Читать книгу Ein Buch für Keinen - Stefan Gruber - Страница 19
ОглавлениеJeder debitistische Durchlauf endet also nach einer allgemeinen Überschuldung – wenn sich immer weniger Nachschuldner finden, die durch ihre höheren Kredite die alten terminlich befristeten Kredite ablösen. Was versteht man aber im Detail unter »Überschuldung«? Warum lässt sich das Kreditwachstum nicht bis in alle Ewigkeiten fortsetzen? Die Beantwortung dieser Frage stützt sich auf vier Argumente. Wie bereits erwähnt, ist es ein dem Kapitalismus inhärentes Problem, dass sich zinstragende Geldforderungen bzw. Wertpapiere aller Art in der reichen Schicht anhäufen, die von der arbeitenden Schicht erwirtschaftet werden müssen. Der Schuldendruck nimmt also durch die Herausbildung eines Geldadels für die wirtschaftende Mittelschicht sukzessive zu. Sie verschuldet sich zunehmend für die Erträge der Reichen, muss aber gleichzeitig den berühmten Nachschuldner für ihre erwirtschaftenden Produkte ebenfalls in der Mittelschicht suchen (sofern nicht Luxusgüter produziert werden). Zweitens akkumuliert sich auch das Eigentum in dieser Klasse, das dort meist nicht mehr als Pfand für die Kreditschöpfung zur Verfügung steht. Der dritte Punkt ist die allgemeine Sättigung des Publikums am Peak des Wohlstands, vor allem am Ende des großen kapitalistischen Zyklus. Diese Sättigung führt dazu, dass der Konsum sich stetig weg vom Eigentum und hin zu kurzlebigen Lifestyle-Konsumgütern verlagert, die ihrerseits kein Eigentum zur Kreditgenerierung mehr verkörpern. Dies führt zu einer laufend sinkenden Kreditaufnahme, die aber zu diesem Zeitpunkt die Kredittilgung noch überkompensiert. Dennoch kommt es dadurch – zusätzlich befeuert durch eine Einbindung der betreffenden Volkswirtschaft in den globalen Markt (Globalisierung), der neue, billiger produzierende Konkurrenten in Stellung bringt – zu weiter stagnierenden Löhnen. Hat man also früher für ein Haus gespart und konnte dieses dann nach der Tilgung des Kredits als Sicherheit für neue Kredite anbieten, so geht der Kredit am Ende des Zyklus, wenn alle Grundbedürfnisse befriedigt sind, in den Konsum von Wellness-, Freizeit- und Spieleprodukten und in den Dienstleistungssektor, während das Wohnen auf Miete (Mietzins) den Traum von der immer weniger leistbaren eigenen Immobilie ablöst. Der Kredit wird also verkonsumiert ohne Erwerb eines dauerhaften Produktes für die zukünftige Kreditschöpfung. Die Leistung, die dann für die Abbezahlung des Kredites erbracht wird, verlagert sich ihrerseits mehr und mehr in Werbe- und Marketingbranchen, die Erzeugung flüchtiger Konsumgüter bzw. den Dienstleistungssektor. Nichts davon erzeugt mehr belastbares Eigentum als Basis für die Fortführung des Aufschuldens. Der vierte Punkt kann in einer anderen Form der Zeit-Problematik gefunden werden. Ich nenne dieses Phänomen das Konsum-Leistungs-Paradoxon. Gerät die Kreditmaschinerie ins Stocken, stagnieren die Löhne und es kommt zu sinkenden Umsätzen bei den Unternehmen. Sobald sich der Staat von den Fesseln der Goldbindung teilweise oder ganz befreit hat (im Westen mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems 1973, das ohnehin mit einem klassischen Goldstandard nur mehr wenig zu tun hatte), kann er die drohende deflationäre Spirale durch Staatsverschuldung auffangen (Keynesianismus), d.h. der Staat nimmt Kredite auf und pumpt Geld in die Märkte, um die Preise oben zu halten. Da es für Staatsschulden, im Gegensatz zu Privatschulden, außer höheren zukünftigen Steuern kein Leistungsversprechen gibt, wirken diese immer inflationär, d.h. es werden mit Krediten Waren oder Dienstleistungen gekauft (inflationär), ohne den Kredit durch eine Erwirtschaftung von Waren oder Dienstleistungen (Mehrangebot = deflationär) zu decken. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Staat zur Deflationsvermeidung in die Märkte eingreift, beginnt eine irreversible Symbiose zwischen Staatsverschuldung und Privatverschuldung. Stockt die private Kreditvergabe, springt ab diesem Zeitpunkt der Staat als Nachschuldner ein und deckt die Kredit-Finanzierungslücke mit einer Forderung auf zukünftige Steuereinnahmen, ergo Staatsverschuldung. Irreversibel ist diese Entwicklung deshalb, da Staatsverschuldung immer Inflation induziert und folglich die Steuer am Monatsende mit entwertetem Geld bezahlt wird, was den Staat zur permanenten Steuererhöhung zwingt, um sich zu finanzieren. Diese wiederum würgt den privaten Konsum ab, was weitere Staatsverschuldung erzwingt. Darin liegt der Grund für die Explosion der Staatsausgaben seit den 70er Jahren und diese führt unumkehrbar in den Staatsbankrott. Um den Konsum wieder anzukurbeln, die Kreditnachfrage zu erhöhen, neue Besteuerungsbasen zur Finanzierung der Staatsverschuldung zu finden und die durch sinkenden Konsum und Globalisierung stagnierenden Löhne zu kompensieren, sucht man im Binnenmarkt nach Nachschuldnern, Steuerzahlern und Konsumenten und findet sie in den bis dahin noch nicht berufstätigen Frauen. Hat der Staat die Frauenbewegung (z.B. im Abendland ab dem 18. Jh.; im Römischen Reich seit dem 4. Jh.) bis dahin ignoriert oder bekämpft, öffnet er sich nun ihren ideologischen Trägern (Marsch durch die Institutionen der 68er; weitreichende emanzipatorische Rechte ab dem 1. Jh. v. Chr. bis 1. Jh. n. Chr. im Römischen Reich) – unter dem euphemistischen Banner der »Frauenemanzipation« zwingt man die Frauen als kapitalistische Leistungsträger in die Wirtschaft.
Wie der Staat sich bei der Öffnung gegenüber nützlichen Ideologien, durch die Protegierung der Opportunisten und Korrupten, die Rosinen herauspickt, war im Westen schön zu beobachten, als die feministische Bewegung innerhalb der 68er – die sich immer als antikapitalistisch verstand und den Kapitalismus als Ursache für das reaktionäre weibliche Rollenbild ausmachte – beim Marsch durch die Institutionen das Feindbild »Kapitalismus« durch das Feindbild »Mann« ersetzte und fortan versuchte, die Frauen zu einem Rädchen des vormals bekämpften Systems zu machen. Aber auch damit erkauft man sich nur Zeit, denn wenn sowohl Mann als auch Frau berufstätig sind, bleibt immer weniger Freizeit für den Konsum übrig und dieser muss mit dem Leistungsdruck Hand in Hand gehen, schließlich will das Geleistete eines Kreditnehmers auch gekauft bzw. verkonsumiert werden. Der Tag hat nur 24 Stunden und die Erhöhung der Arbeitsleistung bei gleichzeitigem Mehrbedarf an Konsum ist ein Widerspruch in sich. Ständig steigende Kreditmengen, die einen Verkauf von ständig steigenden Mengen an Konsumgütern zur Tilgung verlangen, führen irgendwann zur Sättigung. Zuerst psychologisch und physiologisch (der Steigerung des Nahrungs- und Getränkekonsums sind biologische Grenzen gesetzt), später schon allein aus Zeitgründen. Der dort einbrechende Konsum schlägt sich wiederum auf die Löhne nieder, sodass die Beschäftigungsquote der Frauen zwangsläufig steigen muss, weil das Gehalt des Mannes allein nicht mehr ausreicht, um die Familie durchzubringen. Durch den ständig zunehmenden Leistungsdruck, bei gleichzeitigem Lohndruck und Rabattschlachten der Unternehmen, verkommt Arbeiten zum Selbstzweck. Ein Elternpaar schiebt dann seine Kinder in Tagesstätten ab, um mehr und unter immer höherem Leistungsdruck zu arbeiten, um Produkte, die niemand benötigt, zu billigsten Preisen anbieten zu können, damit sich noch Konsumenten finden, die über ihre Konsumsättigung hinaus auf Schnäppchenjagd gehen. Es muss nicht weiter erörtert werden, warum ein debitistischer Durchlauf in einem solchen rückkoppelnden Prozess in sich selbst endet.
Nun kann sich, wie wir gesehen haben, der Staat als Nachschuldner betätigen, wenn die private Kreditnachfrage nachlässt, auch wenn er sich dadurch stets nur Zeit erkauft, da Staatsschulden, wie gesagt, leistungsloses Geld sind und zur Entwertung der Steuer führen, was weitere Steuererhöhungen erzwingt. Ab wann tritt aber beim Staat die Überschuldung ein? Sobald die Steuereinnahmen sich nicht mehr weiter steigern lassen (Laffer-Kurve), um die Zinsen auf die Staatsschulden zu begleichen, ist das Spiel vorbei und der Vorhang fällt. Spätestens (!) dann tritt der große kapitalistische Zyklus in seine letzte Phase: die Nettogeld-Produktion. Sie ist ein Verzweiflungsakt des Staates, der einzig und allein den Sinn hat, die Macht im Staate zu behalten, indem die Bereinigung der Schuldenkrise auf Jahrzehnte (bzw. Jahrhunderte, wenn man die Problematik rund um die Eigentumsverteilung berücksichtigt, die selbst nach einer Währungsreform bestehen bleibt), bei sukzessiver Verarmung und Verelendung des Volkes, gedehnt wird. Erst wenn der Staat die Notenpresse anwirft, beginnen die Zinssätze allmählich wieder zu steigen. Schön zu beobachten im Römischen Reich mit seinem im Vergleich wesentlich entschleunigteren Kapitalismus, wo die Zinsen in einem Zeitraum von 200 Jahren (250 v. Chr. bis 50 v. Chr.) kontinuierlich auf 4% sanken1, dort rund 100 Jahre blieben, bevor sie um 50 n. Chr. für 200 Jahre kontinuierlich auf über 12% stiegen.2 Der Zeitraum der steigenden Zinsen fällt damit exakt mit dem Beginn der jahrhundertelangen Nettogeldproduktion (Münzverschlechterung) zusammen (allein von 50 n. Chr. bis 270 n. Chr. fiel der Silberanteil der römischen Münzen um mehr als 95%). In die Zeit der niedrigen Zinsen fällt in dem von Bürgerkriegen3 und Finanzkrisen gebeutelten Reich auch der Aufstieg der Cäsaren (Imperatoren), die das Ende der Republik (27 v. Chr.) einläuteten. Das Ende der Demokratie/Republik beginnt immer mit dem Aufstieg der Populisten in der Politik. Aus ihnen rekrutieren sich später die ersten Cäsaren, so wie auch Gaius Iulius Caesar Teil der sogenannten »Popularen« war, einer Gruppierung von Politikern, die sich auf die Volksversammlung stützte bzw. das Volk für das Erreichen eigener Ziele instrumentalisierte. Ihr Auftreten geschieht schon allein deshalb zwangsläufig, weil eine koordinierte Krisenbekämpfung im Rahmen der Demokratie vollkommen unmöglich ist. Man darf sich diese Abschaffung der Demokratie am Ende eines kulturellen Zyklus nicht als einschneidendes Ereignis vorstellen, wie das zuvor noch bei der staatsstreichartigen Implementierung totalitärer Machthaber und Ideologien der Fall war. Es ist ein schleichender Prozess, bei dem es keine kritische Rückschau mehr geben wird. Was wir heute im Rückblick als Römisches Kaiserreich bezeichnen, war für viele Römer der damaligen Zeit nach wie vor die Römische Republik. Deshalb wird auch mit dem Aufkommen der cäsaristischen Privat- und Familienpolitik das Schlagwort »Demokratie« nicht aus der Mode kommen, auch wenn es sich dabei um zwei völlig unterschiedliche Formen von Politik handelt. In diese Übergangszeit und weit darüber hinaus fällt auch die Epoche imperialistischer Kriege zur Nachschuldnerfindung, Eigentumserschließung und Rohstoffausbeutung (im Westen spätestens ab 9/11). Bevor aber ein Imperium an seiner inneren Komplexität erstickt und schließlich desintegriert, ist es genau diese Komplexität aus wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtungen, die den Zusammenhalt temporär gewährleistet. Eine Erkenntnis, die im Detail wohl nur ein genialer Kopf wie Paul C. Martin zu einer Prognose ummodellieren konnte. Einer Prognose, die heute erschreckende Aktualität genießt. Martin schrieb 1987 (!):
»Alle Staaten werden für alle Staaten, alle Notenbanken für alle Notenbanken haften, einschließlich Währungsfonds und Weltbank und vielen anderen internationalen Institutionen. Und alle Staaten werden für alle Banken geradestehen, aber auch alle Notenbanken für alle Staaten und alle Staaten für alle Notenbanken. Alle, alle, alle werden für alle, alle, alle da sein. Und alle wissen, dass keinem von allen etwas passieren darf, weil dann allen etwas zustößt.«1
Das ist der Grund, weshalb die Krise des Westens in den ersten Jahren und Jahrzehnten dazu führt, dass demonstrativ der ökonomische, politische und militärische Zusammenhalt beschworen wird, der sich in der Europäischen Union in einer Transferunion widerspiegeln wird, aus welcher später zwingend EU-Anleihen hervorgehen werden, die ihrerseits wiederum zwingend nach einer europäischen Wirtschaftsregierung verlangen, die zur Besicherung der Anleihen die Macht der direkten Steuereinhebung innehat und deren Implementierung den Verschwörungstheoretikern wieder Aufwind geben wird.2 Diese drei Faktoren – Anleihen zum Starten des Machtkreislaufs, Wirtschaftsregierung und die Eintreibung der Abgabe – definieren nach Paul C. Martin einen Staat. Und dieser Staat wird auf der Suche nach Nachschuldnern versuchen, weitere Staaten ökonomisch zu integrieren. Anders als das neoliberale Dogma vorgibt, ist der »Wohlstand«1 keine Folge der Globalisierung2, sondern die Globalisierung ist die Folge von Wohlstand am Punkt der Sättigung des Binnenmarktes, zur Erschließung neuer Absatzmärkte. Später verkommt sie zum Selbstzweck auf der verzweifelten Suche nach Nachschuldnern und geht über in einen hemmungslosen militärischen Imperialismus. Sobald die Kosten der Globalisierung den Nutzen übersteigen, die politische und militärische Verwaltung assimilierter Länder also teurer ist als der ökonomische Gewinn für das gesamte Reich, kommt es zu einer Rückabwicklung der Globalisierung – zu Separation, Segregation und Unabhängigkeitsbestrebung – und schließlich zur Desintegration des Imperiums (USA) bzw. supranationaler Verbündeter (EU).
Nach Erscheinen dieses Buches im Jahre 2013 hat sich der Westen für einen historisch einzigartigen Weg der Krisenbekämpfung entschieden, der den Weg in die kontrollierte Verarmung ebnen soll und deshalb in dieser Auflage eine kurze Erwähnung finden sollte: Negativzinsen! Negativzinsen sind nichts anderes als eine schleichende Währungsreform. Guthaben werden besteuert, um Geschäftsbanken und den Staat zu sanieren, was für sich allein genommen natürlich stark deflationär (!) wäre. Hier sehen wir die einzig mögliche Etablierung von Gesells Freigeld in Aktion. Gleichzeitig kauft die Zentralbank, zunächst noch über den Sekundärmarkt, Staats- und Unternehmensanleihen auf und sorgt so für die nötige Liquidität, um die Deflation zu bekämpfen. Das wiederum führt dazu, dass der
Kreise gar keinen anderen Schluss zu –, dann sind sie bloß Erfüllungsgehilfen eines Zyklus, um synergetische Effekte freizusetzen. Sie wurden nach oben gehievt, um den Zyklus zu vollenden, und der Zyklus wird vollendet, weil diese Leute nach oben gehievt wurden. Sie sind also alles andere als Illuminierte, sondern ein selbstverständliches Phänomen, das sich aus den üblichen Weltmachtsphantasien speist.
Zinssatz für Staatsanleihen ebenfalls unter Null fällt, d.h. der Staat bekommt effektiv Geld dafür, dass er sich bei den Geschäftsbanken, Fonds und Privaten verschuldet. Wir haben also Guthabenbesitzer, die auf der einen Seite geschröpft werden und Besitzer von Staatsanleihen, die auf der anderen Seite geschröpft werden, was natürlich auch bedeutet, dass die Altersvorsorge der Bürger enteignet wird. Was ist das Ziel dieser ungewöhnlichen Maßnahme? Staatsanleihen werden schleichend entwertet, die sich dadurch unaufhörlich auftuenden Bilanzlücken bei den Geschäftsbanken werden durch Gelder der Sparer geschlossen, während die Kredite als Forderung in gleicher Höhe bestehen, ergo aufgewertet werden. Damit sich kein Bürger dieser Maßnahme entziehen kann, muss der Bargeldverkehr massiv eingeschränkt bzw. idealerweise verboten werden. Die Folge ist eine Hausse von Staatstiteln und Sachwerten als letzte Zuflucht zur Erhaltung des Ersparten, die aber ohne exorbitant anziehende Nettoneuverschuldung zwingend in einem massiven Crash münden muss. Wenn dieser Crash dann notwendigerweise eintritt, ist es nicht unmöglich, dass die europäischen Staaten das Krisen-Momentum nutzen und die schleichende Währungsreform in eine akute umwandeln, was bedeutet: Der Staat erklärt seine Anleihen für wertlos, was auch gleichzeitig die Altersvorsorge für Millionen Menschen entwertet. Die sich dadurch massiv auftuende Bilanzlücke bei Geschäftsbanken wird durch das Geld der Sparer geschlossen, d.h. Guthaben werden beispielsweise zu 80% besteuert, gleichzeitig bleiben Schulden in gleicher Höhe stehen, außer bei Unternehmen, weil deren Pleite (durch die Reduktion der Guthaben) sonst den Staat zerstören würde. Diese Maßnahme, wenn sie denn überhaupt akut eintritt und man nicht zuvor den üblichen Weg der Nettogeld-Produktion mit periodisch auftretenden, kleineren Teilenteignungen von Guthabenbesitzern bei gleichzeitig steigender Steuerlast wählt, gäbe den europäischen Staaten wieder Luft zum Atmen. Da sich damit aber nur wenig an der grundsätzlichen Eigentumverteilung ändern würde, die Ökonomie des Westens also dann zu einem von Cäsaren geführten Hybriden aus Kapitalismus und Feudalismus verkommen würde, mit einer reichen und einer armen Schicht (das Bürgertum gäbe es dann nicht mehr), bliebe auch hier der Weg des Abendlandes, wie er im Kapitel »Aufstieg und Fall von Kulturen« vorgezeichnet wird, unverändert.
Aus dem bisher Gesagten kristallisiert sich heraus, dass der Debitismus politische Entscheidungen ebenso determiniert wie die äußere Form historischer Kulturentwicklungen. Nicht nur die Wirtschaftstreibenden sind Sklaven des Systems, auch der Staat ist es ungewollt. Mit der erzwungenen Abgabe, dem Übertrag der Urschuld auf Andere durch Waffengewalt, fällt auf dem Boden eines Bauernvolkes der Startschuss der Kulturentwicklung. Durch Revolutionen im feudalen System kommt es zur Abtretung von Macht durch die Macht in Form von privatem Eigentum zur Bewirtschaftung. Die Demokratie ist die letzte Stufe der Macht-Zession. Sie markiert den Höhepunkt einer Kultur, der eine jahrzehnte- bis jahrhundertelange Rückabwicklung des Kulturraumes folgt.
Kapitalistische Produkte
… Siege über Krebs, Syphilis und Tuberkulose werden ebenso kapitalistische Großtaten sein, wie es Autos, Erdölleitungen und Bessemer Stahl waren.
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie
Weil der Staat am Ende eines großen kapitalistischen Zyklus mehr und mehr die Rolle des Nachschuldners übernimmt (Inflation) und so eine Zeit lang den einbrechenden Konsum und die stagnierenden Löhne kaschiert (Deflation), verlagern sich die Investitionen der Mittel- und Oberschicht, aber auch der Unternehmen und Geschäftsbanken, mehr und mehr in die Finanzwirtschaft, die allein noch Rendite verspricht und sich deshalb sukzessive von der Realwirtschaft entkoppelt. Kredite dienen zunehmend der Spekulation, was das Wirtschaftswachstum weiter abwürgt. Diese Spekulationen führen zuerst zu steigenden Aktienindizes, dann steigenden Immobilienpreisen und leiten am Ende eine Rohstoff-Hausse ein. Letztere schlägt dann wiederum auf die Konsumgüter durch und wird beim Endverbraucher in der Geldbörse gespürt, weshalb ein Steigen der Rohstoffpreise auch den logischen Schlusspunkt des letzten debitistischen Durchlaufs markiert, der in einer jahrzehnte- bis jahrhundertelangen Krise mündet.
Bis es aber dazu kommt, hat der Kapitalismus riesigen Anteil an der geistigen, psychischen und sozialen Entwicklung seiner Träger. Um das zu verstehen, halten wir vorerst fest: Jeder kapitalistische Boom ist inflationär, weil die große Menge an aufgenommenen Krediten durch die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen zuerst einen inflationären Impuls setzt, bevor dieser durch Wirtschaftsleistung zur Bedienung der Kredite wieder abgebaut wird. Ignoriert man die Staatsverschuldung, die das Preisniveau dauerhaft hebt, so ist Inflation immer ein Kind des Termins. Je höher die Nettoneukreditaufnahme in einem bestimmten Zeitraum, desto höher der inflationäre Impuls. Werden die Kredite durch Leistung beglichen, sinkt das Preisniveau wieder. Werden mehr Kredite beglichen als neue aufgenommen, was nach einem inflationären Boom die Regel ist, kommt es zum rezessiven Bust, im schlimmsten Fall zur Deflation.
Wenn Sie sich also bisher immer gefragt haben, was es mit diesem Dogma in Politik und Medien vom ewigen Wirtschaftswachstum1 (ergo ewige positive Nettoneuverschuldung mit anschließender Leistung) auf sich hat oder warum eine Notenbank 2% Inflation als geldwertstabil und erstrebenswert ansieht, dann wissen Sie es jetzt. Sie sind damit gleichzeitig klüger als alle Politiker und die überwiegende Mehrheit aller Ökonomen, die diesen Mechanismus noch nicht durchschaut haben und stattdessen bloß merken, dass ein Stagnieren (oder gar Kontrahieren) der Wirtschaftsleistung immer mit Wohlstandsverlust, Arbeitslosigkeit und sozialen Spannungen einhergeht.
