, ob es einen Einsatz für mich gibt. Wenn aber ja, dann muss ich schnell machen. Aushilfsarbeiter haben pünktlich zu sein.

Im Treppenhaus höre ich Schritte die vor meiner Türe verhallen. Es folgt ein leises Klopfen. Ich höre Willis Stimme:

„Bist Du schon wach…?“

Er klopft erneut. Als ich die Tür öffne, drängelt er auch schon an mir vorbei und geht schnurstracks in mein Wohnzimmer.

Ich denke mir nichts Böses. „Darf ich Dir einen Kaffee anbieten?“ frage ich leicht ironisch. „Die frischen Brötchen und die Marmelade kannst Du gleich in die Küche bringen.“

„Die Armentafel ist zwei Straßen rechts.“ kontert Willi und lässt sich schlaff in meinen alten Ohrensessel fallen. Ich muss lächeln, typisch Willi. In meiner kleinen Küche stelle ich die Kaffeemaschine an und sehe durch die geöffnete Türe, wie mein Besucher eine Zigarettenschachtel hervorholt und sich eine anzündet. Er macht ein sorgenvolles Gesicht und ruft mir ohne weitere Umschweife zu:

„Wir müssen dem Jungen helfen.“

Ich reiche Willi die Tasse. „Ich habe übrigens nur noch zwei Kaffee-Pads. Nur für den Fall, dass Du Dich hier häuslich niederlassen möchtest. Und Lakritz habe ich auch keine.“

Willi überhört das wie immer und nippt an seinem Becher. „Die Haushaltsauflösung, der Betrieb. Und wohlmöglich wird er mit der Bank Schwierigkeiten bekommen.“ sagt er bedenklich und nippt erneut.

„Beim Aufräumen kann ich helfen. Mit Banken kenne ich mich nicht aus. Aber was ist denn da problematisch?“ antworte ich und hoffe, dass meine Besorgnis unbegründet ist.

„Der Kleine soll das Erbe bloß nicht annehmen.“ Willi scheint mehr zu wissen.

„Erbe? Was für ein Erbe denn?“ frage ich erstaunt.

„Eben nichts, sogar weniger als nichts, wenn Du verstehst.“ Willi wird etwas lauter.

Ich verstehe aber eben nicht und warte gespannt auf die Auflösung. Willi scheint genervt zu sein. „Ein Millionär wie Du wird es kaum nachvollziehen können, aber Kalli hat nur Schulden hinterlassen.“

„Und Du weißt davon?“ ich schaue ihm direkt in die Augen und mir schwant jetzt immer weniger Gutes.

„Schließlich war ich sein Vermieter.“ Willi ist wirklich überzeugt, dass sein Metier das rechtfertigt.

Er erzählt, dass der alte Drucker schon seit langer Zeit mehr oder weniger pleite war. Ohne Altersversorgung war er gezwungen, einfach immer weiter zu machen, bis er umfallen würde. Das sei ja nun auch geschehen. Was von seiner Hände Arbeit irgendwann einmal übrig war, wäre in die Ausbildung von Julius geflossen. Die Aufträge seien ausgeblieben und die wenigen Arbeiten, die er noch gemacht hat, hätten so gut wie nichts mehr eingebracht. Gereicht hat es schon lange nicht mehr.

Willi selbst habe dann zuerst auf die Gewerbemiete, irgendwann dann auch auf die Wohnungsmiete verzichtet. Kalli hat immer versprochen, er würde es einmal zurückzahlen. Willi habe zuletzt sogar die Kosten für Strom, Gas und Wasser übernommen, sonst wäre Kalli regelrecht auch das Licht abgedreht worden. Willi musste ihm versprechen, niemand etwas davon zu erzählen, erst Recht nicht seinem Sohn. Er hätte sich zu sehr dafür geschämt.

„Dann müssen wir Ruprecht zu Rate ziehen. Der alte Paragraphenfuchs wird wissen, was zu tun ist.“ Ich wende mich zur Türe. Aber da klingelt mein Telefon. Ich greife den Hörer, kritzle mir eine kurze Notiz auf einen Zettel und lege kurz darauf wieder auf.

„Willi, so wie es aussieht, muss ich arbeiten. Ich lege das jetzt in Deine Hände. Geh zu Ruprecht und kläre das. Wir sehen uns heute Abend.“ Heute wartet wieder die Papierfabrik auf meine Arbeitskraft. Ich mache mich deshalb schnell fertig und ich verschwinde in Eile, zuvor aber packe ich noch meine Arbeitskleidung ein, denn es wird sicher wieder schmutzig werden.

