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Der Phoenix

Denn es werden fünf sein in einem Hause: drei werden gegen zwei und zwei gegen drei sein, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater.

Und sie werden allein dastehen.

Aus dem apokryphen Thomas-Evangelium

Um Sein und Leere zu spalten, muss ein Stück Sein aus der Leere herausgezogen und in die Leere hineingebettet werden. Sein und Leere schulden sich einander. Jeder Pol einer gespaltenen Einheit enthält damit immer das Prinzip des Gegenpols in sich. Nichts kann getrennt vom anderen existieren oder nicht existieren, sondern immer nur in Form von Selbstbezüglichkeit und Selbstreferenzialität. Das Symbol hierfür sind die daoistischen Zeichen Yin und Yang: Ein geteilter großer Kreis mit schwarzem und weißem Pol, und innerhalb des schwarzen Pols ist ein kleiner weißer Kreis und innerhalb des weißen Pols ein kleiner schwarzer Kreis. Die kleinen Kreise enthalten aber ihrerseits wiederum einen Teil des schwarzen oder weißen Halbkreises, als Milieu, von dem sie sich abgrenzen ad infinitum. Kein Teil des Ganzen kann sich vom Rest abkoppeln. Jeder Teil existiert nur durch Wechselwirkung mit dem Rest, und jeder Unterschied zwischen zwei Polen wird in einen der beiden Pole wiedereingeführt und erzeugt dort Komplexität, Dynamik, Ebenen höherer Ordnung und fraktale Muster auf jeder dieser Ebenen – aber auch Raum und Zeit für einen mit Raum und Zeit koproduzierten Beobachter. Wenn der Beobachter eine vorangegangene Beobachtung (Unterscheidung) beobachtet, dann führt er die Ausnahme – den nichtbeobachteten Teil bzw. das duale, zerstörerische Element – in den Beobachtungsprozess ein.

Die Ausdifferenzierung ist ein iterativer Prozess. Das Ergebnis der Unterscheidung wird als Information in einen unterschiedenen Pol eingespeist. Die erste Unterscheidung wird zum Baustein für weitere Unterscheidungen, so wie jede Theorie, Idee, Ideologie und jeder Glaube auf bereits Vorhandenem fußt, wobei dieses Vorhandene seinerseits das Produkt eines Unterscheidungsprozesses ist. Sobald von einem Beobachter eine Unterscheidung getroffen wurde, gibt es eine Referenz, d.h. einen Maßstab, der als Bewertungsschema für weitere Unterscheidungen fungiert. So werden die ersten Erfahrungen eines Kindes zum Bewertungsschema für die Welt, die logischen Axiome der Mathematik zur Basis aller mathematischen Operationen. Die Formel des Physikers wird zum Bewertungsschema für Beobachtungen, das vom Staat definierte Steuertilgungsmittel zum Maßstab für die Bewertung anderer Güter. Wenn ein Beobachter sich von seinem Milieu abgrenzt, so erzeugt er damit die erste Information, anhand derer er sich nun selbst beobachtet und also ausdifferenziert oder sein Milieu beobachtet und weiter unterscheidet. Jede Unterscheidung fußt damit auf vorangegangenen Unterscheidungen, und zusammen bilden sie den Bezugsrahmen für weitere Unterscheidungen. Das Einspeisen einer Unterscheidung zwischen zwei Polen in einen der beiden Pole erzeugt Fraktale, bedeutet gleichzeitig aber immer auch, dass ein Pol, wie er sich auch immer selbst definiert, etwas Fremdes und damit außerhalb seiner Definition Stehendes in sich tragen muss. Alles trägt diese Ausnahme in sich, und auch ALLES trägt diese Ausnahme in sich, nämlich das NICHTS. Die Ausnahme ist immer das, was nicht beobachtet wird – der blinde Fleck. Jedes System ist immer nur ein Teil des Ganzen und als Teil des Ganzen kann es immer nur einen Teil des Milieus, in das es eingebettet ist, erfahren.

Es erfährt, indem es Unterscheidungen trifft, deren Ursachen und »Motive« auf vorangegangenen Unterscheidungen basieren. Jedes System erfährt die Welt also, indem sie diese ausdifferenziert, endlos aufspaltet und sich dabei immer weiter vom Ganzen entfernt. Würde ein System wie der menschliche Geist alles sehen und alles begreifen, dann würde er nichts sehen und nichts begreifen. Auch Gott kann sich nur selbst erfahren, indem er sich spaltet. In dem Moment, in dem Gott allwissend und allmächtig wäre, wäre er wieder die göttliche Einheit, die nicht weiß, dass sie existiert und damit auch nicht existiert. Das Treffen von Unterscheidungen gebiert Teilsysteme, Ordnung und Komplexität. Jedes System wird von einem Milieu hervorgebracht und mit einem Milieu koproduziert. Und jedes System versucht auf seinem Weg der permanenten Anpassung an dieses Milieu, dem Milieu durch Erhöhung der inneren Komplexität zu trotzen. Und jedes System muss, weil es nur auf einem Teil des Ganzen, d.h. einer unvollständigen Basis aufgebaut wurde, irgendwann daran zugrunde gehen. Das Wechselspiel aus Werden und Vergehen stellt die ewige Wandlung dar.

Das Kapitel »Der Phoenix« steht deshalb im Zeichen der männlichen Dynamik, dem Wechselspiel der Systeme im Inneren der göttlichen Einheit und der Ausdifferenzierung der göttlichen Einheit, die sich aus der Oszillation zwischen Beobachter, Beobachtetem und Nichtbeobachtetem ergibt.

Ein Buch für Keinen

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