Inflation, Deflation und der Einfluss der Notenbanken
Für interessierte und ökonomisch versierte Leser will ich an dieser Stelle einige irrige Annahmen des Mainstreams zum Thema Inflation und Deflation klarstellen. Die modernen Vertreter der ökonomischen Kaste hängen noch immer der falschen, von der österreichischen Schule der Nationalökonomie beeinflussten, Ansicht an, dass ein Anwachsen der Geldaggregate, d.h. des Bargeldes, Buchgeldes und aller davon abgeleiteten Derivate (M0, M1, M2, M3), irgendwann als starke Inflation durchbricht. Sie sprechen dann gern von »Geldmengen«. Je größer diese »Geldmenge« sei, desto stärker die Inflation in der Zukunft (!), wenn sich dieses Geld, so die Meinung, durch die Wirtschaft gefressen habe. Diese Ansicht ist vollkommen falsch. Existierendes Geld, wie Bargeld oder Buchgeld, hat bereits gekauft, d.h. es war bereits nachfragewirksam. Wenn ein Unternehmer einen Kredit aufnimmt, d.h. im Sinne der »Austrians« die Geldmenge erhöht und damit ein Produkt A kauft, dann entsteht damit eine Nachfrage nach diesem Produkt und sein Preis erhöht sich. Das bedeutet, dass der Kredit bereits inflationär wirksam war – und zwar zum Zeitpunkt des Kaufes und nicht irgendwann in der Zukunft. Gleichzeitig aber muss der Kreditnehmer etwas leisten, d.h. er muss Waren produzieren oder eine Dienstleistung anbieten, um Geld zur Rückzahlung seines Kredites zu erwirtschaften. Wo er also auf der einen Seite eine inflationär wirkende Nachfrage nach einem Produkt oder einer Dienstleistung in die Welt setzt und so den Preis erhöht, muss er auf der anderen Seite ein Angebot (!) an Waren oder Dienstleistungen in die Welt setzen, das den durchschnittlichen Preis von Waren oder Dienstleistungen senkt, d.h. deflationär wirksam ist. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, wer diesen Kredit aufnimmt. Auch der Arbeitnehmer, der damit seine Wohnung finanziert und so die Wohnungspreise treibt, hilft in der Firma, in der er angestellt ist, Produkte zu schaffen, d.h. das Preisniveau dieser Produkte durch Angebote zu senken. Die gesamte Wirtschaft besteht nach Paul C. Martin aus lauter solchen Mini-Inflationen und Mini-Deflationen, sodass das Preisniveau insgesamt stabil bleiben sollte. Das tut es aber nicht, da, wie wir schon erläutert haben, in einer Boom-Phase zuerst die Kreditmenge steigt (Inflation), bevor das Bruttoinlandsprodukt nachziehen kann (Deflation). Man kann Inflation auch definieren als »noch nicht erbrachte Leistung«. Inflation hängt also eng mit dem debitistischen Termin- und Zeitphänomen zusammen. Es gibt nur einen Akteur, der das Inflationsniveau dauerhaft hebt: Der Staat, weil er auf Schuldenbasis konsumiert, ohne zu leisten. Ein Kreditnehmer, der nicht leistet (Privatkonkurs) hebt zwar ebenfalls das Inflationsniveau. Die Bilanzlücke muss aber die Geschäftsbank mit ihren Gewinnen schließen, was wiederum deflationär ist. Das heißt: Die sogenannte »Geldmenge« hat überhaupt keinen Einfluss auf die Inflationsrate in der Zukunft, denn sie hatte bereits Einfluss – mit diesen Krediten wurden Waren, Dienstleistungen, Aktien, Immobilien, Rohstoffe etc. gekauft. Alles, was diese bereits existierenden Kreditmengen (die immer anderswo Guthaben sind) tun können: Sie können verschiedenste Marktsegmente nachfragen, was dort die Preise erhöht, während auf der anderen Seite Kredite fällig werden, was Geld vernichtet und die Nachfrage im gesamtwirtschaftlichen Maßstab wieder einbrechen lässt. Weder eine Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit noch eine Inflationserwartung des Publikums (»Wir müssen unser Geld schnell in Sachwerte umtauschen, weil es bald nichts mehr wert ist«) können Geld entwerten, solange die Nettoneuverschuldung nicht weiterläuft. Niemals (!) können existierende Geldmengen eine starke Inflation oder gar eine Hyperinflation auslösen.
Wann entstehen Hyperinflationen? Diese können nur in zwei Phasen eines kapitalistischen Zyklus entstehen – nämlich in der Mitte, weil plötzlich ein allgemeiner Boom entfacht wird und die Masse Kredite aufnimmt ohne Ende, während gleichzeitig die Löhne steigen – es entsteht eine sogenannte Lohn-Preis-Spirale, die sich immer nur dann in Gang setzen kann, wenn die Neuverschuldung exzessiv weiterläuft, während das BIP nur mehr hinterherhinkt. Ohne Nettoneuverschuldung startet keine Lohn-Preis-Spirale und damit auch keine Hyperinflation. Das heißt, im Falle einer stockenden Kreditvergabe, wie gegen Ende eines kapitalistischen Zyklus, können die Rohstoffpreise noch so hoch steigen – daraus entsteht niemals eine Hyperinflation, weil hier nur Geld von einem Marktsegment ins andere verschoben wird, dagegen aber die gesamtinflationär wirkende Neuverschuldung ausbleibt. Das exakte Gegenteil wird am Ende eines kapitalistischen Zyklus eintreten: Steigende Rohstoffe würgen den Konsum ab und die deflationären Kräfte erhalten Einzug. Wann kommt es dann im kapitalistischen Winter, wo keine Neuverschuldung mehr generiert wird, zu einer Hyperinflation? Gerät die Neuverschuldung ins Stocken, wickelt sich das System, wie bereits geschrieben, in die Gegenrichtung ab. Es kommt zu einer Kreditimplosion und einer drohenden deflationären Spirale. Wie weit diese auch immer reicht – hier beginnt dann der Staat zuerst Unmengen an leistungslosem Geld ins System zu pumpen, bzw. am Ende die Druckerpresse anzuwerfen und Nettogeld zu emittieren. Diese Maßnahme ist ein Verzweiflungsakt des Staates, weil sie das Zerstörungspotential langfristig sogar noch erhöht. Sie wird darum auch erst im großen Stil angewendet, wenn die Wirtschaft bereits darniederliegt, der Staat vor dem Bankrott steht und die Folgen der Nettogeldflutung als ein kleineres Übel angesehen werden als die völlige Zerstörung der staatlichen Hierarchie und Kontrolle. Was passiert bei einer solchen staatlichen Geld-Flutung? Die Menschen benutzen das geschenkte, ungedeckte und damit de facto wertlose Geld und tilgen damit entweder ihre Kredite oder verkonsumieren es. Beides ist verheerend. Kredittilgung mit Nettogeld bedeutet, dass der Schuldendruck völlig aus dem System entweicht, denn nur wer schuldet, der muss leisten. Wer Nettogeld vom Staat empfängt und damit Kredite tilgt, leistet nicht und erwirtschaftet damit keinen BIP-Output. Wenn die Leute das Geld verkonsumieren, dann erzeugen sie Nachfrage mit leistungslosem Geld. Sie erzeugen damit eine Inflation bei lebensnotwendigen Gütern, die durch die zusammenbrechende Wirtschaft und das sich damit einhergehende verknappende Angebot noch drastisch verstärkt wird. Bald trifft immer mehr leistungsloses Geld auf eine angebotsschwache, durch das Gratisgeld des Staates sich zusätzlich kontrahierende Wirtschaft; die finale Inflation beginnt. Eine Bereinigung einer spätkapitalistischen Schuldenkrise durch das Anwerfen der Notenpresse führt also im Detail gesehen nicht zu einer klassischen Deflation oder Hyperinflation aus dem Lehrbuch, sondern zu einer drastischen Zerstörung der Wirtschaft (deflationär) bei gleichzeitiger Geldentwertung (inflationär). Am ehesten könnte man diesen Zustand als »hyperinflationäre Depression« bezeichnen. Eine Inflation bzw. Hyperinflation in der kapitalistischen Endphase unterscheidet sich damit gravierend von den inflationären (bzw. hyperinflationären) Tendenzen im kapitalistischen Hochsommer. Nur bei Letzterer kann sich ein Kreditnehmer im Zuge einer Lohn-Preis-Spirale entschulden, während in der Inflation im kapitalistischen Winter die Preise steigen, die Löhne aber, sofern Arbeit überhaupt vorhanden ist, stagnieren bzw. am Ende nominal steigen, jedoch relativ zur Erhöhung des Preisniveaus bei lebensnotwendigen Gütern stark zurückbleiben. Selbst wenn also ein Kreditnehmer die deflationären Tendenzen zuvor bzw. die permanent eintretenden deflationären Schocks dazwischen durchgestanden hat und weiterhin das Privileg einer Arbeitsstelle in Anspruch nehmen kann, wird er am Ende seinen gesamten Lohn zur Tilgung der Urschuld und nicht der Kontraktschuld aufwenden müssen. Hinzu kommt, dass die Löhne in einer globalisierten Welt zusätzlich gedeckelt sind. Es kommt also zu einer Angleichung der Löhne und Sozialleistungen an das Niveau gerade erst aufstrebender kapitalistischer Länder bzw. Regionen bei ungleich höheren Schulden und daher, durch den einbrechenden Konsum, zu einer Spirale der totalen Verelendung.
Auch die Mainstream-Meinung, dass der Staat sich durch die von ihm selbst geschaffene Inflation entschulden kann, ist völlig falsch. Solange sich der Staat das Nettogeld über die Hinterlegung seiner Anleihen bei der Notenbank beschafft, wachsen seine Schulden genauso, als würde er die Anleihe an private Investoren verkaufen. Die Schulden des Staates sind damit am Ende einer Hyperinflation immer am höchsten! Entschulden kann sich der Staat nur, wenn die Kredit-Exzesse, wie im kapitalistischen Hochsommer, bei den Privaten stattfinden (Lohn-Preis-Spirale) oder er seine Anleihen, wie bei einer Währungsreform, für wertlos erklärt und die Bilanzlücken im System mit Gläubigergeld stopft. Ebenso kann ein Staat im kapitalistischen Winter, wenn er nicht gerade Weltmacht ist und sein Nettogeld durch Gewaltandrohung und imperialistische Kriege deckt (womit aber bloß Zeit erkauft wird), eine einmal begonnene Inflationierung kaum mehr stoppen, da der Ankauf von Staatsanleihen durch die Notenbank die Zinsen der Anleihen unter Marktniveau bzw. Inflationsrate drückt. Der Staat ist damit de facto pleite und Investoren flüchten nach und nach aus verlustreichen Anleihen, sodass er die Notenpresse weiter laufen lassen muss, um sich über Wasser halten zu können, bis die totale Zerstörung der Wirtschaft und des Geldes eintritt.
Eine weitere vom Mainstream völlig missverstandene Sache ist die Rolle der Notenbanken in den Boom- und Bust-Zyklen. Die Notenbanken können, v.a. in Kombination mit Staatsausgaben, die Kreditmaschinerie wieder mittelfristig zum Laufen bringen, solange es noch genügend verpfändbares Eigentum zur Geld- und Kreditschaffung gibt. Der Effekt ist aber in der Hauptsache ein psychologischer, denn kein Unternehmer will dem anderen in Innovationen nachstehen, wenn dieser, angespornt durch niedrige Zinsen, sich nun doch für ein Aufrüsten seines Betriebes entscheidet. Ansonsten aber wird die Rolle der Notenbanken maßlos überschätzt, vor allem gegen Ende des kapitalistischen Zyklus. Niedrige Zinsen bedeuten nicht, wie das immer und immer wieder in den Medien suggeriert wird, das Heraufbeschwören einer Inflation. Sie deuten ganz im Gegenteil auf eine mächtige Angst vor der herausziehenden Deflation hin. Wenn eine Volkswirtschaft ihr Verschuldungslimit erreicht hat, kann eine Notenbank mit Nullzinsen gar nichts ausrichten. Heinsohn weist darauf auch immer wieder hin. Boom- und Bust-Zyklen entstehen durch Innovationsschübe und sind fast völlig unabhängig vom herrschenden Zinsniveau. Oder wie der Ökonom Joseph A. Schumpeter es formulierte: »Durch die Produktion von neuen Dingen oder durch die billigere Produktion von alten Dingen einzuheimsende Gewinnmöglichkeiten verwirklichen sich ständig und fordern neue Investitionen. Diese neuen Produkte und neuen Methoden konkurrieren die alten Produkte und alten Methoden nicht zu gleichen Bedingungen, sondern mit einem entscheidenden Vorsprung, der für die letzteren den Tod bedeuten kann. Auf diese Weise geht der ›Fortschritt‹ in der kapitalistischen Gesellschaft vor sich. Um zu vermeiden, dass sie unterboten wird, ist jede Unternehmung letzten Endes gezwungen, dasselbe zu tun, muß ihrerseits investieren und muß, um dies tun zu können, Teile ihrer Profite in den eigenen Betrieb wieder hineinstecken, das heißt: akkumulieren. So akkumulieren auch alle anderen.«1
Sobald in einem Marktsegment eine Neuerung auftritt, muss jeder Unternehmer dieser Branche seinen Betrieb auf Vordermann bringen. Tut er es nicht, dann tut es ein anderer und es fällt der Wert seines Eigentums und damit die Verpfändungs- und Verschuldungsfähigkeit. Um seine Position im Markt zu verteidigen, wird jeder Unternehmer, fast unabhängig vom Zinsniveau, Kredite gegen Eigentum generieren. Das zusätzliche Geld wirkt preistreibend und damit inflationär. Das ist der Boom. Sobald alle Betriebe die neue Innovation umgesetzt haben, kommt es zu einem erbitterten Preiskampf und vor allem zu einem Überangebot am Markt, eventuell sogar zusätzlich verstärkt durch die Innovation selbst, die unter Umständen einen höheren Output an Produkten liefert.1 Die insgesamt aufgenommene Kreditsumme bleibt in ihrer Höhe natürlich konstant, während im Preiskampf das darunterliegende Eigentum runtergepreist wird. Es kommt zum Bust, in dem viele Betriebe untergehen. Nur die Zähesten überleben, sie werden mit der Marktführerschaft belohnt. Die Niedrigzinspolitik kann die Folgen eines solchen Busts abfedern und exzessive Staatsausgaben können eine deflationäre Spirale mildern oder sogar für ein paar weitere Jahre aufschieben, wenn noch genügend verpfändbares Eigentum vorhanden ist. Grundsätzlich aber dient die Niedrigzinspolitik in erster Linie den Banken. Diese sollen sich bei deflationären Schocks jederzeit refinanzieren können, um Bank Runs zu vermeiden. Der ungute Nebeneffekt aber ist der: Die Konkurrenzsituation der Banken untereinander sorgt dafür, dass sich alle Banken, auch die, die finanziell gut gepolstert dastehen, bei der Notenbank billigst refinanzieren, um damit höher verzinste Firmen- und Staatsanleihen zu kaufen. Es kommt durch Spekulation zum Aufblähen des Finanzsektors, der sich von der Realwirtschaft abkoppelt. Dieser fehlt (durch die Fluten an Geld) der Schulden- und Innovationsdruck (die Unternehmer spekulieren mit diesem Geld lieber am Markt, der durch den künstlich induzierten Boom mehr abwirft als Unternehmensinnovationen), sodass die Nullzinspolitik letztendlich erst recht die Wirtschaft zum Abflauen bringt.
Welche massenpsychologischen Auswirkungen haben nun Wachstumszwang, Schuldendruck und Inflation? Wenn wir uns vorerst auf den modernen Kapitalismus der Nachkriegszeit beschränken1, so führt der Zwang zu Wirtschaftswachstum und Nachschuldnerfindung dazu, dass in der Bevölkerung immer mehr Bedürfnisse geweckt werden müssen, die vorher noch nicht da waren. Vor der Erfindung des Automobils vermisste es niemand. Erst der Schuldendruck brachte es hervor (bzw. der Zwang zu Effizienz und Wirtschaftswachstum machte es massentauglich) und durch die Werbung stieß es auf allgemeine Akzeptanz. So wie Kredite anderswo zu Guthaben werden und diese Guthaben der Besicherung von neuen Krediten dienen, so werden technische Erfindungen wie diese zur Basis für eine weitere Beschleunigung des Fortschritts. Der Handel beschleunigt sich, parallel dazu werden Verkehrswege gebaut und ausgebaut usw. Was für das Auto gilt, gilt ebenso für den Computer und später für das Internet oder vor dem Automobil für die Dampfmaschine. Diese Bedürfnisse sind auch der Grund, warum man im Kapitalismus trotz wachsenden Wohlstands niemals an den Punkt kommt, der Zufriedenheit auslöst, denn eine zufriedene Gesellschaft, die glücklich ist mit dem, was sie hat, wäre der sofortige deflationäre Tod des Systems. Deshalb müssen immer neue Produkte und Trends ins Leben gerufen werden und mit ihnen das Gefühl, nicht gut genug zu sein, wenn man diese Produkte nicht besitzt bzw. Trends verweigert. Darüber hinaus wird jede neue Entwicklung, die scheinbar mehr Freizeit und eine Vereinfachung des Alltags verspricht, sofort zur Basis für eine weitere Beschleunigung des Wachstumsprozesses und eine Erhöhung der Komplexität des Gesamtsystems. Hat das Auto früher enorm viel Zeit gespart, wurde es heute zur Notwendigkeit für teilweise stundenlange Fahrten zur Arbeit und zum Einkauf. Hat das E-Mail den zeitraubenden Brief ersetzt, werden wir heute mit zigfach mehr elektronischen Briefen zugemüllt und investieren noch mehr Zeit in diese Form der Kommunikation. Die Beschleunigung erhöht sich im Zeitablauf immer mehr und zwar nicht nur seit der Nachkriegszeit, sondern seit Anbeginn des Kapitalismus.2 Der Nachkriegskapitalismus ist bloß eine Exponentialkurve innerhalb einer großen Exponentialkurve. Je weiter der Kapitalismus voranschreitet, desto aggressiver werden Bedürfnisse geweckt. Dies wiederum geht auch Hand in Hand mit den psychologischen Ersatzhandlungen des Konsumenten, der aufgrund des steigenden Wohlstandes seine Zeit nicht mehr mit der Suche nach Nahrung verbringen muss, sondern diesen Trieb in der Maslowschen Bedürfnispyramide nach oben transformiert und durch künstliche Ziele kompensiert. Diese künstlichen Ziele können Schönheits- und Jugendwahn, Hobbys, Sport, Modesucht etc. sein; sie machen den Träger des spätkapitalistischen Systems zum Konsumenten und Nachschuldner, bis der Prozess in der absoluten Dekadenz in sich selbst endet.
Oft hören wir die Klage älterer Menschen, dass die Zeit damals (1950 – 1980) langsamer verging und heute alles so hektisch sei. Der Grund für das subjektive Empfinden einer langsamer verstrichenen Zeit liegt daran, dass der Kapitalismus damals noch nicht seinen exponentiellen Höhepunkt (kurz vor dem Untergang) erreicht hatte. Die 50er und 60er waren geprägt von Rock ´n´ Roll und zugehörigen Modetrends, ebenso wie die Hippie-Bewegung der 60er und die Disco-Ära der 70er Jahre. Dann wechselten Musik und Modetrends in immer schnelleren Intervallen, und heute blickt bei der Vielfalt an Musikstilen und Trends nicht einmal die Jugend selbst mehr durch, welche die breite geistige Verflachung (zu deren Ursachen wir gleich kommen) und ihren fehlenden charakterlichen Individualismus durch individuellen Musik- und Kleidungsstil zu kompensieren versucht. Die immer schneller wechselnden Trends, die immer stärker voranschreitenden technischen Errungenschaften (an welche die ältere Generation nicht mehr anschließen kann), die immer aggressivere Werbung, die exponentiell wachsende Vielfalt an Konsumartikeln und Lifestyleprodukten sowie die allgemein zunehmende Hektik durch Werbereklamen, Verstädterung und den Übergang in die spätkapitalistische Konsumgesellschaft geben den Alten mit ihrer Klage Recht. Da der Mensch nicht mehr essen kann, als er als Mensch essen kann1, nicht mehr zum Anziehen kaufen kann, als sein Wohnheim fassen kann und der technologische Fortschritt sich schnell in der Verbesserung des zum Zeitpunkt physikalisch Möglichen erschöpft2, weicht die Nachschuldnerfindung in der Masse auf Wellness-3 und Unterhaltungsprodukte aus: Mode, Schönheits- und Jugendwahn, Computer- und Konsolenspiele, Promi-Magazine, technischer Schnickschnack etc. Der Konsumwahn, als letzte Phase des kapitalistischen Zyklus, zeichnet sich, wie bereits erwähnt, vor allem dadurch aus, dass er keine Grundlage, d.h. kein freies Eigentum mehr bietet zur Kreditgenerierung. Das Geld fällt dem stupiden Konsum anheim und zuletzt gibt es keine großen Erfindungen mehr, die als Basisinnovation die Schuldenkurve noch ein paar Jährchen länger in die Senkrechte treiben könnten. Zusätzlich waltet die Inflation, welche die Sparmoral bestraft und den Konsum begünstigt.
Die allgemeine Dekadenz ist eine direkte Folge des kapitalistischen Systems kurz vor seinem Untergang. Sie ist nicht auf die späten 80er bis heute beschränkt – ein Abschnitt, der selbst nur ein Fraktal des gesamten Nachkriegskapitalismus ist, der einem Menschen aus dem 18. Jh. als dekadent erscheinen müsste. Durch das Anwachsen des Wohlstandes ist der Mensch nicht mehr gezwungen, für sein Überleben zu kämpfen. Er hat Zeit und Geld (bzw. den Kreditrahmen, der ja ebenfalls im Zeitablauf steigt, da die Banken vor dem Kollaps nichts anderes mehr kennen als ewig steigende Kurse und damit Wertsteigerungen der unter dem Kreditvertrag liegenden Sicherheiten) und das kapitalistische System braucht Nachschuldner, die aus besagten Gründen immer mehr im Dienstleistungssektor gesucht werden. Dies, in Kombination mit der allgemeinen Hektik des späten Konsumkapitalismus, führt zu einer allgemeinen geistigen Degeneration. Jugendliche stecken ihre geistigen Kapazitäten in das Anhimmeln von Promis und ihr Geld in entsprechende Magazine, Accessoires und ihre Schönheit (bis hin zum Trend »Schönheitsoperationen«). Medien folgen dem Trend und verstärken ihn. Die gesamte Psychologie mehrerer Generationen ist dem Kapitalismus geschuldet. Wo die Großeltern noch eisern sparten und es sogar als Schande galt, selbst für ein eigenes Haus einen Kredit aufzunehmen, zehrt die zweite Generation den Wohlstand der Eltern auf und ruht sich auf den Lorbeeren von deren Errungenschaften aus, und die dritte Generation konsumiert auf Schuldenbasis.1 Dies geht Hand in Hand mit dem debitistischen System – und muss Hand in Hand damit gehen, da sonst der Kapitalismus schon vorher sein Ende gefunden hätte. Wo die strenge Erziehung der Kriegsgeneration noch aus der Erfahrung von Not resultiert, d.h. die gesamte Moral, die sie ihren Kindern vermittelt, ein Produkt ihrer harten Erfahrung ist – dass nur durch harte Arbeit der Magen satt wird, da schwimmt die zweite Generation auf der Welle des Wohlstands und vermittelt ihren Kindern eben keine Werte mehr, sondern will statt einer Autoritätsperson lieber der beste Freund sein. Das ergibt sich auch ganz automatisch aus den geänderten Bedingungen im Umfeld: Kaum jemand muss noch wirklich per Hand am Acker schuften, daher muss auch kaum jemand die harte Arbeitsmoral des Alltags eingetrichtert werden. Das liberaler werdende Umfeld lässt dann auch strengere Eltern weicher werden. Es geht hier nicht um die alte »Früher war alles besser und diese Jugend von heute… «-Litanei, diesen typischen Zwiespalt zwischen Eltern und Kindern, der sich in jeder Generation (nur in der spätkulturellen und zivilisatorischen Phase einer Kultur; siehe dazu später) entfaltet und schon von Sokrates, Platon und Aristoteles beklagt, ja selbst auf einer altbabylonischen Keilschrifttafel (2000 v. Chr.) gefunden wurde.1 Es geht um etwas viel Fundamentaleres: das Erkennen dieses Musters durch die Masse – nach dem Motto: »Meine Güte, wir waren doch genauso. Unsere Eltern haben in uns auch den Untergang des Abendlandes gesehen. Lasst die Kinder doch Kinder sein.« Ich nenne dieses Erkennen eines Musters durch die Masse »Konditionierung des kollektiven Bewusstseins«, daher Lernen – das Verschieben von Inhalten des kollektiven Kurzzeitgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis einer Kultur. Sobald aber ein Muster von der Masse erkannt wird2, verschwindet es. Hier kommt es zu einem Knick in der Erziehungsgeschichte einer Kultur an sich. Erziehung funktioniert in einem Machtsystem eben nur so lange, wie dieses Muster nicht erkannt wird, d.h. Eltern ihre Kinder unter ähnlich strengen Kriterien erziehen, wie sie sich das anno dazumal nicht von ihren eigenen Eltern gewünscht hatten. Dieser Prozess des Mustererkennens, der stets für eine Auslöschung des erkannten Musters sorgt, wird uns später unter anderem noch beim Untergang von Kulturen beschäftigen.