Als ich am Abend nach Hause komme, habe ich den Körpergeruch eines Iltisses angenommen. Diese Papierfabrik ist ein Moloch und es riecht dort, als würden überall Stinkbomben geplatzt sein. Der Geruch klebt einem förmlich in den Schleimhäuten und erinnert noch nach Stunden daran, dass man ein klägliches Leben führt. An meiner Wohnungstüre finde ich einen Zettel von Marta: `19 Uhr Essen´. Eine solche Aufforderung darf man bei Marta nicht unbeachtet lassen und man muss pünktlich sein.

Ich habe gerade noch Zeit für die Dusche. Da alle pünktlich sein möchten, treffen wir uns auch genau um sieben vor Martas Wohnung. Obwohl wir noch gar nicht geklingelt haben, öffnet sie uns und bittet mit einer gekonnten Handgeste zum Eintritt. Marta hat ein blaues Kleid angezogen, das am Hals von einem kleinen, unauffälligen weißen Kragen abgeschlossen wird. Ihre Lesebrille trägt sie auf der Nase und es kommt uns ein angenehmer Duft nach Frikadellen, Gurken und Dill entgegen.

Wir haben etwas Mühe, allesamt Platz an ihrem Esstisch zu finden. Da sind Willi, Fredo, Fritz und auch Julius. Es klingelt, und nach wenigen Sekunden ist – ein wenig außer Atem – auch Sharif al-Basir da. Unter dem Arm hat er drei gekühlte Flaschen Riesling. Ein wahrer Schatz, der Bursche, denn Marta hat in gewohnter Weise allein Wassergläser auf den Tisch gestellt. Als sie die Flaschen bemerkt, leuchtet kurz ihr Gesicht und sie schüttelt den Kopf: einen Korkenzieher besäße sie nicht. Der Wein müsse deshalb wohl warten – oder besser, ein anderes Mal getrunken werden. Aber Sharif grinst unverhohlen und zieht einen Öffner aus der Hosentasche. Auch Marta muss jetzt schmunzeln. Was soll´s. Und außerdem hat der Sharif so tolle Grübchen, wenn er lacht.

Julius war heute einige Zeit in der Druckwerkstatt. Er saß dort lange schweigend, im stillen Gedenken an seinen Vater. Manchmal hat er sogar gelächelt, dann, als er die akkurate Ordnung in den Regalen und die sorgfältig aufgereihten Werkzeuge betrachtete. Liebevoll und mit größter Genauigkeit hatte sein Vater alte Schriftzeichen sortiert, Stanzplatten beschriftet und nummeriert. Auf einigen las Julius die Kundennamen aus längst vergangenen Zeiten. Er fand Ordner mit alten Visitenkarten, fast feierlich abgelegt die Broschüre eines Autohandels. Sie stammte aus 1969 – dem Jahr der Mondlandung. Während er sich das alles noch einmal in Ruhe betrachtete wurde ihm abermals klar, dass niemand so einen Kleinbetrieb übernehmen und fortführen würde. Gerade Julius wusste das. Was bleibt, ist wohl wirklich nur Alteisen und vielleicht ein Sammler für die Maschinenteile. Nicht viel, für ein ganzes Leben.

Wir essen, ohne viel zu reden. Der Riesling ist schnell geleert und ich hole die Kiste Weizenbier, die bei mir in der Küche steht. Martas Blick spricht Bände. Doch wie immer wird diesem gekonnt begegnet.

„Intelligenz säuft, Dummheit frisst!“ verteidige ich uns, und Ruprecht schaut sofort zu Willi, der sich daraufhin spontan und lauthals beschwert.

„Was willst Du denn damit sagen?“ ruft er mir zu.

„Beruhige Dich wieder“, werfe ich Willi zu. „Du säufst doch selbst. Damit ist doch alles geklärt.“

Willi murmelt noch etwas halblaut in die Runde. Dann gibt er auf.

Julius fasst sich in die Hosentasche und holt einen mittlerweile schon etwas verknüllten Brief hervor.

„Von der Sparkasse.“ sagt er und blickt uns nacheinander an. Wir hören spontan auf zu albern und warten auf seine Auflösung.

„Es sind über sechszigtausend Euro Schulden auf dem Konto meines Vaters. Und jetzt wollen sie das Geld, von mir.“ Julius war nun fast völlig in sich gesackt.