Die Kinder selbst vollenden dann bloß noch, was der Kapitalismus für sie vorgesehen hat. Sie sehen ihren dekadenten Wohlstand als Selbstverständlichkeit, da sie nie gelernt haben, dass Wohlstand nur durch Leistung generiert wird und eifern nur mehr dem nach, das schöner, wohlhabender und begehrenswerter ist als sie: Models, Reiche, Film- und Musikstars. Ihr Geltungsbedürfnis und ihr kompensierter Individualismus durch eigenen Kleidungs- und Musikstil resultiert in erster Linie aus einer fehlenden autoritären3 Erziehung, die aber im Patriarchat erst Stabilität gewährleistet. Deren Ergebnis sind Jugendliche, welche die materialistisch-mediale Welt für bare Münze nehmen, weil ihnen durch fehlende Grenzen nie ein realistisches und konsistentes Weltbild vermittelt wurde. Am Ende stehen sie da und träumen selbst mit 20 noch in Massen von der Karriere als Model oder Popstar und nur überschuldete, dekadente Individuen sind es, die dem Debitismus am Ende noch seinen letzten Schub verleihen. Die verzweifelten Versuche rechter Parteien, die alten Werte zu retten, sind lächerliche Versuche, den Lauf des Debitismus aufzuhalten, ja den Lauf einer Kultur im Gesamten. Trotzdem sorgen erst ihre Existenz und die Existenz aller anderen Apologeten für die dynamische Entwicklung einer Kultur. Die Dynamik erhält sich eben nur durch den Glauben an Meinungen und Ideologien. Würden alle begreifen, was Thema dieses Buches ist, wären Stillstand und Untergang die Folge. Durch den breitflächigen Wohlstand, bei gleichzeitiger Konzentration der Basisproduktion und des Eigentums in Großkonzernen und Großgrundbesitzern sowie der Ablösung der manuellen Arbeit durch den technologischen Fortschritt, kommt es zu einer wahren Flut von Eltern, die ihren Kindern bloß die beste Ausbildung zukommen lassen wollen. Wo früher die Masse nach der Grundschule im elterlichen Betrieb arbeitete, später dann der Lehrberuf zur üblichen Ausbildung der Kinder herangezogen wurde, da kommt es jetzt zum massenhaften Auftreten von Absolventen höherer Schulen. Studenten strömen in den Dienstleistungssektor, wählen Marketing-, Management- und Wirtschaftsfächer (neben Fächern, die »Spaß« machen – ein Attribut, das vor 50 Jahren völlig fremd war) und werden damit ein Rädchen in der Konsummaschinerie, die den Nachschuldner in der Masse sucht. Dass eine solche Entwicklung bald in sich selbst endet, wenn die Masse ihre überzogenen Konten nicht mehr bedienen kann, ist absehbar. Ich will das nicht als Kritik verstanden wissen, da eine solche vollkommen sinnlos wäre. Was wir sehen, ist einfach ein völlig normaler debitischer Durchlauf – mit dem Unterschied, dass in unserem Fall nicht nur der Subzyklus (Nachkriegskapitalismus), sondern auch der große kapitalistische Zyklus (spätestens seit 1750, also der Industriellen Revolution) seinem Ende zugeht. Was das im Konkreten bedeutet, werden wir später analysieren, wenn es um den Aufstieg und Fall von Kulturen geht.
Die geistige Verflachung der spätkapitalistischen Menschen, sowohl in der Bevölkerung1 als auch in der daraus rekrutierten Polit-Elite, speist sich aber auch noch aus einem anderen Phänomen: Seit der sukzessiven Etablierung des Patriarchats innerhalb des Stammes2 und dem Beginn der ersten Arbeitsteilung, dem Zerfall des Stammes später in Berufe und Klassen nach Unterwerfung und Installation des Staates, geht der Mensch den Weg der Ausdifferenzierung und Individualisierung. Diesem steht das kollektive Bewusstsein des »matriarchalen«1 Stammes als dualistisches Pendant gegenüber. Unterbrochen durch fraktale »weibliche« Stammessimulationen (z.B. Sozialismus als Subzyklus) innerhalb des großen patriarchalischen Zyklus findet diese Ausdifferenzierung im Kapitalismus – als höchste Form des Patriarchats – seine Vollendung. Diese Ausdifferenzierung und Spezialisierung im Arbeitsteilungsprozess sorgen für »die Verdummung der in der Arbeitsteilung tätigen Menschen. Die Arbeitsteilung wird von Smith zwar als Bedingung höherer Produktivität erkannt, die geringere Persönlichkeitsentfaltung der an sie geketteten Menschen gegenüber selbst barbarischen Völkern aber gleichwohl eindringlich beschrieben.«2
Heinsohn zitiert dabei Adam Smith, den Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre: »Ein Mensch, der sein ganzes Leben damit verbringt, ein paar einfache Operationen zu vollziehen, deren Erfolg vielleicht immer derselbe oder wenigstens fast derselbe ist, hat keine Gelegenheit, seinen Verstand zu üben oder seine Erfindungskraft anzustrengen, um Hilfsmittel gegen Schwierigkeiten aufzusuchen, die ihm niemals begegnen. Er verliert also natürlich die Fähigkeit zu solchen Übungen und wird am Ende so unwissend und dumm, als es nur immer ein menschliches Wesen werden kann. Die Verknöcherung des Geistes macht ihn nicht nur unfähig, an einer vernünftigen Unterhaltung teilzunehmen oder sie auch nur zu genießen, sondern sie lässt es auch in ihm zu keinem freien, edlen oder zarten Gefühl mehr kommen und erlaubt ihm selbst nicht, die alltäglichen Pflichten des Privatlebens richtig zu beurteilen.«
Es sollte hier vor allem eines klar werden: Der Ablauf der massenpsychologischen Phänomene ist vollkommen durch den Debitismus determiniert. Der Debitismus sagt nicht die Entstehung des Rock ´n´ Roll voraus und er weiß nicht, welche Modetrends nächsten Sommer angesagt sind, aber er kann die äußere Form eines Zyklus ganz klar voraussagen. Er weiß, dass der letzte Subzyklus innerhalb des großen kapitalistischen Zyklus eine sexuelle Befreiung hervorbringt und die Unterhaltungsindustrie zum ersten Mal großflächig3 Fuß fassen wird. Es ist also klar, dass eine die alten Strukturen provozierende Art von Künstlern das Bühnenlicht erblicken und diese zu Ikonen des gesamten Subzyklus emporgehoben werden, bis ihre Art der Provokation über Jahrzehnte selbst zum Massenprodukt wird und sich die Kunst gegen Ende immer mehr in Provokationen erschöpft, anstatt Schöpferisches oder Geistiges hervorzubringen. Ebenso kann der Debitismus voraussagen, dass der Kleidungsstil im letzten Durchlauf immer freizügiger wird, je größer der Wohlstand anwächst1, bis kaum mehr ein Tag vergeht, an dem man nicht an mindestens 20 Bildern sich lasziv räkelnder, halbnackter Frauen auf Werbereklamen und Klatschblättern vorbeikommt.2 Was also prognostiziert werden kann (im Kleinen durch den Debitismus, im Größeren durch die fraktale Philosophie), ist immer die äußere Form, niemals aber der konkrete Inhalt.
Der Mensch der post-stammesgeschichtlichen Welt hat die Urschuld fraktal weitergesponnen und es liegt in seinem Wesen, niemals den Punkt der Zufriedenheit zu erreichen. Immer werden neue Bedürfnisse in ihm geweckt und immer versucht er durch Befriedigung dieser Bedürfnisse Zufriedenheit zu erreichen. Doch währt dieses Glück immer nur für kurze Zeit, bis er seinen Frieden in der Befriedigung neuer Bedürfnisse sucht. Diese Beschleunigung der Dynamik, die ständig versucht, ihr Gleichgewicht zu erreichen (dazu aber nie im Stande ist), gilt für alle Zyklen in allen Hierarchien. Überall waltet die Schuld nach Erfahrung. Und alle Zyklen entdynamisieren und zersetzen sich am Ende in exponentieller Geschwindigkeit: Je älter der Mensch wird, desto genügsamer und toleranter wird er (im Idealfall) durch Auslöschung aller Dualismen (Lebenserfahrung). Je älter ein debitischer Durchlauf wird, desto eher endet er in sich durch Auslöschung von Guthaben und Kredit. Je älter der gesamte kapitalistische Zyklus, desto degenerierter seine menschlichen Träger, die nun alles erfahren haben, was es in diesem Zyklus zu erfahren gibt, deshalb an gar nichts mehr glauben, jegliche Ideale über Bord werfen und dem egoistischen Genuss höchste Priorität zukommen lassen. Je älter eine Kultur (im Endstadium »Zivilisation«), desto träger und starrer ihr ganzer ideengeschichtlicher Inhalt – alles wurde ausprobiert und alles ist gescheitert. Je älter der menschliche Machtzyklus, desto mehr Illusionen über den Sinn und Zweck des Menschen im materiellen Dasein zerplatzen im kollektiven Bewusstsein. Dasselbe gilt natürlich auch für einen sozialistischen Zyklus, der in seiner eigenen Bürokratie und inneren Fäulnis erstickt, ebenso wie für einen kapitalistischen Betrieb, der in bürokratischer Verfilzung endet, in unfähigen Führungskräften, die sich mit dem Unternehmen nicht mehr identifizieren und in Managern, deren Interesse vorrangig aus der Maximierung des eigenen Nutzens besteht.1 Alles Existente hat seinen Frühling, Sommer, Herbst und Winter2 und überall gehen mehrere Faktoren auf unterschiedlichsten Ebenen Hand in Hand bzw. bedingen einander (kurz bevor der debitische Zyklus notwendigerweise endet, sind auch dessen Träger moralisch am Ende). Jeder Zyklus wächst als Fraktal aus einem übergeordneten Zyklus heraus und bringt selbst wieder Subzyklen hervor. Diese pflanzen sich fraktal in immer kleineren Dimensionen fort. Jedes Ende eines kleinen Zyklus (seine Entdynamisierung) kommt im übergeordneten Zyklus einer Beschleunigung gleich und bringt etwas Neues hervor. Jeder Zyklus endet, wenn eine Erstarrung eintritt, d.h. alles erfahren ist, was es innerhalb des Zyklus zu erfahren gibt. Der kapitalistische Zyklus endet (und beschleunigt den übergeordneten Kulturzyklus, der wiederum Teil des patriarchalischen Zyklus ist; siehe dazu später), wenn sich die Dynamik nur noch in Steigerungsformen des bisher Erfahrenen erschöpft, wenn also die Provokation nicht mehr der Hinterfragung alter Ideale dient, sondern bloß der Provokation wegen provoziert wird, Gewalt der Gewalt wegen, Schönheit der Schönheit wegen, Berühmtheit der Berühmtheit wegen (und nicht etwa aufgrund von Talent). Aus den Fluten der erdrückenden kapitalistischen Vielfalt schreit die Seele junger Konsumenten nach Aufmerksamkeit der Aufmerksamkeit wegen, indem sie ihre fehlende Persönlichkeit durch Provokationen und Äußerlichkeiten zu kompensieren versuchen.3 Das Dilemma liegt darin, dass diese Provokationen aufgrund ihrer Alltäglichkeit niemanden mehr interessieren. Zu abgestumpft ist die Gesellschaft bereits. Dasselbe gilt für die Kunst, die sich selbst nur mehr in Aktionismus und eitler Provokation erschöpft, um »wachzurütteln«, in Wahrheit aber, um das Ego des Künstlers zu befriedigen.4 Auch die staatlich ernannte intellektuelle Schicht, auf die wir noch gesondert zu sprechen kommen, gefällt sich gegen Ende zunehmend im Aufzeigen von echten oder vermeintlichen Missständen in der ihrer Meinung nach reaktionären Gesellschaft und wird nicht müde, ihre Eitelkeit durch Orwellsche Sprachkonstrukte (politische Korrektheit), Meinungsdiktate und die Geißelung der eigenen Kultur zu befriedigen. Durch den Ausbau immer absurderer, das freie Denken unterminierender Forderungen lässt sich nicht nur genügend Empörung ernten, die das Ego der Intellektuellen befriedigt. Die Nichteinhaltung des intellektuellen Denkschemas durch Unterschicht und Bürgertum produziert auch immer genügend Reaktionäre oder »Faschisten«, die den weiteren Kampf gegen »rechts« rechtfertigen, der für den Staat in Wahrheit ein Kampf gegen Globalisierungskritiker ist.
Das Bürgertum selbst wird durch hohe Steuern für die Bedienung der Staatsschulden, der ausufernden Bürokratie, des staatlichen Sozialtransfers und der uneinbringlichen Kredite systemrelevanter Banken und Konzerne zunehmend ausgebeutet und ausgedünnt, stirbt letztlich ab und verschmilzt mit dem 4. Stand: der formlosen Masse der Großstädte. Wir kommen darauf noch im Kapitel »Aufstieg und Fall von Kulturen« zu sprechen. Die Quintessenz dieses Kapitels kann aber bereits jetzt hervorgehoben werden: Gleichgültig wie viel Wohlstand herrscht, gleichgültig wie gut es den Menschen im Vergleich zu den Generationen zuvor geht, gleichgültig wie viele soziale Errungenschaften erkämpft wurden: Der Mensch ist niemals zufrieden, seit er von der verbotenen Frucht aß. Die zu kleinen Brüste einer 18-Jährigen können einen ebenso großen Leidensdruck darstellen wie der Überlebenskampf ihrer Urgroßmutter in den Kriegswirren, und das ist nicht einmal zynisch gemeint. Der Mensch bildet sich den Spielraum (= Unterschiede) seiner Empfindungen, den Rahmen »Leben«, stetig seit seiner Geburt und er spaltet diesen Spielraum in gut und schlecht. Der Mensch, der nie etwas anderes gewohnt war als Wohlstand, Überfluss und Freiheit, bildet einen anderen psychischen Dualismus aus als der Junkie auf der Straße oder der Bauer im 18. Jh. Letzterer wird die Intensität des Liebeskummers eines 18-jährigen Burschen aus der Großstadt des 21. Jh. niemals nachvollziehen können und jener nicht die Probleme des Bauern aus dem 18. Jh.1 Dies ist der Kern der Schuld nach Erfahrung
sich leise Empörung breit macht, dass die Bevölkerung mit Steuergeldern auch noch für diese Kunst bezahlen muss (Subvention). Erst Empörung befriedigt das Ego.
– die nie gestillte Zufriedenheit. Nicht nur die Interessen verlagern sich mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse auf eine neue Stufe der Maslowschen Bedürfnispyramide, auch die Probleme tun das. Hatte der Bauer Not, seine Familie über die Runden zu bringen, hat der Büroangestellte heute Depressionen.
Wir haben also ein paar Beispiele für kapitalistische Produkte gesehen und sollten begreifen, dass der Dualismus überall waltet. Es gibt keinen kurzfristigen Vorteil ohne längerfristigen Nachteil auf der anderen Seite der Bilanz, und da jedes Gut im Kapitalismus durch Vorfinanzierung entstanden ist, d.h. durch Kredite, die in der Zukunft beglichen werden müssen, kann daraus gefolgert werden, dass der Kapitalismus die Gegenwart durch Vorgriff auf die Zukunft finanziert. Oder um es böser zu formulieren: Er lebt auf Kosten der Zukunft und funktioniert nur so lange, wie das Vertrauen in die Bezahlbarkeit der sich ständig vermehrenden Kredite in der Zukunft gegeben ist. Die Folge sind die wundersamsten Erscheinungen und die interessantesten Erfahrungen durch den Schuldendruck. Elvis, die Beatles, Michael Jackson, TV, Medien, der Mondflug, das Internet, mein Laptop, der allgemeine Wohlstand, die Freiheit1, die sozialen Errungenschaften (wie bald ersichtlich wird), der medizinische Fortschritt etc. – all das sind kapitalistische Erscheinungen. Lieben wir nicht die 60er, 70er und 80er? Lieben wir nicht unsere Bequemlichkeit, unsere Freiheit, unseren medizinischen und technologischen Fortschritt? Aber all das ist ohne die andere Seite der Bilanz nicht möglich: Raubbau, Umweltverschmutzung, Tierleid, periodische Crashs, am Ende die ultimative Zerstörung der Kultur und damit einhergehend großflächige Verelendung, Totalitarismus, Bürgerkrieg und kriegerische Auseinandersetzungen.
Die Frage, ob der Kapitalismus nicht das »falsche« System sei, wird sich nach Ende dieses großen Kapitels nicht mehr stellen, denn ein »richtiges« gibt es nicht.
das körperliche Schmerzempfinden des Bauern aus dem 18. Jh. identisch mit dem des 18-jährigen Städters der Gegenwart sein.
Kapitalismus und Demokratie und das Ende von beidem
Es ist selten, dass eine Freiheit irgendwelcher Art mit einem Schlage verloren geht.
David Hume
In jeder Kultur kommt es in der Spätphase zu demokratischen Erscheinungsformen, wobei diese beispielsweise in der babylonischen, ägyptischen oder arabischen Kultur bei Weitem nicht so stark ausgeprägt waren, wie das in der abendländischen Kultur der Fall ist oder in der griechischen Antike der Fall war.1 Hand in Hand geht diese Liberalisierung und finale Machtzession mit dem Zurückdrängen feudaler Strukturen bzw. dem Aufkommen von Eigentum. Wenngleich sie meist durch Proteste, Revolutionen und Bürgerkriege erkämpft wird, ist sie die einzige Staatsform, die ein in Klassen (in Athen Großgrundbesitzer, Handwerker, Händler, Bauern sowie Tagelöhner), Kasten oder Stände ausdifferenziertes Massenkollektiv stabil halten kann, indem sie ein Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen suggeriert. In keiner anderen Wirtschaftsform sind die Widersprüche zwischen den einzelnen Interessengemeinschaften so groß wie im Kapitalismus, sodass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass dieser über die Zeit hinweg demokratische oder proto-demokratische Strukturen hervorbringt, die zumindest den Anschein von Einfluss auf den politischen Prozess wahren. Die Demokratie ist also ein Kind des Kapitalismus und dient der Entladung sozialer Spannungen.
Der Epoche der Aufklärung, die in jeder Kultur zu finden ist und den verlorenen Kampf der Priesterkaste gegen den Adel widerspiegelt, folgt eine Zurückdrängung religiöser und irrationaler Strömungen zugunsten der Vernunft und der Wissenschaft. Sie breitet, zusammen mit dem Kapitalismus, den fruchtbaren Boden für die Demokratie, was zu religiösen Ersatzhandlungen führt: Das ist die Geburtsstunde der großen Ideologien! Je mehr Einfluss dem Bürger zugestanden wird, desto stärker verlagert sich sein Interesse weg von der gemeinschaftlichen Dorf- und Familienphilosophie, hin zu Fragen der gesellschaftlichen und ökonomischen Organisation: Der kleine Mann wird zum Politiker. Wirtschaftliche Katastrophen, die in totalitären Katastrophen münden, wie das etwa beim Nationalsozialismus und dem darauffolgenden Weltkrieg der Fall war, erinnern das Volk dann wieder an den Wert der Demokratie, wenn dieser durch massive soziale Spannungen zeitweise gelitten hat. Doch die Demokratie hat, wie alle Systeme, natürlich ihre duale Schattenseite. Schon in der Antike bei Platon abgelehnt, bei Aristoteles als »Herrschaft der Armen«
verunglimpft, ist sie heute bei libertären Ökonomen als sozialistische Umverteilungsmaschinerie verhasst und bei Oswald Spengler als reine Erfindung der Oberschicht abgetan – hat doch eine Partei oder ein Privatpolitiker ohne Verbindungen zu Geldadel und Konzernen keine Chance, am demokratischen Prozess mitzuwirken, was dazu führt, dass in der Endphase des kapitalistischen Systems, wenn die Politik notgedrungen zum Sklaven des Marktes wurde, um den Kollaps hinauszuzögern, Gesetze fast ausnahmslos für Unternehmen infolge massiven Lobbyismus durchgesetzt werden. Doch die Tücken der Demokratie greifen viel tiefer. Dabei sind die folgenden Erscheinungen kein Demokratie-Spezifikum, sondern ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Staatsverschuldung und Kapitalismus, treten daher ebenso in nichtdemokratischen bzw. noch-nicht-demokratischen, kapitalistischen Systemen in Erscheinung, werden aber durch die Demokratie in ihrer Wirkung potenziert.
In keinem anderen System ist die Parteienkonkurrenz gezwungen, dem Volk mehr soziale und finanzielle Zugeständnisse zu machen, als in der Demokratie. Alle paar Jahre kommt es zur Wahl eines Volksvertreters und weil jede Partei gewählt oder wiedergewählt werden will, beginnt im Laufe des demokratischen Zyklus ein gnadenloser Wettkampf zur Bestechung des Volkes mit seinem eigenen Geld bzw. dem noch in Zukunft zu erwirtschaftenden Geld (Staatsverschuldung). Nirgendwo ufert die Staatsverschuldung derart exzessiv aus wie in der Demokratie. Je mehr Wohlstand das Volk genießt, desto größer werden die Erwartungen an die jeweiligen Regierungen und diese kennen keine Scham beim Ausgeben des noch gar nicht erwirtschafteten Geldes – es ist schließlich nicht ihr eigenes, und die Macht muss für die nächsten Jährchen bis zur nächsten Wiederwahl gesichert werden. Große staatliche Projekte, visionäre Ziele und die Weitsicht über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinaus sind in der Demokratie ganz und gar unmöglich und weichen der kurzfristigen Befriedigung des Volkes und der Industrie für den Preis einer langfristigen Katastrophe. Wirtschaftliche Bereinigungen in Form von Crashs weichen der kurzfristigen Staatsverschuldung, Zinsmanipulation und Verwässerung des Notenbankgeldes durch minderwertige Pfänder und das Zerstörungspotential schraubt sich gnadenlos nach oben. Es ist die Ironie der menschlichen Geschichte, wie auch der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler bei der Analyse untergehender Kulturen aufzeigte, dass der Zeitpunkt, an dem die Menschen den dauerhaften Frieden, die dauerhafte Freiheit und den dauerhaften Wohlstand zu besitzen glauben, dem Abgrund näher liegt als jeder andere Zeitpunkt zuvor. Ein schöneres Beispiel für die Macht des Dualismus gibt es kaum.1 Je länger der Kapitalismus waltet, desto eher bilden sich demokratische Strukturen heraus. Demokratie ohne Kapitalismus ist in einem Massenkollektiv ganz und gar unmöglich, wie wir bei der Analyse des Sozialismus noch sehen werden. In der Demokratie (basierend auf dem Rechtsstaat) als Ausdruck höchster Freiheit des Volkes und geringstem Einfluss des Staates liegt ein Vakuum, das geradezu danach drängt, mit Staatsmacht gefüllt zu werden. »Freiheit«, was auch immer man darunter verstehen mag, kann in einem staatlichen System im historischen Maßstab nur ein »unnatürlicher«1 Zustand sein, der nach Korrektur schreit, denn: »Alle Herrschaft beruht zuletzt auf Willkür und Todesangst. Absolute und totalitäre Regime sind keine Verfallsformen. Sie treiben nur ins Extrem, was im Prinzip der Herrschaft ohnehin angelegt ist.«2
Die Demokratie entsteht zuerst durch eine Revolution und wird später durch den Wohlstand erhalten. Sie hört auf zu existieren, sobald sie nicht mehr leistbar ist. Bricht erst die finale kapitalistische Krise aus, kommt es zum Endkampf zwischen den Geldmächten als Träger der Demokratie und den Cäsaren als Träger reiner Machtpolitik, woraus Letztere – demokratisch gewählt – siegreich hervorgehen.
Nichts ist von Bestand. Im Sozialismus, wo der Staat alle Kompetenzen an sich gerissen hat, wird die Demokratie zur Farce, ja sie kann dort unmöglich gedeihen. Demokratie benötigt das Vakuum »Freiheit«, das Kampfareal zwischen Staat und Volk. Doch nicht nur das Volk fordert unentwegt soziale Reformen. So wie der Debitismus immer neue Bedürfnisse wecken muss, um zu überleben, so müssen auch die demokratischen Parteien immer neue Bedürfnisse im Volk wecken, zu deren Durchsetzung sie selbst gewählt werden sollen. Eine Partei, die alle ihre Vorhaben durchgesetzt hat, ohne neue Bedürfnisse zu wecken, d.h. neue Wege zu gehen, hat im demokratischen Spektrum keine Chance auf Wiederwahl. Diese Dynamik ist es, durch die das Volk dem Staat schließlich immer mehr Freiheiten abtritt – zugunsten von Sicherheit, kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung und staatlicher Regulierung. Am Ende tauscht es die Demokratie selbst ein, wieder zugunsten eines Gefühls von Sicherheit.
Darüber hinaus gibt es keine Staatsform, die in derart kurzer Zeit derartige Komplexitätszuwächse im Inneren zu verzeichnen hat. Um das zu verstehen, müssen wir etwas vorgreifen. In der menschlichen Frühgeschichte waren Menschen Nomaden. Probleme wie Ressourcenknappheit konnten durch Wanderung umgangen werden. Es gab keinen Bedarf an Problemlösungsstrategien, was auch einer der Gründe war, weshalb sich Jäger- und Sammler-Stämme für Jahrzehntausende, teilweise bis zum heutigen Tag, nicht weiterentwickelten. Erst mit der Sesshaftigkeit war man an die Scholle gebunden und musste Lösungen für auftretende Probleme finden. Mit der gewaltsamen Implementierung des Staates potenzierte sich das Problem der permanenten Problemlösung, weil zur Bedienung der Urschuld die Bedienung der Steuerschuld hinzukam, d.h. zusätzlich zum ständigen Ungleichgewicht der Natur kam das ökonomische, montäre und soziale Ungleichgewicht der staatlichen Organisation hinzu. Es entsteht das, was der Anthropologe und Historiker Joseph Tainter in seinem Buch »The Collapse of Complex Societies« als »problemsolving society« bezeichnet. Das Problem an gesellschaftlichen Problemlösungen ist, dass sie in den allermeisten Fällen den Komplexitätsgrad erhöhen – sie lösen zwar das Problem in der Gegenwart, was aber auf ein System, das ständig im Fluss und niemals statisch ist, rekursiv zurückwirkt und es zu weiteren Problemlösungen zwingt. Auch hier gibt es, wie in allen Bereichen des materiellen Seins, eine »Positiv-Negativ-Bilanz« oder wie Einstein es formulierte: »Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen.« Gesellschaftliche Probleme zu lösen geht meist mit einer Zunahme von hierarchischer Kontrolle, finanzieller Belastung, Verwaltungskosten, Bürokratie und militärischen Kosten einher. All das lässt die Komplexitätskosten zur Verwaltung des Komplexitätsgrades anschwellen. Technische Errungenschaften, wie sie vor allem der Kapitalismus als letztes Stadium einer Kultur hervorbringt, sind nichts anderes als eine systemische Notwendigkeit zur Verwaltung der angewachsenen Komplexität. Das Problem dabei ist, dass diese technischen Errungenschaften ihrerseits nicht weniger komplex sind und sein können als die veraltete Technologie. Dazu gehört auch die Substituierung unkomplizierter Energiequellen durch teurere, komplexere. So muss das Bildungssystem gestärkt werden, um das »Know-how« zur Entwicklung der Technik zu erhalten. Menschen müssen sie warten und reparieren können. Der Staat muss die neue Technik in der Gesetzgebung berücksichtigen, was das Beamtenheer vergrößert. Juristen müssen entsprechend geschult und ausgebildet werden. Die Energiekosten zur Bedienung werden steigen und letztendlich wird der Kulturraum von dieser Technologie abhängig und weiter darauf aufbauen, was den Bedarf an Problemlösungen exponentiell anwachsen lässt. Das Gleiche gilt für die notwendigen sozialen Errungenschaften zur Stabilisierung der Staatsmacht, welche die Verwaltungskosten hochtreiben, den Beamtenapparat weiter aufblähen, die Gesetzgebung verkomplizieren usw. Dabei entstehen aber wieder neue Probleme wie beispielsweise ökonomische Ungleichgewichte, Anreizprobleme durch die Alimentierung, Missbrauch des Systems und auf diese muss der Staat abermals reagieren. All das erzeugt Kosten und wachsende Komplexität. Das Problem dabei ist, dass die Kosten der Problemlösung sich ständig erhöhen, während der Nutzen sukzessive abnimmt. Der Grund dafür ist, dass eine zunehmende Komplexität mit einer zunehmenden Anzahl von Angriffsstellen für potentielle Probleme einhergeht. Übersteigen erst die Kosten den Nutzen, kommt es zum Kollaps.
Besonders veranschaulichen lässt sich das am Beispiel der Globalisierung und dem hernach folgenden Imperialismus. Je größer das Staatsgebiet wird, um neue Besteuerungsbasen zu finden (Globalisierung) bzw. andere Staaten ökonomisch auszubeuten (Imperialismus), desto kleiner wird der monetäre Nutzen relativ zur Größe des Reichs. Nicht nur die Angliederung oder Eroberung selbst kostet Geld – zedierte oder annektierte Gebiete müssen verwaltet oder militärisch unter Kontrolle gehalten werden, um die Loyalität bzw. die Unterwerfung zu sichern, es müssen komplizierte bilateriale Verträge ausgearbeitet werden, oppositionelle Bewegungen (Globalisierungsgegner bzw. Rebellen) müssen niedergehalten werden usw. All das verursacht Kosten bei stetig sinkendem Ertrag. Komplexität lässt sich aber nicht einfach so rückabwickeln bis zu dem Punkt, an dem sie wieder leistbar ist. Es liegt im Wesen der Komplexität, dass sie zu weiten Teilen irreduzibel ist, dass also eine Komplexitätsreduktion, ob bewusst eingeleitet oder durch ein Steigen der Grenzkosten ausgelöst, andere Strukturen und entstandene Subsysteme ungewollt wie Dominosteine mitreißt. Deshalb bleibt eine Komplexitätsreduktion auch nicht auf halber Strecke stehen, sondern ein Zahnrad greift ins nächste und das betreffende Reich desintegriert über Jahrzehnte und Jahrhunderte, oder wie Joseph Tainter sein Werk zusammenfasst: »Ein Problem kommt, man löst es. Dann kommt das nächste, und man löst es auch. Alle diese Probleme treten auf und sie werden schrittweise gelöst, eines nach dem anderen. In der Zwischenzeit steigen die Gesamkosten, sie schleichen sich immer weiter an einen heran, bis man einen Punkt erreicht, wo man es sich mehr leisten kann, die Art Gesellschaft zu sein, die man geworden ist. Das ist so mit einigen antiken Gesellschaften geschehen und man muss darüber beunruhigt sein, dass wir denselben Weg gehen.«1
Hat sich der paläolithische Nomaden-Stamm noch mit den Unwägbarkeiten des Lebens abgefunden und der neolithische Bauernstamm kleine Anpassungen über einen Zeitraum von mehreren Generationen vorgenommen, wird die Problemlösung in einem Machtsystem zur Staatsräson und schließlich im Endstadium einer Kultur, der Demokratie, zum alles bestimmenden Merkmal. In keiner anderen Organisationsform wächst die Komplexität einer Gesellschaft rascher als in der Demokratie, weil dort der Staat zum Vehikel des Volkes für kurzfristige Problemlösungsstrategien wird und sich dieser auch als solcher anbieten muss, um der Demokratie ihre Existenzberechtigung zu geben. Das Zusammenspiel des debitistischen Bedürfnisgenerators (Schuldendruck), der Demokratie als Werkzeug der Problembehebung und Bedürfniserfüllung und der Medien als Verstärker und Skandalisierer des gesellschaftlichen Unbehagens, führt zu einem regelrechten Wettkampf der Parteien, die führende Rolle als Interessensvertreter des Volkes bzw. einer bestimmten Bevölkerungsschicht zu erringen. Dieser Schauplatz der öffentlichen Erregung, Debatte und Problemlösungsstrategie ist aber für den Staat grundsätzlich willkommen, um von den wirklich wichtigen Entscheidungen (Geopolitik, Außenpolitik, Ökonomie), die vom demokratischen Prozess ausgenommen sind, abzulenken.
Jeder demokratisch legitemierte Staatseingriff, der notwendigerweise die Eigenverantwortung aushebelt, führt auf längere Sicht zwingend zu einem neuen Eingriff, da Staatseingriffe in einem dynamischen System immer und ausnahmslos duale Auswirkungen haben.1 So führen beispielsweise prekäre Bedingungen am Arbeitsmarkt zu gewerkschaftlichen Maßnahmen wie dem Kündigungsschutz und den Kollektivlöhnen. Diese wiederum sorgen dafür, dass in Zeiten ökonomischer Stagnation die Arbeitslosigkeit stärker steigt, weil Firmen länger zögern, jemanden einzustellen, wenn sie ihn vielleicht ein Jahr später nicht mehr brauchen. Mehr Arbeitslose benötigen wiederum mehr Arbeitslosenunterstützung und einen größeren Beamtenapparat, was durch Staatsverschuldung (= zukünftige Ausbeutung der Mittelschicht und des mittelständischen Unternehmertums – die wirklich Reichen greift man aufgrund von Parteispenden, Bestechungsgeldern und Lobbys ungern an) finanziert wird. Mehr Arbeitslose schaffen wiederum ein Wählerpotential, auf das die demokratischen Parteien angewiesen sind, sodass diese gezwungen sind, der nichtarbeitenden Schicht weitere Zugeständnisse zu machen. Das wiederum führt zu Missbrauch im System, der zur Unterbindung nach weiterer gesetzlicher Reglementierung schreit. Das verlangt nach einer Aufstockung des Verwaltungsapparates, was die Beamtenschicht vergrößert, die wiederum eine Wählerklientel darstellen, auf das der demokratische Staat Rücksicht nehmen muss. Die darauf folgende höhere Besteuerung der Mittelschicht zur Finanzierung des Sozialstaates ruft in Folge die Gewerkschaft für die Lohnerhöhungen auf den Plan. Das führt in der Folge zu einer vermehrten Abwanderung von Unternehmen in billiger produzierendere Länder und wenn der Staat dann merkt, dass ihm die Steuereinnahmen einbrechen, muss er sich über den Volkswillen hinwegsetzen und Einsparungen im Sozialstaat vornehmen und die Steuern für den Mittelschicht weiter erhöhen. Damit bricht aber der Konsum ein, der zuvor vom Staat, indirekt durch nicht eingehobene Steuern oder direkt durch Zahlungen an sozial Bedürftige, gewährleistet wurde. Um ein weiteres Abrutschen des Prekariats in die Armut zu unterbinden, werden Antidiskriminierungsgesetze, Mieterschutzgesetze etc. eingeführt. Das sorgt dafür, dass sich Vermieter in Zukunft ganz genau ansehen, an wen sie ihr Eigentum vermieten und sie werden dieses bevorzugt an Mieter der Mittelschicht vermieten. Ebenso werden Unternehmen versuchen, sich möglichst wenig juristische Probleme einzuhandeln und Arbeitsplätze eher an gutbürgerliche Bewerber vergeben. Darauf reagiert der Staat wiederum mit Quotenregelungen, die vom Unternehmen auf Punkt und Komma erfüllt werden, um die Gesetze einzuhalten. Das mag auf der einen Seite zu Chancen für tatsächlich diskriminierte, aber qualifizierte Bewerber führen, ebenso wie zu Risiken einer inkompetenten Führungsriege auf der anderen Seite. Sobald die Quoten erfüllt sind, handeln die Unternehmen bei der Auswahl ihrer Angestellten genauso wie zuvor. Das führt zu subjektiv empfundenen Ungerechtigkeiten und diesen folgen komplizierte und polemisch geführte Rechtsstreite, die niemals gerecht gelöst werden können, da niemand in die Gedankenwelt eines Arbeitgebers sehen kann, um zu erkennen, ob er Person A eine freie Stelle gab, weil dieser kompetenter auf ihn wirkte oder weil er B »diskriminieren« wollte.1 Am Ende, wenn alle Rezepte nichts fruchten, folgt der Sparpolitik eine keynesiansische Wirtschaftspolitik und die Probleme beginnen, angereichert durch neue Probleme, wieder vorne – die bis dahin aufgebaute Komplexität aber bleibt bestehen2. Weil die Früchte der Sozialpolitik aus ökonomischer Perspektive immer einem Markteingriff entsprechen, werden sie auch vom Markt korrigiert, was weitere Probleme nach sich zieht, die der Lösung harren. Dasselbe gilt für Reichensteuer, höhere Unternehmenssteuern usw. – all das sorgt auf der einen Seite zwar für mehr Verteilungsgerechtigkeit, führt aber auf der anderen Seite zu komplizierten Konstruktionen zur Steuervermeidung, Verlust von Arbeitsplätzen bzw. zu einem teilweisen Abwandern von Unternehmen bzw. Auslagern von Unternehmenssparten. Das Gleiche gilt für alle (!) Versuche, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Kluft zwischen Unterpriviligierten und Priviligierten zu schließen, weil diese Kluft die logische Folge des kapitalistischen Wirtschaftens ist und jeder Eingriff – angefangen von den Menschenrechten bis hin zu den Gewerkschaften und Sozialämtern – das Angebots-Nachfrage-Gefüge von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Geld aus dem Gleichgewicht bringt. Bis der Markt dieses Ungleichgewicht wieder in seinem Sinne korrigiert hat, tritt zeitgleich damit ein neues Ungleichgewicht am sozialen Sektor auf. Es ist völlig gleichgültig, an welcher Schraube man dreht – jede scheinbare Optimierung hat ihren Preis in der Zukunft, v.a. wenn der Staat in einen globalen Wirtschaftsraum eingebettet ist und der Markt folgerichtig die Regeln diktieren muss, um den Staat konkurrenzfähig zu halten.
So sorgen Subventionen für Überproduktion und Preisverfall und der Preisverfall (in Relation zum Preisniveau des Gesamtmarktes) sorgt wiederum für die Forderung nach mehr Subventionen. Werden Preise festgezurrt, um inflationäre Tendenzen zu unterbinden oder »faire Preise« zu schaffen, kommt es zu Produktionsstopps und Verknappungen. Am Ende muss man die Preise dann erst recht loslösen, was zu einem enormen Preisanstieg nach oben führt. Das gleiche gilt für das Gift, das man Spekulanten entgegenspuckt. Verbietet man Spekulationen, so führt das dazu, dass Trends nicht mehr vorzeitig erkannt und damit verstärkt werden können (z.B. im Agrarsektor). Dadurch kommt es nicht zu einer vorzeitigen Ausweitung der Produktion, welche die Preise wieder drückt, sondern erst mit Zeitverzögerung, was dann noch höhere Preise zur Folge hat, als Spekulanten längerfristig (!) hätten schaffen können. Dasselbe gilt natürlich, wenn auf sinkende Preise gewettet wird – wenngleich man hier dann aber einen Aufschrei gegen das Spekulantentum1 vermisst. Ein Spekulant kann nur Trends verstärken, aber sie niemals gegen die Fundamentaldaten auslösen. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass es die gierigen Investoren und Banker, ergo Spekulanten waren, die das debitistische Rad weiterdrehten und so erst den Wohlstand der letzten Jahre garantierten.2 Allerdings waren die Spekulanten nur so lange der Freund des Staates, wie ihre Gelder und Kredite die Aktienkurse trieben und so neue Beleihungsbasen für weitere Kredite schufen. Erst als sich der Fokus auf die Rohstoffmärkte verschob, wurde der Spekulant zum Feind der Gesellschaft, aber man kann nicht das eine ohne das andere haben. Jedes Befeuern des kapitalistischen Wirtschaftens; jeder Zugewinn an Wohlstand steigert das Crashpotential. Das hat der Dualismus eben so an sich. Letztendlich sind es ja auch nicht die Spekulanten, die das Crash-Potential auf maximale Werte treiben, sondern der Staat ist es, stets mit unserer indirekten Unterstützung. Wir ließen nie die reinigenden Crashs zu, weil bittere Zeiten ja unsere Phantasien vom ewigen Wohlstand für alle ins Wanken gebracht hätten. Die Spekulanten garantieren dann bloß, dass unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt sind. Der Ruf nach Regulierungen im Bankensektor beruht auf demselben Irrtum. Da der Kapitalismus auf Schuldenwachstum beruht, kommt diese Forderung natürlich der Zündung des (ohnehin schon anstehenden) Crashs nahe. Deshalb halten solche strengen Vorschriften auch nie lange, denn die Kreditmaschinerie muss wieder laufen – egal wie minderwertig die Sicherheiten auch sind.
Hier geht es nicht um eine libertäre Fundamentalkritik an sozialen, monetären oder ökonomischen Staatseingriffen im Markt, denn der Markt selbst ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Staatseingriff: Ohne Staat kein Markt. Der Markt aber versucht permanent die Steuerschuld dauerhaft zu erwirtschaften oder zu umgehen – er versucht sich de facto selbst abzuschaffen und erreicht das am Ende auch, wenn er zusammen mit dem Staat untergeht. Würde man den Markt im libertären Sinne unangetastet lassen, würde der Mensch zur kapitalistischen Ware verkommen, bis er dagegen aufbegehrt. Will man dem kapitalistischen System aber ein menschliches Antlitz geben, muss man dafür den Preis zahlen – umsonst gibt es nichts.
Die ökonomische Wahrheit hinter den angeführten Beispielen mag man kontrovers diskutieren können, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Pros und Contras staatlicher Maßnahmen immer ideologisch begründet sind oder aber deshalb vom Wähler präferiert werden, weil sie ihm individuell Vorteile bringen. Und es ändert nichts an der Tatsache, dass jeder Staatseingriff zwingend zum nächsten führt und damit den Komplexitätsgrad in eine exponentielle Funktion treibt. Wer sich nur nüchtern mit dem Gesetzeswerk und dem Staatsapparat einer Monarchie über einen Zeitraum von Jahrhunderten auseinandersetzt und dies mit der Veränderung der bindenden Rechtsnormen und des Staatsapparats eines demokratischen Systems in einem Zeitraum von 50 Jahren vergleicht, der sieht auf einen Blick, weshalb die Demokratie immer nur eine kurze Romanze zwischen Staat und Volk im Leben einer Kultur bleiben kann. Jeder Eingriff eines Systems ins Milieu erzwingt einen weiteren Eingriff. Die Ursache hierfür liegt in letzter Konsequenz darin, dass ein Eingriff immer nur ein vom Ganzen isoliertes Problem korrigiert, während die Auswirkungen dieser Korrektur im Gesamtsystem auf das korrigierende System zurückwirken und es zu einer neuerlichen Anpassung zwingen. Das führt dazu, dass Anpassungen, über die Zeit hinweg gesehen, sogar gegenteilige Konsequenzen hervorbringen, als eigentlich beabsichtigt waren. Ich möchte hierfür Paul Watzlawick zitieren:
»Und so müssen wir uns mit fassungslosem Staunen Rechenschaft darüber ablegen, dass nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Konstruktionen zu Wirklichkeiten führen, die das Gegenteil des erhofften Idealzustandes sind: Die Medizin beginnt zur Krankheit beizutragen; immer spezialisiertere Schulen bringen immer mittelmäßigere Schüler hervor; Kommunikationstraining
macht Menschen zu geistig Taubstummen; immer raschere Verkehrsmittel und andere zeitsparende Errungenschaften lassen uns immer weniger Zeit; immer umfassendere Sozialeinrichtungen tragen zur zunehmenden Inkompetenz bei; Justiz und Gefängnisse scheinen uns zusätzliche Verbrecher zu bescheren; und jeder weitere soziale Fortschritt führt zur immer rascheren Erosion unserer persönlichen Freiheit.«1
Dieses ewige »Re-agieren« auf das Milieu führt zu einem Anwachsen der inneren Komplexität eines Systems und diese wiederum trägt zu der fehlenden Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bei, die das System letzten Endes zerstört bzw. durch schöpferische Zerstörung transformiert.
Zu jeder These gibt es eine Antithese, zu jeder Statistik eine Gegenstatistik, zu jeder Ideologie eine Gegenbewegung. Es liegt am Leser selbst, sich nicht von seiner eigenen ideologischen Vorprägung und seinen Emotionen leiten zu lassen, sondern ganz bewusst zu »feindlicher« Literatur zu greifen, um die eigenen Glaubenssätze auf die Probe zu stellen. Erst dann wird er begreifen, dass der Markt keine Wahrheiten für ihn bereithält, sondern bloß Rede und Gegenrede, die in ihrem synthetisierenden Wechselspiel gemeinsam an der Erhöhung der Gesamtkomplexität arbeiten. Die Demokratie ist dabei ein wahrer Komplexitätsgenerator. Die Dynamik zwischen Staat und Volk sorgt für eine Flut an neuen Gesetzen, Regulierungen, Verboten, Einschränkungen usw. Da die Demokratie kulturzyklisch immer erst nach einer Periode der Aufklärung Einzug hält, ist sie gleichzeitig die Spielwiese für Ersatzreligionen in Form sozialer und ökonomischer Ideologien und Utopien. Es genügt, am Stammtisch zuzuhören: »Wenn ich an der Macht wäre, dann würde ich dieses und jenes verbieten, anders machen, abschaffen etc.« So denkt nicht nur die Unter- und Mittelschicht im Wirtshaus. So denkt vor allem auch die intellektuelle Schicht, die der Kapitalismus in der Wohlstandsphase hervorbringt und die sich heute vor allem aus dem Gedankengut der 68er speist. Die Verheißung des Paradieses war unter Intellektuellen schon immer beliebt. Schumpeter sah 1942 eine Ursache für den Niedergang des Kapitalismus im Aufkommen der Klasse der Intellektuellen. Nach seiner These ermöglicht der Kapitalismus den Menschen eine immer höhere Bildung, während Bildung in vorkapitalistischer Zeit nur wenigen Menschen vorbehalten war: »Da die Führungspositionen nicht automatisch mit der Flut an Gebildeten mitwachsen, werden immer mehr von ihnen unbefriedigt beschäftigt oder bleiben arbeitslos. Diese Unzufriedenheit versuchen die Intellektuellen auf ihre Mitmenschen zu übertragen, organisieren Proteste gegen bestehende Zustände, fassen sozialkritisches Denken in Worte und liefern der Arbeiterbewegung Theorien und Schlagworte (wie das vom Klassenkampf). Sie schüren Unmut über das wirtschaftliche und politische System, versprechen der Arbeiterschaft bessere Zustände, wenn sie ihnen folgt und schaffen so eine dem Kapitalismus feindselig eingestellte Atmosphäre.«1
Diese Entwicklung gab es im 20. Jh. zwei Mal: einmal durch die intellektuelle 33er-Nazi-Bewegung mit dem SA-Pöbel, zum Zweiten durch die intellektuelle Studentenbewegung 1968 mit dem heute verlängerten Arm der »Antifa«. Beim ersten Mal fand die Bewegung in den Wirren der Weltwirtschaftskrise und des Versailler Vertrages fruchtbaren Boden; dies hängt vor allem auch mit dem Phänomen des Geburtenüberschusses zusammen, auf den wir später noch eingehen. Beim zweiten Mal schaffte die Bewegung den Marsch durch die Institutionen, d.h. die damaligen Revolutionäre bekleiden heute hohe Ämter in Medien, Politik und Justiz. Die wirklich breite Unterstützung durch die Gesellschaft blieb ihnen aber aufgrund des allgemeinen Wohlstandes und insbesondere des danach einsetzenden Geburtenschwunds verwehrt.