„Moment, Moment!“ ruft Ruprecht. „Du brauchst das Erbe nicht anzutreten. Ich kann dir dabei …“

„Habe ich aber schon.“ unterbricht ihn Julius. „Ich kann meinen Vater doch nicht als Kreditschuldner dastehen lassen!“

„Julius!“ Marta ist aufgesprungen. „Glaubst Du denn, Dein Vater hätte das so gewollt? Dich so zu belasten? Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“

„Hast Du etwas unterschrieben?“ Ruprecht schaut Julius argwöhnisch an. Und dieser nickt. „Da gibt es kein Ausweichen mehr, wie ich denke.“ stellt Ruprecht fest, tupft sich mit der Serviette die Mundwinkel ab und atmete tief durch. „Schöner Mist!“

Ich greife mir den Brief der Bank und lese ihn durch. Als ich fertig bin frage ich Julius: „Kannst Du das Geld überhaupt aufbringen?“

„Derzeit nicht. Ich habe aber schon mit der Bank gesprochen und die haben mir gesagt, dass ich einen Kreditantrag stellen soll. Sie würden mir auch einen günstigen Zinssatz einräumen. Ich soll dafür eine Gehaltsabtretung unterzeichnen und eine Lebensversicherung abschließen.“

„Wir werden das anfechten …“ Ruprecht hebt seinen Finger und wedelte mit diesem drohend in der Luft. „So leicht geht das alles nicht.“

„Ich habe noch zweitausendfünfhundert Euro als Notgroschen auf meinem Sparbuch. Die kannst Du haben.“ Marta steht auf und will an ihre Kommode gehen.

„Selbst wenn wir alle unsere Konten plündern, ich meine, was es da noch zu plündern gibt, dann reicht das doch nie für eine Auslösung von Julius – oder?“ Ich hoffe, dass jetzt einer aufspringt und mir widerspricht. Aber es bleibt still.

„Dass es so viel ist, hatte ich nicht gedacht …“ Julius wird immer leiser.

Fredo sieht Willi an, so dringlich, dass wir alle ganz gespannt sind, was jetzt kommen mag. Willi hat gerade seinen letzten Bissen im Mund und schaut über den Tisch, ob nicht noch ein Restchen übrig ist, dessen er sich erbarmen sollte. Als er merkt, dass wir ihn alle ansehen, fragt er kurz und rollt dabei fast mit den Augen:

„Was … ?!“

Und als wir nicht antworten: „Leute, was denn? Was wollt ihr?“

„Wieviel ist dieser ganze Schuppen wert, Willi?“ Fredo hat eine klare Frage formuliert, deren Antwort wir gespannt erwarten.

„Vergesst es, Freunde.“ Willi winkt ab. „Ich habe über die Jahre so viele Hypotheken aufgenommen, da ist keine Luft mehr. Im Gegenteil. Dieselbe Bank hat mich gerade aufgefordert, eine zusätzliche Sicherheit zu bringen. So sieht`s aus. Leere Kassen, hoch die Tassen. Reich mir doch noch mal eine Flasche von dem Weizenbier herüber – vielen Dank!“

Ich bin völlig erschüttert. „Ja, aber Deine Mieteinnahmen und so …!“

„Schaut Euch mal den Leerstand bei mir an. Müsste modernisieren. Dann könnte ich sicher die Mieten vervierfachen. Ihr seid dann alle draußen. Und? Was wäre dann mit uns?“ Willi trinkt einen Schluck.

„Ein Altruist!“ ruft Ruprecht kopfschüttelnd. „Ja, gibt`s denn noch so was?“

Wir sitzen ernüchtert in der Runde und sind sprachlos. Selbst Fredo bringt keinen Mucks mehr heraus.

„Irgendwas wird uns einfallen!“ ruft er dann aber nach einigen Minuten. „Erst einmal stellen wir die ganze Bude auf den Kopf, und den Schuppen im Hof, und suchen nach Verwertbarem. Vielleicht hat Kalli ja irgendwo …“

„Ihr werdet nichts finden.“ entgegnet Julius frustriert. „Aber tut Euch keinen Zwang an.“

„Man soll nichts unversucht lassen.“ Marta ist jetzt bestimmend, steht auf und geht zu ihrem Klavier. Es soll nun auch niemand wiedersprechend und so lenkt sie vom Thema ab, indem sie den Klavierdeckel öffnet und sich kurz konzentriert. Insgeheim haben wir in diesem Moment alle gehofft, dass sie es tun würde. Marta beginnt. Sie spielt Händel, Mozart und Schubert, mit einer solchen Hingabe und Virtuosität, dass es uns den Atem verschlägt. Willi heult auf Anhieb wie ein Schlosshund und verschluckt sich mehrfach an seinen Lakritzen.