Die 68er
Der Herausgeber der libertären Zeitschrift eigentümlich frei, André F. Lichtschlag, brachte es auf den Punkt, als er in seinem Essay »Die Achtundsechziger als schlechte Kopie der Dreiunddreißiger?« schrieb:
»Aber wer hat eigentlich mehr geirrt, die Achtundsechziger oder deren Vätergeneration? Schauen wir uns die Ausgangssituation an. Dort: Weltwirtschaftskrise, Versailler Vertragsbürden, breites Bedrohungsempfinden durch den Bolschewismus. Hier: Wohlstand wie nie zuvor, Schutz und Freiheit durch die USA garantiert. Dann dort der Irrtum, in großer Not dem viertgrößten Massenmörder der Geschichte hinterhergelaufen zu sein. Hier der Irrtum, ohne Not einem oder mehreren der drei größten Massenmörder der Geschichte hinterhergelaufen zu sein. Dort nach dem Irrtum Abkehr vom Sozialismus sowie tatkräftiger und mühsamer Aufbau des Landes und Schaffung von Werten. Hier nach dem Irrtum Leben wie die Made im Speck, immer mehr Sozialismus, steter Verbrauch der Substanz. Dort am Ende Übergabe einer positiven Bilanz und eines Landes, in dem Menschen an sich selbst glauben. Hier irgendwann Übergabe eines bankrotten Wohlfahrtsstaats mit Menschen, denen man eingeredet hat, sie hätten ein Recht, auf Kosten Dritter zu leben. Und das Vererben einer unbezahlbaren Rechnung an die Nachfolgegeneration. Ja, es ist schwer zu entscheiden, wer mehr danebenlag.«
Die 68er waren mit Sicherheit eine Reaktion auf die verkrusteten, konservativen Nachkriegsstrukturen, aber noch viel mehr eine Reaktion auf die Wohlstandslangeweile. Man sollte die nachhaltigen Impulse, welche die 68er auf die damaligen reaktionären Strukturen hatten, bei aller Kritik nicht kleinreden.1 Ja, es ist überhaupt sinnlos, eine notwendige spätkapitalistische Erscheinung wie die 68er kritisieren zu wollen. Ich will mit meiner Kritik den Kern des Totalitarismus aufzeigen – wo und wie er schlummert und wie wenig es braucht, um ihn zum Ausbruch zu bringen. Das Glück jener Ära war, dass die 68er nie breiten Rückhalt in der Bevölkerung genossen, weshalb der sozialistisch-totalitäre Kern der Lehre sich nie nach außen stülpen konnte, wie das bei der RAF der Fall war. In Deutschland und Österreich waren die 68er eine Art tiefenpsychologische Reaktion auf ihre Elterngeneration. Es war, als wollten sie die Erbsünde des Holocausts, die auf ihnen lastete, durch eine Simulation der Geschichte tilgen. Sie erschufen und erschaffen bis heute eine Welt voller Nazis (was bei ihnen gleichbedeutend war und ist mit Kapitalisten, Bürgerlichen, Konservativen, Katholiken etc.), indem sie das gesamte demokratische Spektrum als rechts klassifizierten. Danach spielen sie die wagemutigen Helden im »Kampf gegen Rechts«. Es war, als sollten sie die Geschichte wiederholen, um einer metaphysischen Vaterfigur (die eigenen Väter wurden ja verteufelt als Zeichen des heroischen Generationswechsels) zu zeigen, dass sie die besseren Menschen sind: Widerstandskämpfer, die der nationalsozialistischen Versuchung widerstehen. Dabei beschränkte sich der »Kampf gegen Rechts« in der Hauptsache auf Nationalismus, Rassismus und das, was sie als Faschismus definierten. Wäre der Nationalsozialismus tatsächlich aufgearbeitet worden, so wären die verblüffenden Parallelen mit ihrer eigenen Bewegung offensichtlich gewesen. Man hätte dann begriffen, dass der Sozialismus der 68er und der nationale Sozialismus der 33er keine Gegensätze sind, sondern vielmehr einer gemeinsamen Quelle entspringen. Nicht nur der überall herrschende Wohlstand machte diesen psychologischen Versuch der Abgrenzung von den schlechten sozialistischen Elementen unglaubwürdig, auch die Demonstrationen mit Bildern von Mao und Stalin ohne bemühte Gegenstimmen (von Widerstand ganz zu schweigen) aus den eigenen Reihen ließen das ganze Unternehmen zur Farce werden. Warf man den Eltern in moralinsaurer Manier stets vor, »nichts dagegen getan« zu haben, so lief man nun in Zeiten des größten Wohlstandes selbst mit den Bildern der größten Massenmörder umher. Dabei hätte man diesmal garantiert wissen können, welche Gräueltaten ihre Idole begingen, hätte man auch bloß wenige Stunden zur Recherche investiert. Doch dies waren wohl die »notwendigen Opfer« zur Verwirklichung des sozialistischen Paradieses. Das nationale und rassistische Element wurde durch die 68er ins Gegenteil verkehrt. Penibel achtet man in den ehemals nationalsozialistischen Ländern darauf, dass die Schuld des Holocausts in den jeweiligen Ländergrenzen und der jeweiligen »Rasse« bzw. genetischen Abstammungslinie verweilt. Zuwanderer übernehmen diese Erbschuld nicht, sondern sind im Gegenteil stets potentielles Opfer der durch das Nazi-Gen gebrandmarkten Nachkriegsgeneration. Global kristallisiert sich das Feindbild der 68er auch klar heraus: Es ist der weiße, heterosexuelle, bürgerliche Mann. Wenn man sich vor Augen hält, dass der ausufernde Wohlfahrtsstaat, der die letzten 40 Jahre durch Schulden finanziert wurde, maßgeblich durch die »Wohlstand für jedermann«-Ideologie der 68er mitgetragen wurde, wäre es nicht verwunderlich, wenn nun die (spärlich gesäten) Kinder der 68er an ihre Elterngeneration herantreten und sie fragen würden, warum sie »nichts dagegen getan« haben – nichts dagegen getan, dass diese Art der Politik nun irreversibel in den Staatsbankrott führt und damit zur Erstarkung totalitärer Strukturen.
Heute erschöpfen sich die Wohltaten der alten Revolutionäre hauptsächlich in der üblichen sozialistischen Uniformierung. Nicht nur die Klassenunterschiede sollen durch Umverteilung aufgehoben werden (wovon man aber in Regierungsverantwortung wieder abkommt), auch die Geschlechter (Gender-Ideologie) und die Ethnien (Einwanderung), bis letztendlich der totale Einheitsmensch in seiner ganzen Pracht erstrahlt. Dazu bedienen sich die Alt-68er und ihr totalitärer Arm, die Antifa, des Orwellschen Neusprechs und einer besonders perfiden Form der Hegelianischen Dialektik: durch undemokratische Aktionen die Demokratie sichern, durch faschistischen Radau den Antifaschismus erhalten, durch Krawalle und Übergriffe den Weltfrieden hervorbringen und durch Zensur die Meinungsfreiheit garantieren (schließlich ist jede Meinung abseits des linksliberalen Blickwinkels grundsätzlich ein nationalsozialistisches Derivat). Die Antifa ist tatsächlich neben dem in wirtschaftlich schlechten Zeiten aufkeimenden Rechtsextremismus und der wachsenden islamistischen Parallelgesellschaft eine der wenigen zu 100% faschistischen Erscheinungen der Nachkriegszeit und die Verwandtschaft mit der 33er-Revolte ist nicht zu leugnen. Dass der Antisemitismus der Nazis in Wahrheit aus der sozialistischen Gleichsetzung des internationalen Kapitals mit dem internationalen Judentum entstand, Juden daher als fleischgewordene Kapitalisten angesehen wurden, wurde beim Antisemitismus der RAF offensichtlich.
Grundsätzlich ist es natürlich so, dass ein kapitalistischer, globalistischer Staat oder Staatenbund oppositionelle Kräfte entweder offen bekämpft (Kampf gegen Rechts) oder, wenn möglich, assimiliert. Zweiteres widerfuhr den 68ern. Der Marsch durch die Institutionen war nur jenen vergönnt, die der Kernforderung »Kampf gegen den Kapitalismus« abschworen, d.h. ihrer eigenen Ideologie das Rückrat brachen und die Globalisierung nicht als Vehikel des Kapitals sahen, sondern als eine Form der sozialistischen Internationalisierung. Damit schlug der Staat mehrere Fliegen mit einer Klappe. Er entledigte sich der 68er, indem er den Opportunisten der Bewegung eine Stimme im Parlament verlieh, er nutzte deren feministische Ideologie, um die Frauen in die Wirtschaft zu zwingen und deren antirassistische Ideologie, um Spannungen zwischen den Völkern im Globalisierungsprozess abzubauen, er baute die 68er-Kapitalisten als linke parlamentarische Partei auf, um echte Linke draußen zu halten und er benutzte sie und ihren verlängerten Arm – die Antifa – um Globalisierungskritiker, Nationalstaats-Nostalgiker, Separatisten und Regionalisten mundtot zu machen durch den Vorwurf, dem Nationalismus, Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit das Wort zu reden. Heute sind die Alt-68er im Parlament eine Karikatur ihrer selbst. Sie unterstützen ein System, das auf dem permanenten Zwang zum Wirtschaftswachstum beruht und den Planeten mit unheimlicher Geschwindigkeit ausbeutet, vergiftet und zerstört, und betreiben gleichzeitig Alibi-Umweltschutz, indem sie mal diese, mal jene Umweltsünde PR-technisch hochspielen. Sie stehen bedingungslos hinter dem Globalisierungsprozess und geißeln jede Abschottung als Nationalismus, während sie gleichzeitig für höhere Löhne und Sozialleistungen werben – ein eklatanter Widerspruch. Sie stehen für offene Grenzen und einen funktionierenden Sozialstaat, d.h. für die Quadratur des Kreises. So absurd dieses Weltbild auch ist – das Aufkommen der 68er war kein Betriebsunfall der Geschichte, ungewöhnlich war nur die Stärke der Bewegung, was der Massenpsychologie nach dem 2. Weltkrieg geschuldet sein dürfte. Tatsächlich treten nämlich derartige Forderungen am Ende jeder Kulturstufe auf. Oswald Spengler, der 1936 verstarb und deshalb von den 68ern nichts wissen konnte, nannte diese Phase im Leben einer Kultur den »ethischen Sozialismus«. Auf die tiefere Bedeutung dieses Begriffs können wir erst später eingehen. Vorerst ist es nur wichtig zu wissen, dass im Moment des kulturellen Abschlusses der ethische Sozialismus Einzug hält, später geht er seinen Weg über pazifistische, spirituelle Bewegungen und Weltverbrüderungsideologien und erstarrt und dogmatisiert schließlich in der sogenannten »Zweiten Religiosität«.
Je stärker demokratische Strukturen ausgebaut sind, desto eher kulminiert der demokratische Wettkampf der Interessensvertretung in der Erkenntnis, dass wir alle Opfer sind, die ihr Leiden weder dem Leben an sich noch dem kapitalistischen System zu verdanken haben, sondern den »Umständen«, und die Umstände bleiben stets in der sozialen Sphäre, um die staatliche Ordnung nicht zu gefährden. Nicht der Kapitalismus beutet uns aus, sondern der böse Spekulant. Nicht der Kapitalismus senkt unsere Löhne, sondern der gierige Unternehmer. Nicht der Kapitalismus hindert Menschen aus der Unterschicht am Aufstieg, sondern priviligierte Menschen. Nicht der Kapitalismus schafft ein Prekariat, sondern die fehlende Bildung.1 Nicht der Kapitalismus schafft Radikalismen, sondern die fehlende Toleranz. Nicht der Kapitalismus schafft Kriminalität, sondern die fehlende Förderung und Anerkennung. Solange wir einander lieben, fällt niemand durch den Rost und der Kapitalismus kann uns nichts anhaben. Und je mehr diese Umstände zum Hauptfeind eines wartenden Utopias ausgemacht werden, desto penibler wird die Redefreiheit eingeschränkt, um Gedanken, die an die Wurzel des Systems gehen, von vornherein auszumerzen. Nicht die Philosophie, die Geschichtswissenschaft oder die Ökonomie kann das Heilmittel sein – dafür reicht die Bildung der staatlich protegierten Intellektuellen-Schicht nicht aus –, sondern in der Sprache wird es gefunden. Je netter wir zueinander sind, desto eher werden sich die Klassenunterschiede auflösen.
Im Abendland kennt man diesen Diskurs unter dem Stichwort »Antidiskriminierung« und »politische Korrektheit«: Jeder ist Opfer der Umstände. Jedem widerfährt Ungerechtigkeit – nicht, weil diese systemisch determiniert ist, sondern weil der Mensch eine vorurteilsbeladene Bestie ist. Jeder – außer die (männliche, weiße, heterosexuelle) Mittelschicht und der Mittelstand als subjektiv empfundene Priviligierte – wird diskriminiert. Mit diesem provokanten Fingerzeig auf die gutbürgerliche Mitte kann man die Benachteiligten eine Zeit lang ruhigstellen, ohne ihnen wirklich etwas zu geben; und auf diesem Feld der intellektuellen Schmalspurdebatten findet der Diskurs dann auch statt, und zwar umso fanatischer, je mehr der Kapitalismus ins Straucheln kommt. Je höher das Szepter der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit gehalten wird, desto näher rücken die Geburtswehen des Cäsarismus. Bis dahin aber ist die selbsternannte intellektuelle Schicht das Zentrum der öffentlichen Debatte und dort bemitleidet man sich und jene, die man zu vertreten vorgibt, gemeinsam für die »Umstände«.
Die innere Logik, der diese Entwicklung folgt, basiert auf dem Gefühl der Machtlosigkeit der Massen und der Politik gegenüber einem selbstlaufenden, unaufhaltbaren System und einer immensen intranationalen und internationalen Komplexität, die wie ein Damoklesschwert über der Kultur schwebt. Unbewusst ahnt jeder, dass er Sklave des Systems ist und dass das Rütteln an den Fundamenten des Kapitalismus oder der internationalen, ökonomischen oder geopolitischen Vernetzungen mit einem horrenden Umbruch einhergehen würde, der mit allen Mitteln unterbunden werden muss. Nichtlineare, autopoietische, komplexe Systeme kann man eben nicht an der Wurzel verändern, ohne sie zu zerstören. Man nimmt sie entweder als gegeben hin oder geht mit ihnen unter. Was der Mensch der Frühzeit in der Natur sah – ein gegebenes, unveränderliches System, mit dem man unhinterfragt lebt –, das sieht der Demokrat im Markt. Deshalb verlagert sich der Diskurs der sozialen Problemlösung – ähnlich wie die rituellen Gebräuche zur Beeinflussung von Mutter Natur in der Frühzeit – auf die letzten veränderlichen Dinge: Die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, sprechen und Gruppen bilden. Vor allem Letzteres wird zur niemals endenden Spielwiese ideologischer Menschheitsoptimierer, da die Regeln der Gruppendynamik, die eine Funktion der Ähnlichkeit sind (ähnliche Interessen, ähnlicher Charakter, ähnliche Schicht, ähnliche Kultur etc.) tief in der DNA und letztlich in den Gehirnsynapsen verankert sind, wo entschieden wird, wer zur Gruppe gehört oder von ihr ausgeschlossen wird. Deshalb diskriminiert der Mensch, solange der genetische Code unangetastet bleibt. Wir haben es hier also mit religiösen Ersatzhandlungen zu tun: Gott ist animistisch und bezieht sich auf die Umwelt als solche. Und diese lässt sich manipulieren durch ein tugendhaftes Leben des Gläubigen. Das ist eine Regression in Jean Piagets »präoperationale Phase«, die im Alter von 2 bis 7 Jahren durchlaufen wird und von einem starken Egozentrismus und magischem Denken geprägt ist. Werden die Denk- und Sprachgebote Gottes eingehalten, hat das direkte (positive) Auswirkungen auf die Umwelt und nichts kann einem etwas anhaben. Der Teufel dagegen ist nicht das System, in das man eingebunden ist, sondern der weiße, heterosexuelle, »rechtsradikale« Mann, der einen vom rechten (linksliberalen1) Weg abbringen will. Fremden und Angehörigen von Minderheiten wird in dieser animistischen Welt keine eigenständige Persönlichkeit zugestanden, da man sie ebenso verniedlicht und jeglicher Verantwortung beraubt, wie man sich auch selbst infantilisiert. Diese Unschuld kann nur von außen – vom weißen Teufel – besudelt werden und auf ihn projiziert man alle Probleme, die trotz Einhaltung des Tugend-Kanons auftreten; oder wie Watzlawick schreibt:
»Wie bereits erwähnt, impliziert der Begriff der endgültigen, allgemeinverpflichtenden Welterklärung ja, dass neben ihr keine anderen Erklärungen bestehen können oder, genauer gesagt, bestehen dürfen. Denn sonst befänden wir uns ja noch immer in einem Universum, in dem letzthin alles wahr sein könnte, auch sein Gegenteil. Wo die Ideologie sich rückbezüglich auf sich selbst zu beziehen versucht, um ihre Wahrheit aus sich selbst heraus zu beweisen, entsteht ein ›blinder Fleck‹ … Diese örtliche Blindheit, die für sich selbst blind macht, ermöglicht es dem Ideologiegläubigen, an die Wahrheit und Geschlossenheit der Lehre zu glauben. Wenn die ›soziale Gleichung‹ dann aber doch nicht aufgeht, so ist dies offensichtlich nicht ein Defekt der reinen Lehre, sondern es muss draußen, irgendwo, noch ein unentdeckter, heimtückischer Feind lauern, der den Anbruch des Millenniums sabotiert ….«1
Und dieser Feind ist natürlich derjenige, der tiefer in Kaninchenbau blicken will, auch wenn er das, was er sehen könnte, ohnehin nicht erklären darf, weil ihm die Worte dafür verboten wurden. Tut er es doch, verliert er nicht selten Ansehen und Beruf und wird von der staatlichen Intelligenzija, welche bis dahin noch über das Instrument der Massenmedien die Deutungshoheit besitzt, aus der Gruppe der moralisch integren Menschen ausgeschlossen. Diese »Jeder gegen jeden«-Ideologie, die das Volk spaltet und auseinanderdividiert in Inländer gegen Ausländer, Rechte gegen Linke, Mann gegen Frau, Reaktionäre gegen Progressive, Gläubige gegen Andersgläubige, wird vom Staat sanft befeuert und mit allen Mitteln auf einem möglichst bürgerkriegslosen Niveau aufrechterhalten: Das ist die Maxime des Divide et impera – teile und herrsche. Solange die Menschen aufeinander losgehen, verbünden sie sich in ökonomisch schlechteren Zeiten nicht gegen Staat. Sobald sich der politisch korrekte Diskurs in immer absurderen Ausdifferenzierungen erschöpft (60 verschiedene Geschlechter, Mikroagressionen etc.) und das ewige Spiel aus demokratischer Rede und Gegenrede, inmitten ökonomischer Wirren, bestenfalls Langeweile hervorruft, schlimmstenfalls zu Wut und Hass führt, beginnt das gemeine Fußvolk aufzubegehren und sich ein allerletztes Mal zu politisieren. Zu diesem Zeitpunkt hat der Kapitalismus die Stände ausgedünnt. Die Mittelschicht erodiert und mit dem Untergang des eher rechtsorientierten2 Bürgertums als Netto-Steuerzahler fehlt der kapitalistischen Linken (Linksliberale) die Finanzierungsbasis für ihre Utopien. Beide sinken herab zum Vierten Stand: der formlosen Masse der Weltstädte. Die Welt teilt sich auf in Wohlhabende und den Pöbel und zur Organisation dieser zwei Stände bedarf es keiner Demokratie mehr, ja sie wird darüber hinaus zur Verwaltung der immens angewachsenen Komplexität nach und nach als hinderlich angesehen. Es ist die Ära der Populisten als Vorläufer der daraus selektierten Cäsaren, die ihren Aufstieg der chaotischen Rückabwicklung des Kapitalismus verdanken. Das Zeitalter des Pragmatismus im Alltagsleben beginnt, die kleinkrämerischen demokratischen Diskussionen um des Kaisers Bart werden in den Hintergrund gedrängt und das moralische Bonmot der Intellektuellen wird von der groben, lauten Sprache des Pöbels übertönt. Angesichts des pragmatischen Gestaltungs- und Machtwillens der Cäsaren wird Politik für den Alltagsmenschen bald uninteressant und die politische Korrektheit und mit ihr alle Weltverbrüderungsideologien verlagern sich dorthin, wo sie von Beginn weg hingehörten: in die religiöse Sphäre – das Volk wird wieder gläubig! Bis es aber so weit ist, schützt sich der demokratische Kapitalismus vor offenen Diskussionen über fundamentale Veränderungen, die das System und seine menschlichen Subsysteme in den Abgrund stürzen würden. In der Hochzivilisation gibt es eine weichgespülte Meinung und jeder, der dagegen ankämpfen will, muss zuerst durch komplizierte Sprachkonstruktionen und komplex verschachtelte Sätze die Felsen umschiffen, die ihm die politische Korrektheit in den Weg legt, womit die Diskussionskultur in sich selbst endet.1
Diese geistige Erstarrung des Systems geht Hand in Hand mit der Stockung des debitistischen Aufschuldens und der sich anschließenden finalen großen Krise. Da das ewige Hinauszögern von Crashs von Seiten des Staates über die Jahrzehnte hinweg im Westen zu wahren kreditfinanzierten Monsterkonzernen führte, bekommen diese kurz vor dem Untergang den heute berühmten Status der »Systemrelevanz«. Infolgedessen werden sie im Fall ihres Untergangs, um einen Domino-Effekt in der Wirtschaft zu verhindern, verstaatlicht. Das gilt nicht nur für riesige Konzerne, sondern natürlich auch für riesige Banken. Die Staatsgarantien führen dazu, dass die Misswirtschaft in den betreffenden Konzernen munter weitergeht, schließlich greift ihnen ja im Notfall der Staat mit zukünftigen Staatseinnahmen unter die Arme – ein Phänomen, das uns später auch beim Sozialismus beschäftigen wird. Die Konzentration von Wertschöpfung in wenigen Konzernen begünstigt im Crash den Übergang vom Kapitalismus zum postkapitalistischen Feudalismus. Die Reaktionen des Staates auf die finale Krise einer Kultur laufen nicht mehr unter dem Banner einer Ideologie. Sie sind vielmehr reine Notmaßnahmen einer überforderten und ständig reagierenden statt proaktiv agierenden Regierung. Verträge werden gebrochen, Regeln gegenstandslos, das Volk nach Strich und Faden belogen und die Rechtssicherheit weicht damit mehr und mehr der Willkür einer Bananenrepublik. Mit dem Reißen des debitistischen Kettenbriefes entsteht zuerst eine Art Staatskapitalismus, der sich zu einem Staatsbastard aus Kapitalismus und Sozialismus auswächst. Der dahinsiechende Wirtschaftsraum ist dann weder Fisch noch Fleisch, sozialistischer als die soziale Marktwirtschaft und kapitalistischer als der Sozialismus nach Lehrplan. Den Menschen, die dabei der Verarmung anheimfallen, wird die Definitionsfrage wohl gleichgültig sein.
Ein greifbares Beispiel für einen kapitalistischen Zyklus bietet das Römische Reich. In seiner Anfangszeit waren die Steuersätze niedrig. Später begannen die Politiker sich die Gunst des Volkes durch Wohltaten auf Basis von Staatsverschuldung zu erkaufen. Trotzdem sprudelten die Steuereinnahmen großzügig herein und sorgten für einen Ausbau von Straßen, Tempeln, Thermen und Aquädukten.1 Jetzt passiert etwas, das bereits Paul C. Martin für unseren Zyklus vorausgesehen hatte: Auf die exzessive Schuldenpolitik folgt eine – zumeist konservative – Regierung, die eine Sparpolitik einleitet. Diese notwendig erscheinende Sparpolitik führt dann aber erst recht zum Abwürgen des debitistischen Prozesses.2 Dasselbe passierte im alten Rom. Unter Tiberius (14 – 37 n. Chr.) erfolgte eine Eindämmung der Ausgaben und Investitionen. Das Unvermeidliche passiert: 33 n. Chr. kam es zu einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Deflation begann. Geld wurde knapp und wertete auf. Die Preise fielen, die Kreditmaschinerie geriet ins Stocken. Und ebenso wie heute begann damals unter Caligula (37 – 41 n. Chr.) eine Jagd auf Steuerflüchtlinge. Unter Nero (54 – 68 n. Chr.) setzte dann die Abwertung des Geldes durch Münzverschlechterung ein3, d.h. die Inflation, welche durch das Prägen dieses Nettogeldes die Dauerrezession überlagerte. Später wurden die Steuern für Wohlhabende erhöht und Privatvermögen mehr und mehr konfisziert. Diese römische Epoche stellt aber keine »Gleichzeitigkeit« im Sinne Oswald Spenglers dar. Denn unsere abendländische Kultur befindet sich in der Phase der Herrschaft des Geldes und geht erst mit der Abschaffung der Demokratie und dem Aufkommen des Cäsarismus, d.h. dem Sieg der Gewalt über das Geld, ihrem endgültigen Verfall entgegen. Vergleichbar ist unser Zyklus mit der römischen Epoche kurz vor der Revolutionszeit und der Bürgerkriege Mitte des 2. Jh. vor Christus, ausgelöst durch Eigentumsakkumulation und Konkurrenz der einströmenden Sklaven, welche die ansässigen Kleinbauern und Handwerker nicht gewinnen konnten (bei uns Lohn- und Preisdumping durch Globalisierung). Die Revolutionszeit läutete das Ende der bisherigen Staatsform ein und führte geradewegs in die Diktatur.1 Auch die römische Wirtschaftskrise 66 v. Chr., die ihren Ausgang an den Immobilienmärkten nahm und durch eine Politik des Krieges gelöst wurde, weist interessante Parallelen mit der Gegenwart auf. Auch unsere Kultur wird im Zuge dieser Weltwirtschaftskrise erleben müssen, wie die Erde zu einem Brandherd wird.
Der Krieg ist zwar kein alleiniges Spezifikum eines untergehenden kapitalistischen Zyklus (die Kriegsgefahr ist fast ebenso groß beim Untergang eines sozialistischen Systems und im Hochsommer des kapitalistischen Systems aufgrund von Rohstoffmangel), aber hier sind die Ursachen evident: die Ausbeutung eines anderen Landes zur Bedienung der eigenen Staatsschuld, die Ankurbelung der Wirtschaft durch die Kriegsmaschinerie, die Unterwerfung neuer Nachschuldner, die Erschließung neuen unbelasteten Eigentums und der notwendige äußere Feind, um den Zusammenhalt im Inneren zu garantieren. Die moderne Form des Imperialismus (Vernetzung von Industrie, Banken und Staat) lässt sich am besten an dem Werk des Insiders John Perkins, Economic Hit Man, studieren. Auch Spengler beschrieb die Kulturstufe beim Übergang in den Cäsarismus und darüber hinaus als permanenten imperialistischen Kampf, der die Welt als Beute betrachtet, während die Kultur selbst bald übergeht in ein geschichtsloses Erstarren und Absterben.
Welche anderen Symptome ergeben sich kurz vor dem Absterben eines kapitalistischen Zyklus? Ein Symptom ist der bereits erwähnte Feminismus. Vordergründig geht die feministische Phase Hand in Hand mit den Selbstverwirklichungswünschen der Frau in einer Wohlstandsphase. Im Hintergrund aber herrschen andere Mechanismen. Massenpsychologische Phänomene werden durch den dynamischen Druck des Systems determiniert. Nicht Menschen initiieren ein Massenphänomen, sondern der Zyklus lässt diese Menschen erst nach oben kommen, um massenwirksam zu walten. Nicht Elvis machte den Rock ´n´ Roll populär, sondern der Zyklus ließ Menschen wie ihn nach oben kommen. Hätte er den Rock ´n´ Roll nur 20 Jahre früher erfunden, wäre er als Nobody gestorben
Auch Spengler identifizierte das 20. Jh. als Übergang in die Zivilisation und verglich es (im Sinne der »Gleichzeitigkeit«) mit dem Beginn des Zweiten Punischen Krieges (208 – 201 v. Chr.). bzw. nur einem kleinen Kreis bekannt gewesen. Alles hat eben seine Zeit.1 Auch feministische Literatur gibt es schon seit langer Zeit und wahrscheinlich in jeder Kultur. Erst in einer längerfristigen Wohlstandsphase, in der ein Nachdenken über vernachlässigte Missstände einsetzt und Bedürfnisse im demokratischen Wettkampf geweckt werden müssen, werden seine Forderungen zum ersten Mal gehört. Staatlich forciert wird die Frauenbeschäftigungsquote aber erst, wenn der Kapitalismus Schwächen zeigt und neue Nachschuldner benötigt; und sobald das Gehalt des Mannes nicht mehr reicht, um seine Familie zu ernähren, wird sie zur Notwendigkeit. Erst jetzt schlägt die Stunde des Feminismus und begünstigt genau jene Menschen im politischen Aufstieg, die ihn predigen, solange sie das System selbst unangetastet lassen. Um es nochmals klar zu sagen: Der Feminismus ist ein kapitalistisches Produkt. Schumpeter sah das 1942 aus ähnlichen Gründen voraus. Erkennen lässt sich das auch an seinen Forderungen in der Spätphase: Nicht eine Aufwertung der weiblichen Talente steht im Vordergrund, sondern das krampfhafte Hineinzwängen der Frauen in männliche Domänen, weil diese in der Hauptsache Produktivität schaffen, Steuereinnahmen generieren und damit dem Kapitalismus dienen (siehe Kasten »Der Feminismus und die Gender-bender«).
Der Feminismus und die Gender-bender
Die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau ist in unserer Gesellschaft zu 100% erfüllt. Jede Frau hat dieselben Rechte wie ein Mann, alle Wege stehen ihr offen. Der spätkapitalistische Feminismus der Gegenwart dagegen ist nichts anderes als die übrig gebliebene kleine Spielwiese der kapitalistischen Linken, wenn sich fundamentale Veränderungen als unmöglich und größenwahnsinnig herausgestellt haben. Der Staat belässt dem Volk diese Spielwiese der hitzigen Debatte zur Ablenkung und befeuert sie, um die Aggression nach dem »Teile und herrsche«-Prinzip von sich weg in Nebenschauplätze zu kanalisieren (rechts vs. linksliberal). Heute hat sich diese Ideologie bis in das absurde Weltbild des »Gender-Mainstreamings« gesteigert und sie hat ein ganz klar definiertes Feindbild: die patriarchalische Gesellschaft. Und kein Klischee ist zu abgenutzt, um dieses Feindbild zu bedienen. So ist es die verschwörerische Verbrüderung der Männer, die den politischen und unternehmerischen Erfolg der Frauen behindert und die jedem Mann inhärente Frauenverachtung sorgt für ihre schlechte Bezahlung. Dass der Führungsdrang nach oben im statistischen Mittel (!) in der männlichen Genetik und das soziale Engagement in die Breite in der weiblichen Genetik begründet liegt, ist für die Verfechter der Gender-Ideologie1 ein Ding der Unmöglichkeit, denn genetische Unterschiede opferte man schon zuvor bei menschlichen Großrassen am Altar der politischen Korrektheit, ja man negierte die Existenz von Rassen an sich als Reaktion auf die noch absurdere nationalsozialistische Rassenlehre, die letztendlich im Holocaust kulminierte.2 Ebenso führt man die Interessensunterschiede zwischen Mann und Frau auf die Erziehung zurück, d.h. auf soziale Determinierung, eine Pseudo-Wissenschaft, die ihre tragische Widerlegung neben zig wissenschaftlichen Studien vor allem im Fall David Reimer3 erfuhr. Trotz der Tatsache, dass Gender-Mainstreaming, konsequent weitergedacht, die Evolutionstheorie leugnen muss, feiert diese Ideologie nach wie vor fröhliche Urständ und wurde durch massive Lobbyarbeit zum fixen Bestandteil der europäischen Leitkultur. Doch wo setzt der moderne Feminismus an, um die angeblich noch immer herrschende Unterdrückung der Frau in der westlichen Gesellschaft zu beheben?
Er fordert Quotenregelungen für männlich dominierte Berufssparten und Ausbildungsstätten, d.h. weniger qualifizierte (bzw. interessierte) Frauen sollen besser qualifizierte (bzw. interessierte) Männer ersetzen, um die Quoten zu erfüllen. In manchen Sparten ist es nicht einmal möglich, durch Quoten die geforderten 50% Frauenanteil zu erfüllen, so gering ist das weibliche Interesse. Seltsamerweise werden nie Frauenquoten gefordert in Männerdomänen wie der Kanalarbeit und Müllabfuhr oder im Heereswesen, wo der Staat nur Männer zur Einberufung zwingt. Ebenso werden nie männliche Quoten gefordert in Frauendomänen wie sozialen Berufen (vom Psychologen bis zum Kranken- und Altenpfleger, vom Kindergärtner bis hin zum Friseur und Kosmetiker). Allein daran ist nicht nur die ideologische Ausrichtung zu sehen, sondern auch die Verachtung gegenüber Berufen, die diese patriarchalisch indoktrinierten, nach Macht strebenden, feministischen Ideologen selbst geringschätzen. Sie bewerten eben die Männerdomänen, in denen sie Quoten durchsetzen wollen, höher als die Frauendomänen bzw. die bildungsfernen Männerdomänen, die mindestens genauso wichtig sind. Sie teilen damit die patriarchalisch-kapitalistischen Ansichten, die sie zu kritisieren vorgeben – man beachte beispielsweise allein die Abwertung der Mütter, deren Aufwertung den rechten Politikern überlassen wird, bzw. ihre abwertende Sicht auf das Mutterdasein an sich. Man sieht, dass die eigentliche Intention eben nicht Gleichberechtigung ist, sondern das Schüren von Neiddebatten. Es geht nur vordergründig um die bei vielen Feministen zu beobachtende pathologische Einstellung zum männlichen Geschlecht (gewalttätig, unsensibel, die Frauen unterdrückend). Hintergründig ist die Verachtung des eigenen Geschlechts wirksam. So wie Frauen gerne über hübsche Frauen lästern (Flittchen), weil sie unbewusst genauso aussehen wollen und auch Männer gern über hübsche Frauen lästern, weil sie unbewusst wissen, dass sie jene niemals ins Bett bekommen – beides also psychologische Phänomene zur eigenen Höherstellung (anstatt zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstwertgefühl), so geht es auch im Feminismus um den Minderwertigkeitskomplex der weiblichen Feministen, der sich gern als Frauenpower geriert und von der Unterdrückung durch die patriarchalische Gesellschaft redet, während gleichzeitig versucht wird, genau diese patriarchalische
Junge sein zu wollen, wurde als Transsexualität ausgelegt. Noch heute wird der Verweis auf dieses gescheiterte Experiment als antifeministische Propaganda gewertet.
Gesellschaft nachzuahmen. Nicht umsonst sind die Koryphäen des Feminismus selbst in literarischen und psychologischen Berufssparten zu finden (die das weibliche Talent bedienen), während die technisch begabte Frau sich keinen Deut um den Feminismus schert. Statt also die weiblichen Talente höher zu stellen und ein Bewusstsein zu schaffen für die Wichtigkeit sozialer Berufe und all die damit verbundene Arbeit aufzuzeigen, die Krankenschwestern und Altenpflegerinnen, aber auch Mütter tagtäglich vollbringen, versucht man die Frauen krampfhaft in männlich dominierte Berufe zu drängen, weil man diese unbewusst höher bewertet. Und während die Feministen nicht müde werden zu betonen, wie viel besser Mädchen und Frauen bei jenen Tests und in jenen Sparten abschneiden als ihre männlichen Kollegen, ist man sich nicht zu schade, diese Frauenpower durch Lobbys, Frauenquoten und dergleichen zu pushen – d.h. ein Eingeständnis, dass Frauen im Durchschnitt in männlichen Berufssparten doch nicht so erfolgreich sind, ebenso wie Männer im Durchschnitt für soziale Berufe weniger geeignet sind und im Vergleich mit weiblichen Talenten (z.B. Multitasking-Fähigkeit) jämmerlich versagen. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der moderne Feminismus ist eine zutiefst frauenverachtende Ideologie, die alle weiblichen Attribute und Vorzüge als minderwertiger einstuft als typisch männliche. Die perfekte Frau hat eben im Feminismus ein Mann zu sein. Weil der patriarchalische Debitismus die männlichen Attribute begünstigt und den Feminismus, auf der Suche nach Nachschuldnern, nach oben hievt, ist der Kapitalismus der Vater und Freund des Feminismus.
Ein weiteres kapitalistisches Produkt ist das zunehmende Sinken der Reproduktionsrate, das zwar mit dem Eintritt der Frauen in das Berufsleben und ihren Selbstverwirklichungswünschen Hand in Hand geht, aber nicht deren Ursache ist, wie später noch gezeigt wird.1
Mit der Unabhängigkeit der Frauen explodieren die Scheidungsraten und die dazugehörigen Patchwork-Familien und der Kindermangel führt zu einem sich immer weiter zuspitzenden Demographieproblem. Nicht nur die Renten der Alten werden durch den fehlenden Nachwuchs unbezahlbar, auch der Kapitalismus verlangt nach Nachschuldnern (neben Eigentum als Beleihungsbasis), d.h. neuen Kreditnehmern und Konsumenten, um weiterhin zu funktionieren. Obendrein verlässt sich der bereits stark verschuldete Staat auf weiter fließende Steuereinnahmen zur Bedienung der Staatsschulden, zur Finanzierung der aufgeblähten Staatsquote und der Bestechung der Wähler. Hier passiert dann mit einer besonderen Regelmäßigkeit, die Paul C. Martin erkannte, »zeitgleich« in vielen Kulturen dasselbe: Sie öffnen die Grenzen für Ausländer, d.h. für neue Steuerzahler. Im alten Rom waren das die Germanen, denen alsbald auch diverse Bürgerrechte verliehen wurden, bei uns sind das Wirtschaftsflüchtlinge und Konzerne aus aller Welt. Es ist einleuchtend, dass das Fremde im bisher »eigenen Land« Spannungen hervorruft – weniger in Wohlstandsphasen, umso mehr aber in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Dies ist ein völlig natürliches Fraktal der Individualpsyche und eine Binsenweisheit in der systemischen Psychologie. Nicht nur Kinder beginnen ab einem gewissen Alter Unterschiede beispielsweise in der Hautfarbe bewusst wahrzunehmen und eine andere Hautfarbe als ihre eigene als etwas Interessantes (im positiven Sinne), trotzdem aber Fremdes zu begreifen (wer sieht aus wie ich bzw. wie meine Eltern und wer nicht). Es bleibt also immer eine gewisse Spannung zurück, die – so positiv sie anfangs auch ist – schnell ins Gegenteil umschlagen kann. Wo der infantile Geist noch äußerst anpassungsfähig ist, bewegt sich das erwachsene Individuum in Gruppensphären. Dabei ist die Bezeichnung der erweiterten Gruppe (nach der Primärgruppe »Familie« oder der Sekundärgruppe »Freundeskreis«), der man sich in einem Massenkollektiv zugehörig fühlt, völlig nebensächlich und dem Zeitgeist geschuldet – wichtig ist nur, dass mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe andere von dieser Gruppe ausgeschlossen werden. Man kann den Rassismus überwinden, aber man kann niemals die Gruppenbildung überwinden. Die Zugehörigkeit zu einer Rasse wird dann bloß transformiert zu einer Zugehörigkeit zu einer Kultur, einer Ideologie oder einer Religion. Die tolerantesten Menschen bilden die Gruppe der tolerantesten Menschen, aber sie werden sich niemals in kulturellen, religiösen oder ideologischen Sphären bewegen, die von Menschen mit gefestigtem Weltbild beheimatet sind. Deshalb kommt es statt dem gewünschten Multikulturalismus stets zur Separation und Segregation. Und schnell kann selbst die Toleranz totalitäre Züge annehmen, wenn sie nämlich nur mehr die Toleranz und ihre liberale Beliebigkeit toleriert. Das unumgängliche Problem dieses Gruppenverhaltens ist, dass eine Gruppe die Lebenswelt der anderen Gruppe weder verstehen kann noch verstehen will – bilden doch »die Anderen« einerseits die Selbstdefinition der eigenen Gruppe als »Wir« und dienen somit als Kitt für den Zusammenhalt und müssen andererseits für die eigenen Ressentiments herhalten, selbst wenn man sich diese nicht eingestehen mag. Sigmund Freud formulierte einst, man könne genug Menschen durch Sympathie aneinanderbinden, wenn nur genug Antipathien für Menschen außerhalb der Gruppe überbleiben. Daher ist es geradezu paradox, wenn Ideologen Toleranz fordern, die durch die alleinige Existenz der Ideologen ad absurdum geführt wird. Dieses Gruppenverhalten ist nicht nur bereits in der Schule beobachtbar, wenn etwa eine Klasse überwiegend schlanker Kinder ihre dicken Kinder hänselt. Als ironische Anekdote erzählten darüber hinaus Produzenten und Darsteller des 1968 erschienenen, zutiefst antirassistischen Films »Planet der Affen« einhellig, dass sich in den Pausen zwischen den »Affenarten« (als Gorillas, als Orang-Utans oder als Schimpansen kostümierte Menschen) unbewusst eine Rassentrennung einstellte, d.h. die Schauspieler sich bevorzugt bei ihren Artgenossen aufhielten, anstatt sich zu mischen. Hier ist also bereits die Kostümierung Grund genug für eine »rassisch« induzierte Gruppenbildung. Selbst wenn alle Menschen von Geburt an gleich wären – eine Behauptung, die beispielsweise von der Genderforschung1 auf die Spitze getrieben wird –, so muss die philosophische Frage erlaubt sein, was sich bei einem erfolgreichen ideologischen Kampf tatsächlich ändern würde? Wenn es keinen Unterschied mehr zwischen Mann und Frau gäbe (ein Ding der Unmöglichkeit, weil bereits kleinste genetische Unterschiede bzw. darauf aufbauend auch kleinste Unterschiede in Interesse oder Verhalten zu einer gruppendynamischen Segregation führen), dann würde sich eben ein anderes Gruppenverhalten herauskristallisieren. Der Begriff »Geschlecht« wäre dann bloß ein austauschbarer Begriff und die Spaltung einer Gesellschaft würde sich anhand anderer Kriterien vollziehen. Wenn aber alle Menschen gleich sind, ergibt sich hier ein Paradoxon, weil dann eben Frauen gleicher wären als beispielsweise Klassen oder Kulturen. Die Uniformierung der Gesellschaft ist in einem Massenkollektiv schlichtweg ein Kampf gegen Windmühlen.
Der Mensch selbst (ja sogar das »Sein« an sich) ist, wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, darauf angewiesen, Unterschiede zu begreifen (die zur Gruppenbildung führen, da sich Gruppen immer durch Abgrenzung und Ausgrenzung definieren), weil er sonst gar nicht lebensfähig wäre. Wesentlich erschwert wird dieses Problem, wenn Menschen aus unterschiedlichen »Kulturstufen«2 zum Zusammenleben gezwungen sind. Oswald Spengler hat dies im historischen Maßstab analysiert und kam zu dem Ergebnis, dass ein Zusammentreffen von Kulturen unterschiedlicher Kulturstufen irgendwann zwangsläufig in Pogromen endet. Um also dem aufkeimenden Rassismus (der in der Zivilisationsphase zur Aversion gegen nicht »zeitgleiche« Kulturen transformiert wird) zuerst im Zuge der Globalisierung und des freien Personenverkehrs, später durch bewusst forcierte Einwanderung, bereits in der Wohlstandsphase vorweg den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird der Aufstieg der kapitalistischen Linken weiter forciert: Die Ideologie des »Antirassismus« beginnt – bei uns zuerst harmlos und bemüht, den interkulturellen Dialog zu fördern. Später verwandelt sich dieser Antirassismus in das totalitäre Konstrukt aus Verboten, politischer Korrektheit und Sprachfetischismus.1 Die Sprache wird außerdem zum Spiegel eines hochkomplexen kapitalistischen Systems. Wenn wir die Sprache von 1900 bis 1970 mit der Sprache heute vergleichen, fällt eines klar auf: Damals wurden Fakten völlig offen und fernab jeglicher Rücksichtnahme nüchtern diskutiert, während heute ein Teilnehmer einer medialen Diskussionsrunde oder ein Politiker nur vage Floskeln spricht, die niemanden mehr interessieren, weil sie nichts aussagen. Die Ursache dafür liegt in der Komplexität des Systems. Die Macht eines Politikers ist von derartig vielen Faktoren abhängig (Wählerstimmen, internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen, massivem Lobbyismus, Interessensgruppierungen etc.), dass er keinen faktenbezogenen, nüchternen Satz mehr aussprechen kann, ohne damit irgendjemandem zu nahe zu treten. Wir sehen erneut, wie eine Entwicklung die andere zwangsläufig hervorbringt und diese Zyklen stets die richtigen Menschen zur richtigen Zeit nach oben hieven. Die Subventionierung des dringend benötigten Nachwuchses führt aber letztendlich dazu, dass die ansässige Unterschicht und Migranten aus jungen, frischen Kulturen (daher gebärfreudiger als der spätzivilisatorische Mensch) gefördert werden, während die Intelligenz des Landes ausstirbt. Hier passiert dann langfristig das, was Spengler für alle Kulturen am Ende ihres Zyklus prophezeit: Ihre Schwäche, Dekadenz und Antriebslosigkeit führt zur Übername ihres Kulturraumes durch sich vermehrende Einwanderer anderer Kulturen oder kriegerische Völker. Eine Zivilisation geht nach Spengler also nie von sich selbst aus unter. Sie wird »untergegangen«. Im über Jahrzehnte und Jahrhunderte sich desintegrierenden Westen dürfte sich Russland, das sich in einem jüngeren Kulturzyklus befindet, nach und nach Einfluss verschaffen, um schließlich die Macht zu übernehmen (kriegerisch oder als Schutzmacht auftretend). Auch für Spengler war es Russland, welches den Untergang des Westens einläuten sollte. Was die kulturelle Durchdringung des Westens durch den Islam betrifft, so glaube ich persönlich, dass das Abendland - neben der zwangsläufigen Entwicklung germanisch-katholischer Fellachen (dazu später) - ähnlich wie das römische Palästina um das Jahr null, auch zum Schmelztiegel verschiedenster, scheinbar unvereinbarer Weltanschauungen wird, aus der sich schließlich eine neue synkretistische Hochzivilisations-Religion (die im Fellachentum dogmatisiert), wie das Christentum, herauskristallisieren wird.1
Welche typischen Symptome kennzeichnen den Kapitalismus noch? Der kapitalistische Wohlstand, das Aufkommen der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft, die staatlichen sozialen Netze und die zunehmende Verstädterung führen darüber hinaus zur Vereinzelung, Individualisierung und der Zerstörung von Familien, zu Egoismus, Karrierestreben und Ellenbogenmentalität. Der innerdörfliche Zusammenhalt bröckelt und in den Städten weiß man nicht einmal mehr, wie der Nachbar heißt. Der Zwang zum Wirtschaftswachstum führt einerseits in die Höhe zum biblischen Turm zu Babel in Form von Wolkenkratzern, später dann in die Breite durch den Imperialismus. Der Mangel an Eigentum zur Besicherung neuer Kredite führt zur Akzeptanz immer phantasievollerer Eigentumsbegriffe – von »geistigem Eigentum« hin zur Besicherung von Krediten mit virtuellem Eigentum (siehe dot.com-Blase) sowie immer komplizierteren Finanzprodukten, die durch eine Bündelung vieler minderwertiger Kredite den Anschein von Werthaltigkeit vermitteln (Subprime-Hypotheken). Am Ende eines Zyklus steht ein hoch verschuldeter Wohlfahrtsstaat vor uns, der am internationalen Markt nicht mehr konkurrieren kann. Weil aber wirklich schwere Einschnitte (Abschaffung von Gewerkschaften, Kollektivlöhnen, Kündigungsschutz, Subventionen, Währungsreform, Teilenteignung von unbelastetem Eigentum der Oberschicht mit anschließender Neuverteilung) niemals ohne Not durchgesetzt werden können, Gift für ein komplexes System sind und natürlich mit einem hohen Wohlstandsverlust samt schwerster Wirtschaftskrise einhergehen, erhalten die spätkapitalistischen Länder ihren Wohlstand nur mehr durch Privat- und vor allem Staatsverschuldung – bis zum bitteren Ende. Dann kehren sich alle Wohlstandsphänomene um: Wenn die Katastrophe hereinbricht, gehören bürgerkriegsähnliche Zustände zum Alltag, gleichzeitig gewinnen Familie und soziale Netzwerke an Bedeutung. Die Scheidungsrate sinkt rapide (man braucht einander), Magermodels weichen wieder echter Weiblichkeit1, Freizügigkeit weicht einer neuen Züchtigkeit, bei der Partnerwahl bekommen materielle Werte den Vorzug, Sparsamkeit wird zur Tugend usw. Dieses Umschlagen der vorangegangenen Phänomene ins Gegenteil passiert in unserem Zyklus natürlich bei Weitem nicht mehr in der Intensität, wie das nach der Weltwirtschaftskrise nach 1929 der Fall oder in den Jahrhunderten davor Usus war (Sexualmoral etc.).2 Vielmehr ist es nur mehr eine zaghafte Besinnung, weil die Energie aus der alternden Zivilisation verbraucht ist. Die allgemeine Dekadenz bleibt bis zur Auflösung der Zivilisation in einer neuen, frischen Kultur bzw. der intelligenzbefreiten, strengen Religiosität des Fellachenzeitalters. Wir kommen später noch darauf zu sprechen.