Fredo applaudiert immer wieder, obwohl das jeweilige Stück noch gar nicht zu Ende ist. Aber wir sind ihm nicht böse.

„Auf See hat er wenig Kultur entwickeln können.“ neckt ihn Ruprecht.

Marta wechselt das Genre und lässt Dixi und Ragtime erklingen. Sie greift in die Tasten und spielt, als wäre sie inmitten von St.-Louis der zwanziger Jahre. Willi klatscht den Takt, als ginge es um sein Leben. Der Boden bebt unter unseren Füßen und wir freuen uns, dass der Vermieter sich nicht beschweren würde, er sitzt schließlich inmitten unserer Gemeinschaft. Und außerdem waren fast alle Bewohner dieses Hauses hier gerade versammelt.

Julius ist unbemerkt gegangen. Wir hatten so viel Spaß, dass wir nicht einmal bemerkt haben, dass er fort ist. Ich schäme mich und verabschiede mich aus unserer Runde. Morgen früh wollen wir loslegen und das kann ein langer Tag werden. Vor dem Zubettgehen stelle ich mich noch kurz ans Küchenfenster um eine letzte Zigarette zu rauchen. Ich sehe in den Hof hinab. Sharif kommt gerade nach Hause. Er schaut nach oben zu mir und ich gebe Zeichen, dass ich noch einmal kurz zu ihm herunterkomme.

„So schnell geht das alles.“ beginnt der junge Syrer nachdenklich. „Gestern war Kalli noch da, jetzt ist seine Asche schon in der Erde. Der Tod ist jedes Mal etwas Niederschmetterndes, findest Du nicht auch?“

Ich sehe Sharif an: „Er begleitet uns sekündlich. Vom ersten Moment unseres Lebens an. Eigentlich verwunderlich, dass er einen immer wieder überrascht.“

Sharifs Blick ist leer und er scheint gerade nicht wirklich auf etwas zu schauen:

„Anderenorts sterben täglich Menschen. Niemand ist dort mehr überrascht. Das Sterben ist dafür viel zu sehr Alltag geworden, gefühllose Routine. Doch man stirbt dort nicht in Frieden, es ereilt die Menschen kein natürlicher Tod. Sie werden ermordet, nachdem sie verfolgt und gequält, vergewaltigt und gefoltert wurden. Diese Toten besingt man anders. Der Herztod eines alten Mannes tut weh, weil ein Teil von Dir nach einem langen Leben gegangen ist. Aber ermordete Brüder und Schwestern, Väter und Mütter, denen niemand hilft, während sie von fanatischen Mörderhorden dahingeschlachtet werden? Das reißt Dir Dein Herz heraus, Deine Gedärme. Dein Verstand wird Dir geraubt. Und Du möchtest am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Erst Recht, wenn Du nicht helfen kannst, weil Dich tausende Kilometer trennen.“ Sharif laufen Tränen über sein junges Gesicht und seine Verzweiflung ist unübersehbar.

Ich will meinen Arm über seine Schulter legen und etwas Sinnreiches antworten, doch er steht auf und wendet sich zum Gehen.

„Niemand hier hat auch nur die geringste Ahnung, was in meinem Land gerade passiert.“ ruft er. „Und meine Familie, meine Freunde – alle sind wir Christen, haben nie jemandem etwas getan. Die Welt sitzt derweil am Fernseher und schaut in den Nachrichten, wie die schwarzen Flaggen wehen. Dann kommt ein wenig Mitleid auf. Und die Politiker? Sie verstecken sich hinter ein paar Hilfsgeldern, hinter Verhandlungen mit Schurken, die die Schurken von gestern nur abgelöst haben. Und das Abschlachten ganzer Völker geht unbeirrt weiter.“

Ich sehe ihn an. So hatte ich ihn bisher noch nicht erlebt. Leidenschaftlich, zugleich voller Angst. Und er hat Recht. Ich kann ihm das nicht in Abrede stellen und ich fühlte mich plötzlich völlig hilflos und leer.

Ich würde jetzt gerne wissen, wie es seiner Familie geht, sind auch sie betroffen, hat er Kontakt? Doch Sharif ist aufgestanden und bereits die Treppe hinauf verschwunden, ohne, dass er noch etwas geantwortet hat.

Ich folge ihm mit schweren Schritten und seine Worte klingen in meinen Ohren. Ich werde nicht gleich einschlafen können und so drehe ich mich und meine Gedanken kreisen.

Das Kontingent

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