So wie die Freiheit als Spannungsfeld ausgefüllt wird durch Staatsmacht oder der Kapitalismus das debitistische Spannungsfeld durch Realisierung aller möglichen Produkte ausfüllt, so wie Gott, unser Universum, die Evolution oder das Bewusstsein ihre Möglichkeiten realisieren, so verwirklicht sich auch die Kultur selbst, bis sie das Spannungsfeld ausfüllt im Endzustand Zivilisation: Die strenge Sexualmoral muss überwunden werden, der Konservatismus, die religiösen Dogmen, die wissenschaftliche Engstirnigkeit, die politischen Ideologien. Und just in dem Moment, wo die Freiheit ihr Maximum erreicht hat (die Spannung abgebaut ist), wird der Untergang eingeleitet.3 Diesen Untergang darf man sich, abgesehen von temporären Phasen und Schüben (z.B. Rückabwicklung des Kapitalismus), insgesamt nicht als Zustand eines Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauernden, chaotischen Horrorkollapses vorstellen, sondern als Entdynamisierung, d.h. die Luft ist raus, die Spannung abgebaut, das Siechtum beginnt (die Hochzivilisation), bis neue Impulse von außen kommen (Krieg, Vermehrung junger Kulturen etc.). So wie in der Physik oder Chemie Potentialunterschiede abgebaut werden (kommunizierende Gefäße, Thermodynamik, chemische Reaktionen etc.), so herrscht auch in einer Kultur Dynamik und Leben, bis die Potentiale ausgeglichen sind. Wirtschaftlich befindet sich die Zivilisation (wie auch das Abendland seit 2000) dann in einem Zersetzungsprozess, der sich in einer jahrzehnte- bis jahrhundertelangen Dauerrezession äußert, die nie mehr überwunden und höchstens von kurzen Scheinaufschwüngen unterbrochen wird.
Nachdem wir nun den Kapitalismus entzaubert haben, versuchen wir den globalen Blick auf das Geschehen ab- und uns der Politkaste zuzuwenden. Wie lächerlich erscheint jetzt das ganze politische Geschäft. Die einen fordern dort eine Steuererhöhung, die anderen hier eine Steuersenkung. Die einen fordern höhere Löhne, die anderen niedrigere. Wie absurd erscheint all dieses Handeln in Anbetracht der determinierten debitistischen Dynamik. Politik lässt sich jetzt nur mehr auf einen Punkt reduzieren: Machterhalt. Und dieser Machterhalt beruht einzig und allein auf ideologischen Nebelgranaten und dem Hinauszögern des Crashs mit allen Mitteln – das ist die Aufgabe der Politik. Um mehr geht es nicht und hier schließt sich der Kreis zu Oppenheimers Staatstheorie – Machterhalt und Ausbeutung sind nach wie vor die Aufgaben des Staates. Seit zum ersten Mal ein Stamm den anderen unterwarf, hat sich der Kern der Herrschaft nicht geändert – nur seine Form. Und selbst der Machterhalt hinkt immer nur der System-Notwendigkeit hinterher. Politik agiert also nie – sie reagiert bloß.
Paul C. Martin brachte das auf den Punkt, als er in Der Kapitalismus – Ein System, das funktioniert erklärte, dass jede wirtschaftliche Nachricht (die Löhne steigen/sinken, der Ölpreis fällt/steigt, der Staat macht Defizit/spart) dualistisch kommentiert werden kann. Zu jedem Pro und Contra finden sich die passenden Argumente bzw. die passende ökonomische Lehre. Er schreibt weiter:
»Hinter jeder Meinung steckt eine Theorie. Und da es so viele Theorien über Wirtschaft gibt, wie man sich nur wünschen kann, ist nichts leichter, als für jeden Tatbestand sowohl ein ›Prima‹ als auch ein ›Großer Mist‹ zu konstruieren. Es gibt keine wirtschaftliche Bewegung und erst recht keine wirtschaftspolitische Maßnahme, die ein erfahrener Ökonom nicht in die eine oder die andere Richtung interpretieren kann. Über die Wirtschaftstheorie, die heute an Tausenden von Universitäten und Instituten gelehrt wird, kann man mit dem großen französischen Politiker Georges Clemenceau seufzen: ›Alles ist richtig, nichts ist richtig. Das ist der Weisheit letzter Schluß.‹«
Wie tief Clemenceau zur Wahrheit aller Wahrheiten durchgedrungen ist, dürfte ihm selbst kaum bewusst gewesen sein.
Der Sozialismus
Der Kommunismus ist eine großartige Theorie. Das Unglück bestand darin, dass er sich verwirklichen ließ.
Ephraim Kishon
Eines haben Kapitalisten und Sozialisten gemeinsam: Kritisiert man ihre Systeme in der Praxis, so hört man von beiden: »Aber das war doch kein richtiger Kapitalismus/Sozialismus«. Beide vergessen, dass diese Systeme von Menschen betrieben werden und man durch reines Theoretisieren niemals die Wirklichkeit abbildet. Die Entartung und der katastrophale Schlussakt des kapitalistischen Systems der Gegenwart ist ebenso wenig ein Betriebsunfall der Geschichte wie die rund 100 Millionen Toten im Namen des Sozialismus. Überall geht das System seinen vorherbestimmten Weg und je mehr man versucht, die Wirklichkeit zu »verbessern« durch neue Gesetze, Regulierungen, Behörden und Bürokratie1, desto konsequenter geht es seinem Untergang entgegen – was im Umkehrschluss aber nicht heißt, dass einfach Nichtstun die Systeme retten würde. Beide Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen sind von Anfang an fehlerbehaftet2 und im gesamten Lebenszyklus versucht »das System« bzw. seine Träger diese Fehler zu korrigieren. Damit wird aber ein Bedarf an immer mehr Korrekturen geschaffen, mithin entsteht immer höhere Komplexität, die im Gesamten immer anfälliger für einen totalen Kollaps wird. Dabei lässt sich jeder problemlösende Eingriff mit dem Abschlagen des Kopfes der mythologischen Hydra vergleichen – zwei neue Köpfe (Probleme) wachsen nach. Dieses Anwachsen der Komplexität gilt für alle (!) dynamischen Prozesse vom Urknall über die Evolution bis hin zu menschlichen Systemen, denn alles basiert auf der kosmischen Schuld des Seins und jedes dynamische System strebt durch ein Anwachsen des Komplexitätsgrades einem Gleichgewichtszustand entgegen, der nie zu erreichen ist und kurz vor Erreichen den Kollaps einleitet. Joseph Tainter zeigt das für Kulturen anhand eines Diagramms: einer Parabel auf deren x-Achse der Grad der Komplexität und auf deren y-Achse der Nutzen der Komplexität eingezeichnet ist. Immer mehr nähert sich diese Kurve dem magischen Punkt, an dem zuerst der Grad an Komplexität immer weniger Nutzen bringt und später sogar zusätzliche Kosten und Anstrengungen verursacht (= Einleitung des Kollapses). Noch viel gravierender als in einem kapitalistischen System ist die bürokratische Erstarrung aber in der sozialistischen Planwirtschaft, die dem Staat nicht nur das Maximum an Macht (und damit Bürokratie-, Korruptions- und Machtmissbrauchspotential) zugesteht, sondern obendrein durch ihr Gerechtigkeits- und Gleichheitsbestreben zu Beginn (wenn im besten Fall Idealisten an der Macht sind) und ihren totalitären Drang, das sozialistische, sterbende System zu erhalten am Ende, einen bürokratischen Beamtenapparat schafft, der in seiner Perversion seinesgleichen sucht. Da auch Angebot und Nachfrage durch planwirtschaftliche Zuteilung ausgehebelt werden und die Verteilung der Ressourcen über gigantische Staatsapparate erfolgt, vielleicht sogar noch so ein temporäres Unding wie »demokratischer Sozialismus« herrscht, ist es keine Kunst, sich auszumalen, woran der Sozialismus im Kern krankt. Allein im Kapitalismus ist der menschliche Perfektionswahn an der exponentiell wachsenden Gesetzesflut und der damit einhergehenden Bürokratisierung zu sehen, deren Durchsetzung immer unrealistischer wird, was das Vertrauen in staatliche Vorschriften an sich untergräbt und automatisch (zusammen mit dem allgemeinen Niedergang) dazu führt, dass Gesetze zur Schikane für jene werden, die nicht gewillt sind, Bestechungsgeld zu zahlen oder falschen Ideologien und Werten anhängen.1 Warum der Sozialismus in Sachen »Wohlstand« und »Produktivität« dem Kapitalismus immer hinterherhinkt, sollte aus dem bisher Geschriebenen ableitbar sein. Ihm fehlt DAS charakteristische Merkmal des Kapitalismus: der Schuldendruck.2 Im Sozialismus gibt es kein Eigentum, das als Beleihungsbasis für Kredite dienen könnte, folglich gibt es keine Kreditwirtschaft, ja nicht einmal Geld laut Definition, sondern nur Bezugsscheine, die gegen »Arbeitseinheiten«3 emittiert und dann gegen Güter getauscht werden können. Dieses Geld ist nichts anderes als ein Gutschein. Marx hing eben dem gleichen folgenschweren Irrtum an, wie die heutige Mainstream-Ökonomie: dem Tauschparadigma. Ohne Schulden- und damit Leistungsdruck, ohne Termin und ohne Regelung des Marktes durch Angebot und Nachfrage ist Geldwertstabilität eine völlige Illusion. Nicht umsonst war das sozialistische »Geld« in kapitalistischen Ländern so gut wie nichts wert, doch nicht nur hier: Auch im Sozialismus selbst blühte am Schwarzmarkt die Tauschwirtschaft, weil die sozialistischen Bezugsscheine nicht gefragt waren. Offiziell gab es natürlich keine Inflation. Durch künstliche Preisfixierungen wurden die Preise niedrig gehalten, was zu Verknappungen, Schlangenbildung vor Geschäften und nicht selten zu Hungerkatastrophen führte. Ohne Schuldendruck gibt es eben keine Märkte, ohne Märkte keine Marktpreise und ohne Marktpreise keine Information für eine effiziente Produktion. Besonders schön zu beobachten war und ist das in der Volksrepublik China. Nach Maos katastrophaler sozialistischer Diktatur1 mit mehr als 30 Millionen Toten begann sich China mit der Regierungszeit Deng Xiaopings schrittweise dem Kapitalismus zu öffnen.2 1979 experimentierte man mit Sonderwirtschaftszonen mit wirtschaftlichen Sonderrechten und eigener Gesetzgebung. Auf besonders rückständigem und unbedeutendem Terrain wurden wirtschaftsliberale Konzepte getestet. Mit dem Erfolg dieser Experimente wurden diese Konzepte auf weitere Gebiete ausgedehnt, zuerst auf zum Ausland geöffnete Wirtschaftsstreifen an der Küste, später auch auf Gebiete im Binnenland.
»Ab 1984 wurde die Vorgehensweise der Landwirtschaft, Produkte, welche über die Planvorgabe hinaus produziert wurden, für den freien Markt freizugeben, auf die Industrie übertragen. Die Behörden schlossen Verträge mit den staatlichen Betrieben und reduzierten ihre Einmischung in deren Tagesgeschäft. Auf diese Art gab es kräftiges Wachstum, aber es entstand auch ein zweigleisiges Preissystem, in dem parallel Plan- und Marktpreise existierten, was zum Missbrauch führte, dass Waren, die eigentlich zu den niedrigen Planpreisen hätten verkauft werden müssen, auf den freien Märkten auftauchten.«3
Später durften Banken Kredite nur noch nach Kreditwürdigkeit vergeben und nicht nach politischen Vorgaben, um den Staatseinfluss auf die Unternehmen zu minimieren.
Weil die Verluste der Staatsbetriebe in den 90er Jahren untragbar wurden, kam es zu einer Welle der Privatisierung.4
»Im Jahr 2001, dem Jahr des Beitritts Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO), war ungefähr die Hälfte aller Arbeitnehmer in den Städten im privaten Sektor beschäftigt.«1
2004 wurde die Abschaffung des Privateigentums rückgängig gemacht, der Schutz des Privateigentums in der Verfassung verankert2, mit Ausnahme von Grund und Boden. Beides bleibt vom Privatbesitz weiterhin ausgeschlossen.3
»Die Kommunistische Partei Chinas hat sich von einer Klassenpartei zu einer Volkspartei gewandelt. Um ihrer Aufgabe, den Staat zu führen, gerecht zu werden, werden inzwischen Vertreter aller gesellschaftlichen Gruppen in die Partei aufgenommen. Während früher Vertreter der verschiedenen ideologischen Schulen um Einfluss rangen, ringen jetzt Vertreter der Unternehmer, der Gewerkschaften, der Bauern, der Städte oder Parteiintellektuelle um die politische Linie. Der kontroverse Diskurs ist dabei erwünscht und wird oft auch öffentlich ausgetragen. Es gibt im Wesentlichen drei Strömungen. Die ›Neuen Linken‹ kritisieren die sozialen Folgen der Liberalisierungspolitik und fordern mehr Eingreifen des Staates. Die ›Neoliberalen‹ fordern, dass sich der Staat noch viel stärker aus der Wirtschaft zurückzieht, während die ›Demokratischen Liberalen‹ politische Reformen fordern. Einer ihrer wichtigsten Vertreter ist He Weifang. Er legte im Jahr 2008 einen Siebenpunkteplan vor. Er fordert u.a.: die Dominanz der Partei im politischen System zu reduzieren, das Rechtswesen vom Einfluss der Partei zu befreien, die Rechtssicherheit im Wirtschaftsalltag zu verbessern sowie Demonstrationsfreiheit.«4
Mit der Implementierung des Kapitalismus beginnt jetzt der Interessenskampf der Träger des kapitalistischen Zyklus (Unternehmen, Staat, Bürger [Arme, Arbeiter, Mittelstand, Reiche]) und damit sollte in historischer »Kürze« das Staatsmachtvakuum »Demokratie« Einzug erhalten. Am Beispiel China lässt sich sehen, wie die kapitalistische Öffnung mit einem Boom einhergeht, weil plötzlich Schuldendruck besteht. Der essenzielle Faktor ist dabei immer das Eigentum. Während wir eine Hilfslieferung nach der anderen in Entwicklungsländer schicken und damit Abhängigkeit statt Selbstständigkeit schaffen und obendrein durch kostenlose Nahrungsmittellieferungen (Drücken der Preise) die ohnehin schon gebeutelten ansässigen Bauern ruinieren , schreibt Gunnar Heinsohn in seinem Geniestreich Söhne und Weltmacht:
»Wenn man den weniger entwickelten Ländern helfen will, dann darf man ihnen kein Geld geben. Die denken sonst in der Tat, dass auf rätselhafte Weise riesige Tresore voll mit dem edlen Papier gerade in den OECD-Staaten gelandet sind, die somit ruhig etwas abgeben könnten. Doch die haben keine Kisten, sondern für die Geldschaffung belastbares Eigentum. Die Etablierung von Eigentum wiederum erfordert nur ganz geringen technischen Aufwand. Bloße Besitztümer müssen um Eigentumstitel ergänzt und dabei breit gestreut werden. Die Verteilung muss in Dokumenten über die Eigentumstitel fixiert werden. Kataster und Grundbücher sind anzulegen. Man muss also schreiben und Urkundenstempel herstellen können. Man muss an Gesetze gebundene Polizei und unabhängige Gerichte schaffen, die in die Eigentumstitel – ohne Ansehen der Macht ihrer Halter – vollstrecken können […] Keine Hilfe zur Selbsthilfe kann sich segensreicher auswirken als die Information über die Mechanismen der Geldschaffung.«
Und genau daran, und nur daran, kranken Entwicklungsländer. Und auch wenn der Grundmechanismus der kapitalistischen Wirtschaft im Mainstream noch nicht angekommen ist, so beschleicht einen dennoch manchmal der verschwörungstheoretische Gedanke, dass beispielsweise ein Aufstieg Afrikas durch Implementierung einer Eigentumsgesellschaft, basierend auf einem stabilen Staat, in Wahrheit gar nicht gewünscht ist und man lieber durch Hilfslieferungen und groß aufgezogene Pop-Events zur Hilfe Afrikas die wahren Probleme zu verschleiern versucht. Schließlich profitiert der Westen ja prächtig, wenn er sich die Zinszahlungen für die Staatsverschuldung in wertvollen Rohstoffen auszahlen lässt und kurz vorm Bankrott mit pseudohumanitärer Geste großzügig und medienwirksam Schulden streicht, um den Zinsfluss weiter am Laufen zu halten. Drollig sind in der Hinsicht auch immer die Forderungen der antikapitalistischen Linken, die glauben, durch Umverteilung von den reichen Industriestaaten zu den armen Entwicklungsländern würde man Wohlstand in letztere transferieren, obwohl erstere ja diesen Wohlstand nur durch die kapitalistische Wirtschaftsweise erworben haben und letztere dieses Geld bloß verkonsumieren, um danach dazustehen wie zuvor. Folgende Postulate werden wir im Zuge dieses Kapitels beweisen:
1. Wo der Kapitalismus immer am Leistungsmaximum wirtschaftet, produziert der Sozialismus immer am Leistungsminimum.
2. Der Sozialismus endet ebenso wie der Kapitalismus: in sich selbst
Der erste Punkt sollte durch die debitistische Beschreibung bereits zu einem Großteil bewiesen sein. Ohne die hilflosen Versuche sozialistischer Staaten, der kapitalistischen Konkurrenz hinterherzuhecheln, würde die sozialistische Produktion auf noch viel tieferem Niveau laufen. Neben dem fehlenden Schuldendruck ist der größte Fehler der Sozialisten die Annahme, es gäbe so etwas wie solidarische Produktion1 in einer Nation mit zig Millionen Individuen oder gar in einem sozialistischen Weltstaat (die berühmte sozialistische Weltrevolution). In einem derart anonymisierten Umfeld verfolgt jedes Individuum bloß seine eigenen Interessen – und das nicht nur im Volk, sondern auch in der sozialistischen Elite, die überhaupt keinen Bezug zum Volk hat. Hinter der systemimmanenten Intransparenz der sozialistischen Bürokratie gedeihen Korruption, Bestechung und Betrug. Diese Entwicklung ist nur allzu menschlich, und je mehr versucht wird, entgegen dem zentralisierenden Trend, die Hierarchie zu dezentralisieren, desto stärker wächst die Bürokratie und desto stärker leidet die Kommunikation von unten nach oben, wo man bereits in totalitär strukturierten sozialistischen Systemen überhaupt keine Ahnung hat, was an der Basis vor sich geht und was dort für die reibungslose Produktion benötigt wird. Den individuellen Interessen (der Betriebe oder der einzelnen Menschen) stehen im Sozialismus also immer die »Gemeininteressen« diametral gegenüber. Genau das ist der Grund, warum Propaganda und Sozialismus immer Hand in Hand gehen müssen. Die Propaganda dient dazu, den Zusammenhalt, die Solidarität und das Unterordnen der sozialistischen Zellen (Individuen) im sozialistischen Volkskörper zu gewährleisten. Im Sozialismus muss also der Systemzusammenhalt durch geistige Parolen bewerkstelligt werden, was auch der Grund ist, warum Sozialismus und Nationalismus, entgegen der Propaganda des Mainstreams und entgegen dem globalistischen Trend des Kapitalismus, so oft Hand in Hand gehen. Allerdings kann dieser psychologische Schub immer nur von kurzer Dauer und geringer realer Auswirkung auf den Alltag sein, bis alle wieder ihr eigenes Süppchen kochen. Auf Dauer verliert die Propaganda ihre Wirkung und verkommt zu einer skurrilen Randerscheinung des Alltags. Woran lässt sich die Diskrepanz zwischen Gemeininteresse und Betriebsinteresse ausmachen?
»Zunächst einmal darin, dass die Betriebe sich dem Planrahmen entsprechend verhalten: von ihnen wird gefordert, eine bestimmte Ware mit einem bestimmten Wert zu produzieren, beides gemessen in Quantitäten, einmal naturalen, einmal geldförmigen, woraus sich zwei in der Literatur sattsam bekannte Phänomene ergeben, die der jeweiligen Planform entsprechen. Die stoffliche Seite der Planung des Werts zeitigt folgende Logik:
›Angenommen zum Beispiel, der Direktor eines sowjetischen LKW-Transportunternehmens muss einen Plan in Tonnen-Kilometer erfüllen; sein Bestreben, möglichst keine Ladungen über kurze Entfernungen zu transportieren, ist kein Fehler, sondern eine rationale Anpassung an das System, in dem er tätig ist.‹
Alec Nove, 1980, S 13«2
Wir sehen anhand dieses alltäglichen Beispiels im Sozialismus, dass es im menschlichen Ermessen liegt, bei möglichst wenig Aufwand und ohne Rücksicht auf irgendeinen abstrakten gesellschaftlichen Nutzen das Plansoll zu erfüllen. Stahlmann schreibt weiter:
»Weiterhin wird von ihm gefordert, einen bestimmten ›Wert‹ zu produzieren, der ihm in Geldform vorgegeben wird, also letztlich immer in realen Produktionskosten, die der Produzent zu verbrauchen hat. Je mehr dieses seltsamen ›Werts‹ er verröstet, desto leichter erfüllt er seinen Plan, je mehr Wert er von Vorprodukten auf sein Produkt überträgt und je mehr Neuwert er durch Vernutzung von Arbeitskraft schafft, desto ›wertvoller‹ ist sein Produkt und dementsprechend seine Prämien, sein Gewinn.«
Die Betriebe im Sozialismus haben also von sich aus natürlich kein Interesse für Produktionsverbesserung oder gar Effizienz – im Gegenteil. Die Planvorgabe schafft den Anreiz, bei möglichst geringem Aufwand, möglichst geringer Qualität, möglichst vielen Arbeitskräften und möglichst großen zugeteilten Ressourcen das Plansoll gerade zu erfüllen. Eventuelle Überschussproduktion wird am Schwarzmarkt verkauft. Oder wie Stahlmann schreibt:
»Die Betriebe scheinen also ein äußerst geringes Interesse zur Verwohlfeilerung zu haben, zumindest was ihre planmäßige Produktion betrifft. Der Widerspruch zwischen betriebswirtschaftlicher Vernutzungslogik und abstraktem Gesamtinteresse bedingt aber prinzipiell eine Tendenz der Unternehmen, Überschüsse über dem Plansoll schwarz zu verscherbeln und dabei nicht die schlechtesten auszusuchen, was besonders in der Landwirtschaft eine große Rolle spielt, aber auch im Investitionsgütersektor. Auf diesem Weg setzt sich die betriebswirtschaftliche Logik seit langem frei durch, ohne dabei das Plansoll zu verfehlen, allein mit verfügbaren Überschüssen, die legal oder illegal ein gigantisches Ausmaß erreicht haben: der Schwarzmarktumsatz in der Sowjetunion etwa wird auf 80 Mrd. Rubel geschätzt (Moscow news, Mai 89). Klar dürfte sein, dass hier das Privatinteresse überwiegt und der öffentlichen Knute so viel wie möglich versucht wird abzutrotzen. Ebenso klar dürfte geworden sein, dass es keine Einheit von einzelbetrieblichem und Gesamtinteresse gibt, dass die Betriebe zwar Produktion auf der Basis der Verwertung des Werts betreiben und die Planung kein anderes Ziel verfolgt als diesen Wert zu planen, beide aber bei aller Gutwilligkeit darüber in Widerspruch geraten.«
Die Finanzierungs- und Abnahmegarantie führt im sozialistischen System dazu, dass die Qualität der Produkte in den Betrieben sukzessive sinkt. Hauptaugenmerk des Betriebes liegt einzig und allein auf der Erfüllung des Planes und dieser legt neben lächerlichen Qualitätsmerkmalen, die kaum jemand kontrolliert und für die bei Verfehlungen ohnehin der Staat geradesteht, nur Menge und Geldquantitäten fest. Letztendlich führen diese negativen Anreize über die Zeit hinweg zur Produktion des letzten Drecks. Nach Präsentation eines Zeitungsartikels der Nürnberger Zeitung aus dem Jahre 1990 mit dem Titel »Glas in der Sowjet-Wurst: Da graust es sogar Katzen«, fährt Stahlmann fort:
»Prinzipiell kann zunächst einmal Scheiße produziert werden, dann wird im Nachhinein kontrolliert, der Kontrollinstanz können wieder Erleichterungen abgerungen werden, die dann wieder übertreten werden und am Schluss kommt hinein, was die Schamgrenze des Produzenten zulässt. Die Zentrale kauft dieses Produkt dann ab, der Betrieb verrechnet so viel Kosten wie möglich.« Natürlich gibt es auch im Sozialismus Sanktionen für die Produktion derart minderwertiger Produkte, doch werden diese so gut wie nie exekutiert. Zum einen sorgen die bürokratischen Wucherungen im Sozialismus immer wieder für Möglichkeiten der Bestechung und Korruption, zum anderen ist dieses Problem derart systemimmanent, dass eine rigorose Kontrolle der Betriebe einen noch aufgeblähteren Staatsapparat zur Folge hätte. Darüber hinaus, und das ist wohl der wichtigste Punkt, würden die Betriebe auf eine strikte Festlegung von Qualitätsmerkmalen mit der Forderung nach noch mehr Ressourcen, noch mehr Arbeitskräften, noch späterem Termin zur Auslieferung und noch höheren Kosten reagieren. Dass das sozialistische System an sich die fleischgewordene Ineffizienz ist und daher bereits vor einer ohnehin nie anstehenden Einführung einer strikten Qualitätskontrolle maßlos in Bürokratie und Verschwendung versinkt, wird wohl kaum jemand zugeben, sodass diese Forderungen dann auch berechtigt erscheinen.1 Ebenso sorgt, zusätzlich zur Arbeitsplatzgarantie2 und der systemimmanenten Faulheit beim Arbeiten, diese Finanzierungs- und Abnahmegarantie für einen gewaltigen Geldüberhang, d.h. es wurde zur Regel, dass die im System angelegte Kosteninflation durch Geldinflation, d.h. durch die Notenpresse beglichen wird. Der Weg zur Notenpresse ist kein besonders großer, denn wo Politiker Zugang zur Notenpresse haben, wird dieses Privileg auch für politische Interessen genutzt und gerade im Sozialismus ist dieser Gang unausweichlich. Die Liste für die systemimmanente Inflation im Sozialismus ist lang. Die wichtigsten Punkte sind:
a) Planungsfehler: Produktions- und Bedürfnisstruktur sind nicht aufeinander abgestimmt (Mangelgüter einerseits, Überschussgüter andererseits)1
b) Offizielle und tatsächliche Produktionsziffer weichen voneinander ab (Abrechnungs- und Buchungstricks auf betrieblicher Ebene)2
c) Ein wachsender Anteil an der Produktion diente nicht-konsumtiven Zwecken (Außenpolitik, Mauerbau, Rüstung, Weltraum, Olympiasiege)
d) Wegen fehlender Zinsen überstieg die Investitionstätigkeit die Spartätigkeit
e) Wachsende Defizite im Staatshaushalt (Subventionsfolgen) und deren Finanzierung durch die Notenbank
f) Finanzierung ineffizienter Betriebe mit Zentralbankgeld (sog. soft budget constraints)3
Um diese Inflation im Keim zu ersticken, kommen Preisfixierungen und Subventionen. Die Folgen sind natürlich Verknappungen, Schlangenbildungen vor Geschäften und im schlimmsten Fall Hungertote, denn eins werden Sozialisten nie begreifen: Angebot und Nachfrage sind keine kapitalistischen Erfindungen. Sie wirken immer.
Die Abnahmegarantie und die fehlende billige Konkurrenz haben aber noch wesentlich weitreichendere Folgen. Stahlmann schreibt:
»Durch die Abnahmegarantie verschärft sich die Tendenz zur Anhäufung ›abstrakter‹ Arbeit‹ vom bloßen Desinteresse an Kostensenkung auf Grund der rein quantitativen Planung zum positiven Interesse, die Kosten möglichst zu steigern, da ein billigerer Produzent sich kaum melden wird, denn die Finanzierung ist so oder so gesichert. Damit aber ist der Stachel zur Steigerung der Arbeitsproduktivität gleichsam abgeschnitten, vor allem in der Hinsicht, dass es keinen Grund gibt, lebendige Arbeitskraft freizusetzen, denn sie gilt ja per se als wertschöpfend und wird deshalb unabhängig von ihrer Notwendigkeit finanziert. Die famose Arbeitsplatzgarantie ist also eine Form der Wertfinanzierung, mit den gleichen Folgen: ›Zum Beispiel hat sich der Direktor einer Gerätebaufabrik im Nowosibirsker Raum, darüber beklagt, dass rund ein Drittel seiner 600 Mitarbeiter im Sommer für drei bis vier Monate ‚verschwände’, um Erzeugnisse aus dem eigenen Garten zu verkaufen. Daran verdienen sie offenbar mehr als in ihrem Betrieb.‹ Hewett, 1989, S. 32«4
Im Sozialismus gibt es eben keine Arbeitslosigkeit. Jeder gilt als beschäftigt, auch wenn er mit nichts beschäftigt ist. Die »Parkinsonschen Gesetze«1, die im Kapitalismus soziologische Ärgernisse darstellen, werden im Sozialismus sozusagen zur »Staatslehre«. Tatsächlich aber lässt sich auch im Sozialismus Arbeitslosigkeit nachweisen, geht man nach der Grenzproduktivitätstheorie, nach welcher Arbeitslosigkeit vorliegt, wenn die Arbeitsproduktivität eines Arbeiters (gemessen an einem Warenkorb) unter den jeweiligen Entlohnungen liegt (gemessen in Einheiten desselben Warenkorbs). Auch hier sind die Ursachen evident: Hortung von Arbeitskräften, Durchschleppen von bankrotten Firmen, die Schrott produzieren, Versorgungsengpässe bei Rohstoff- und Transportkapazitäten, große Reparaturkolonnen wegen oft fehlender Ersatzteile oder wegen des völlig überalterten Produktionsapparates. Gerade der fehlende Druck zur Modernisierung der Betriebe lässt die kapitalismuskritische Einstellung vieler Umweltschützer oft fragwürdig erscheinen. Der Kapitalismus betreibt zwar den wesentlich schlimmeren Raubbau an der Natur, bei der allgemeinen Umweltverschmutzung aber steht der Sozialismus dem Kapitalismus in nichts nach. Der Kapitalismus, verstanden als durch und durch privatisierte Welt des Eigentums, müsste sogar sauberer wirtschaften, weil die Verseuchung eines privaten Gebietes (auch Gewässer) mit Chemikalien Entschädigungsforderungen des jeweiligen Eigentümers nach sich zöge. Anderseits aber sorgt im Kapitalismus der Schuldendruck für einen wesentlich höheren Output an Müll und Abgasen, sodass sich insgesamt die Umweltverschmutzung eines überbevölkerten Staatssystems in Waage halten dürfte, egal welches ideologische System darin implementiert wurde. Wir sehen also: Im Gegensatz zur kapitalistischen Wirtschaft gibt es in der sozialistischen Produktion keinen Zwang zur Effizienzsteigerung, Verwohlfeilerung, Qualitätssteigerung2 und Kostensenkung, da es im planwirtschaftlichen Modell die Finanzierungs- und Abnahmegarantie gibt.
Wollte man all diese Symptome des Sozialismus bekämpfen, kann die Folge nur sein: Ein noch genauerer und noch rigoroserer Plan, d.h. weitere Bürokratie und damit, wie wir bereits gehört haben, noch höhere Komplexität mit immer geringerem Nutzen und immer größerer Instabilität. Und ließen sich die Probleme damit wirklich lösen? Allein die Frage ist naiv, wenn man einem sozialistisch-bürokratischen Verwaltungsstaat gegenübersteht, doch wollen wir trotzdem versuchen, den Widerspruch zwischen der Plan-Zentrale und dem Betrieb klar herauszuarbeiten. Da Betrieb und Zentrale eigene und vor allem diametral gegenüberstehende Interessen verfolgen und obendrein die Menschen auf allen Ebenen der Hierarchie ihr eigenes Süppchen kochen, mangelt es im Sozialismus an der Informationsweitergabe bzw. der Kommunikation im Allgemeinen, welche im Kapitalismus vom Markt bzw. dem Geldsystem erledigt wird.
»Die zentralen Planungsorgane […] verfügen über keine hinreichend breite und zuverlässige Informationsbasis bezüglich der Bedingungen der Wirtschaftsführung jedes Betriebes und insbesondere der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Auch über das Ausmaß der wirklichen Bedürfnisse der Gesellschaft an Ausrüstungsgegenständen, Roh- und Werkstoffen, Konsumgüter und Lebensmitteln besitzen sie nur eine ungefähre Vorstellung.«1
Doch es kommt noch schlimmer. Resultiert doch aus der Diskrepanz zwischen Zentrale und Betrieb falsche Information. Stahlmann dazu:
»Den Markt zu planen wird damit aber für den Abnahmegaranten zu einer unlösbaren Aufgabe, denn der Logik des Einzelbetriebes muss es entsprechen, sein Informationsmonopol auszunutzen und nicht nur die Qualitätskontrolle, sondern auch die Tonnen- und Kostenplanung unüberblickbar zu machen. […] Die Betriebe haben ihrer Logik gemäß kein Interesse, Informationen an die Zentrale zu geben, denn sie müssten mit höheren Planauflagen und geringeren Materialzuweisungen rechnen. Die Zentrale ist im Übrigen durch ihre Getrenntheit von den Teilproduzenten auch nur abstraktes Gemeininteresse, d.h. auch sie weiß nicht über die realen Bedürfnisse der Gesellschaft Bescheid, sondern erstellt nur Prognosen. […] Der Widerspruch zwischen Planer und Betriebsmanager aber muss eine Form finden, innerhalb derer er sich bewegen kann, und so besteht die Planaufstellung in langwierigen und zähen Verhandlungen, wobei es wie gesagt für den Betrieb darum geht, möglichst viel Zuteilung bei möglichst niedrigem Plan zu erhalten, die Zentrale aber in die entgegengesetzte Richtung steuern möchte.«
werden, wie Glühbirnen oder Kühlschränke, genau umgekehrt. Der Staat muss sparen und fördert die Langlebigkeit einiger weniger Produkte.
Allein die Bedarfsmeldungen von den Einzelbetrieben an die Zentrale sind bei Weitem zu hoch angesetzt, weil die Betriebe sich gegen alle Eventualitäten rüsten und ihre Lager befüllen möchten.1 Neben dem Informationsmonopol hat der Betrieb auch die Möglichkeiten der Bestechung und Beeinflussung, die sich im wirren bürokratischen Dickicht der sozialistischen Planwirtschaft systemimmanent ergeben. Stets werden die einzelnen Betriebe versuchen, ihre Planerfüllung so niedrig wie möglich zu halten, um im nächsten Zeitraum nicht überfordert zu werden. Der ständige Versuch, mehr Ressourcen zu erhalten und die ständige Anhäufung von abstrakter Arbeit2 führt zu einer stetigen Ausdehnung der Betriebe, statt zur Intensivierung der Produktion.3 Bei Projektkosten dagegen setzen die Betriebe die Plankosten bewusst niedrig an. Damit erhöhen sich die Chancen, dass das Projekt bewilligt wird. Erst später werden die wahren Kosten enthüllt.4 Die Existenz eines riesigen Schwarzmarkts im sozialistischen System zeugt weiters davon, dass in dem undurchschaubaren Dickicht sozialistischer Bürokratie weder Materialverbrauch, noch Ausstoß innerhalb der Betriebe kontrolliert werden können. Während der kapitalistische Betrieb das Ziel anstrebt, durch möglichst effiziente Produktion qualitativ hochwertige Produkte zum niedrigsten Preis anzubieten, um die Konkurrenz auszustechen, strebt der sozialistische Betrieb das exakte Gegenteil an. Er will möglichst viele Arbeitskräfte einverleiben, möglichst hohe Preise erzielen, bei möglichst niedriger Qualität. Stahlmann schreibt:
»Gerade im Zwang zur Entfaltung der produktiven Potenzen und der damit verbundenen Eliminierung der wertschöpfenden Arbeit besteht der historische Fortschritt und zugleich die Selbstentleibungstendenz der kapitalistischen Konkurrenz. Der Realsozialismus aber ist in seinem Versuch der positiven Entfaltung des Werts nur zur permanenten Ausweitung von Investition und Arbeitskraftvernutzung fähig, was ab einem bestimmten Punkt – der Erschöpfung der stofflichen Grenzen im gesteckten nationalen Rahmen – nur noch Stagnation bedeuten kann.«
Die absurden Berechnungsgrundlagen zur Verwandlung eines Werts in einen realen Preis werden bei der Betrachtung der perversen negativen Anreize eines sozialistischen Systems vollends der Lächerlichkeit preisgegeben. Ohne Eigentum, Markt und daher Angebot und Nachfrage sind Preisfestlegungen eine Illusion, vor allem wenn der Preis sich u.a. nach dem zur Expansion tendierenden Wert »Arbeit« bzw. Produktionskosten bemisst und dieser Wert selbst in Geldeinheiten gemessen wird. Hier beißt sich die Katze also in den Schwanz. Der Preis im Sozialismus ist ohne jede Aussagekraft1 – nur die Betriebe sehen im Preis eine Zahl, die möglichst hoch sein muss, wird doch die Gewinnspanne als Prozentsatz der Produktion berechnet, was letztlich dazu führt, dass schlechtere Produkte oft mehr kosten als bessere, schlichtweg weil der Betrieb mit den schlechteren Produkten höhere Aufwendungen bei der Zentrale veranschlagt.
Das systemimmanente Aufblähen der Kosten führt im Sozialismus, neben bereits aufgezählten Fakten, zu permanenter Inflation. Die Inflation wiederum wird durch Preisfixierung und Subventionen künstlich nach unten gedrückt, was einerseits zu Mangelproduktion führt und andererseits die Qualität der Produkte weiter verschlechtert, weil aus bekannten Gründen im Sozialismus an der Qualität zuerst gespart wird. Da diese Mangelproduktion im besten Fall durch die billiger produzierende »sozialistische Konkurrenz« ausgeglichen werden muss, d.h. alle Betriebe durch Umverteilung in einen Topf geworfen werden, wird auch dem letzten »moralischen« Betrieb (ohne ökonomische Anreize bleibt nur mehr die Moral) suggeriert, dass sich selbst der kleinste Rest an Leistung im Sozialismus nicht auszahlt.2 Es hat schon etwas Skurriles an sich, wenn gerade Lenin moniert, dass große kapitalistische Monopole an ihrer »inneren Fäulnis« zugrunde gehen und dabei das große sozialistische Staatsmonopol übersieht. Denn er hatte Recht: Es ist die innere
Fäulnis, die den Sozialismus auffrisst. Natürlich soll unsere Analyse nicht bei den Betrieben Halt machen. Die Ineffizienz und Erstarrung zieht sich fraktal hinunter zu den Mitarbeitern des Betriebes und führt zur so bezeichneten »Tragik der Allmende«. Peter Mersch schreibt dazu:
»Bewirtschaftet etwa eine größere Gruppe gemeinsam ein Feld (eine sogenannte Allmende), und vereinbart sie, dass allen Individuen der gleiche Anteil am Gesamtertrag zusteht, so dürfte es dabei auf lange Sicht zur sogenannten Tragik der Allmende kommen, da nun besonders ›faule‹ Ackerbauern den größten Nutzen aus dem von allen erwirtschafteten Ertrag haben: Faulheit generiert zum wirtschaftlichen Vorteil und setzt sich folglich immer stärker durch. Man könnte es auch so sagen: Aus Sicht eines egoistischen Selbsterhaltungsinteresses ist im sozialen System der Allmende die Faulheit die beste Strategie.«1
Genau das passiert im sozialistischen Betrieb – Faulheit setzt sich nicht nur durch, sondern schaukelt sich unter den Mitarbeitern sogar gegenseitig hoch, da ohnehin jeder gleich entgolten wird, unabhängig vom Arbeitsaufwand. Etwaige sozialistische Anreizsysteme, die den Kapitalismus zu kopieren versuchen, sind dabei bloß Tropfen auf dem heißen Stein; sie vermögen das Grundproblem nicht zu lösen. So kommt also zum Drang des Betriebes, Arbeitskraft aufzusaugen, noch die individuelle Faulheit der Mitarbeiter hinzu, die sich mit jeder neuen Arbeitskraft, d.h. mit der Verbreiterung des Personals, weiter verteilt und dem Betrieb die Rechtfertigung für die Einverleibung weiterer Arbeitskräfte liefert, um die Produktion am Laufen zu halten.
Es sollte mittlerweile klar sein, warum ein Unding wie »demokratischer Sozialismus« nicht bzw. nur temporär innerhalb des sozialistischen Zyklus funktionieren kann: Wie um alles in der Welt soll ein derartig aufgeblähter, bürokratischer Apparat auch noch über den Bedarf dezentralisierter sozialistischer Einheiten abstimmen, wenn es bereits ein Krampf ist, die Produktion an sich am Laufen zu halten, Information halbwegs zu transportieren, Kommunikation irgendwie zu gewährleisten, Ressourcen mit Müh und Not zu verteilen usw.? Einer der wichtigsten Vertreter der österreichischen Schule der Nationalökonomie, Friedrich A. Hayek1, schreibt in Der Weg zur Knechtschaft dazu:
»Erst in dem Maße, wie die Faktoren, die zu berücksichtigen sind, so zahlreich werden, dass man die Übersicht verliert, wird die Dezentralisierung notwendig. Aber ist einmal die Dezentralisierung geboten, so taucht das Problem der Koordinierung auf, […] welche es den einzelnen Wirtschaftspartnern erlaubt, ihre Tätigkeit den Gegebenheiten, die nur sie selber kennen können, anzupassen, und welche doch nach allen Seiten zu einer Abstimmung der individuellen Wirtschaftspläne führt. Da die Dezentralisierung notwendig geworden ist, weil niemand verstandesmäßig alle Faktoren abwägen kann, die auf die Entscheidungen so vieler Individuen einwirken, liegt es auf der Hand, dass die Koordinierung nicht durch ›bewusste Überwachung‹ verwirklicht werden kann, sondern nur durch eine Einrichtung, die jedem Glied des Produktionsprozesses die Daten bekannt gibt, die es kennen muss, um seine Entscheidungen auf die anderer abstimmen zu können. Und da niemals alle Einzelumstände, die fortwährend auf die Bedingungen von Angebot und Nachfrage der verschiedenen Waren einwirken, einer einzigen Zentrale bis ins letzte bekannt sein und die Daten von ihr nicht schnell genug gesammelt und verbreitet werden können, braucht man einen Registrierapparat, der automatisch alle bedeutungsvollen Wirkungen der individuellen Handlungen aufzeichnet, deren Angabe zugleich Wirkungen und Ursache aller individuellen Entscheidungen ist. Das ist genau die Aufgabe, die der Preismechanismus unter dem Wettbewerbssystem löst, welche kein anderer Mechanismus auch nur entfernt bewältigen könnte.«
Und zum demokratischen Sozialismus schreibt Hayek erhellend:
»Die Schuld liegt weder bei den einzelnen Volksvertretern noch bei den parlamentarischen Einrichtungen als solchen, sondern in der widerspruchsvollen Aufgabe, die man ihnen aufgebürdet hat. Man verlangt von ihnen, nicht, dass sie in Fällen handeln in denen sie sich einigen können, sondern dass sie eine Übereinstimmung in schlechthin alles erzielen – nämlich über die gesamte Lenkung der volkswirtschaftlichen Produktivkräfte. Für eine solche Aufgabe ist das System des Mehrheitsentscheides jedoch nicht geeignet. […] Man kann auch nicht einen zusammenhängenden Plan durchführen, indem man ihn in einzelne Teile zerlegt und über Sonderprobleme abstimmt. Eine demokratische Versammlung, die einen umfassenden Wirtschaftsplan wie eine gewöhnliche Gesetzesvorlage paragraphenweise mit Zusatzanträgen zur Abstimmung bringt, ist ein Unding. Ein Wirtschaftsplan, der diesen Namen verdient, muss aus einem Guss sein.«
Das ist auch der Grund, warum der Sozialismus rasch undemokratisch wird – schlichtweg weil er nur auf antidemokratischer Basis überhaupt erst zum »Funktionieren« gebracht wird.2 Die Tücken zentraler Planwirtschaft nehmen weniger bornierte Sozialisten durchaus zur Kenntnis und so feilen sie bereits seit dem Scheitern der UdSSR, aber auch schon zuvor, an theoretischen Verbesserungen. Doch all diese Pflaster und Feinschliffe in der Theorie lösen die Grundprobleme der sozialistischen Idee an sich nicht oder sind sogar schlichtweg falsch gedacht, wie etwa die Versuche, eine Art Kapitalismus light innerhalb des sozialistischen Systems zu installieren, um dem Informationsproblem Rechnung zu tragen. Sie funktionieren nicht, weil Ursprung und Wesen von Geld und Markt nicht verstanden werden. Will ich die zentrale Macht dezentralisieren, so leiden damit am anderen Ende wieder der Informationsfluss und die Kommunikation, ebenso wie der Bedarf an Bürokratie wächst und das System durch Anwachsen der Komplexität und Hierarchiestufen zu noch mehr Instabilität neigt.
Die Utopien von linken Träumern sind immer lieblich anzuhören und zu einem Großteil sind diese Menschen tatsächlich am Wohl der Menschheit interessiert, doch am Ende scheitert der Sozialismus in der Realität immer. Je früher, desto besser, denn am Ende können nur die grausamsten Machthaber den Zyklus mit direkter Gewalt verlängern. Und so beenden wir dieses Zwischenkapitel mit einem Zitat, das man John Kenneth Galbraith zuschreibt:
»Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus. Im Kommunismus ist es genau umgekehrt.«