Читать книгу Brahmsrösi - Stefan Haenni - Страница 10
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ОглавлениеNach dem vielversprechenden Anruf erinnere ich mich an das bevorstehende Treffen mit meinem Assistenten.
10.30 Uhr, in der Cafébar Alte Oele. Ich bin früh dran und blättere in einer alten Illustrierten. Dabei stoße ich auf einen mehrseitigen Fotobericht über den Sprayer von Zürich, unter der Rubrik ›Was macht eigentlich Xy‹? Schon komisch, wenn einem dort ein Mann mit graumelierten Schläfen als ehemaliger Bürgerschreck vorgeführt wird. Das Porträt steht unter einer Bildstrecke seiner typischen Werke, den Strichmännchen mit den dreieckigen Köpfen und dem zyklopenhaften Auge.
In dem Moment öffnet sich die Glastür. Jüre tritt ein.
»Das glaubst du nicht«, begrüße ich ihn. Er schaut mich verständnislos an.
»Was?«
»Eh, das da, was ich soeben gelesen habe.«
Er reicht mir die Hand, rückt einen Bugholzlehner vom Tisch und setzt sich gutgelaunt. »Ciao, Hanspudi. Schieß los!«
Bevor ich ihm den Artikel kurz zusammenfasse, bestelle ich zwei Stangen helles Bier. Hiernach lege ich die Illustrierte vor ihn auf den Tisch. »So werden aus jungen Sprayern alte Spießer. Da schau, der Dosenkünstler von Zürich zum Beispiel. Er verunziert nur noch Bettwäsche und Tischsets. Alles total kommerzialisiert. Keine Spur mehr von Auflehnung gegen das Grau des urbanen Einerleis.«
»Tja. Bei gewissen Leuten gilt er jetzt als etablierter Künstler«, kommentiert Jüre.
»Stimmt«, pflichte ich ihm bei. »Zum Glück bestrafen sich diese Menschen gleich selbst. Sie verlieren ihre sauer verdienten Moneten mit der spekulativen Investition in wertlose Wandaktien.« Darauf erheben wir unsere Gläser.
»Vielleicht solltest du den Sprayer-Artikel dem Rathauswirt unter die Nase halten. Es käme ihn jedenfalls billiger, die Graffiti als Populärkunst zu akzeptieren, als sie überpinseln zu lassen.« Jüre setzt sein Bier auf die bedruckte Pappscheibe und federt derart schwungvoll in die Lehne zurück, dass der Bistrostuhl zu kippen droht. »Ups!«
»Kipp erst das Helle, bevor du dich in den dunklen Abgrund stürzest.«
Rechtzeitig hat er sich wie der Zappel-Phillip an der Tischkante gerettet. »Hanspudi, sei froh, dass der Beizer die Vandalen verfolgen lässt. Du ersäufst nicht gerade in einer Flut von Anfragen. Wie weit bist du eigentlich? Hegst du bereits einen Verdacht, wer es allzu bunt getrieben hat?«
»Eben nicht«, antworte ich. »Die Typen vom Weißen Block vielleicht?«
Jüre schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Du mit deinem Weißen Block. Der lässt sich halt nicht wie schwarze Schwäne aus der Gegend verbannen.«
»Das ist das Problem.«
»Okay«, beschwichtigt mein Assistent. »Lass uns die Angelegenheit gemeinsam erledigen. Zielorientiert und zuversichtlich, wie immer.«
»Einverstanden. Dein Optimismus in meinen Ohren. Mein Gehalt in deiner Tasche.«
Der Angesprochene bestätigt: »Genau so.« Dann zückt er ein Schreibblöckli und wendet sich an die Kellnerin: »Fräulein, können Sie mir Ihren Kugelschreiber leihen?«
Ich gucke ihn verdutzt an: »Fräulein? Du rufst sie Fräulein? Ich hätte dich für zeitgemäßer gehalten. Was würde deine vergötterte Marie-Josette wohl dazu sagen?«
Mein Assistent hebt Augenbrauen und Schultern synchron und lächelt lieb. Nach einer dosierten Kunstpause meint er: »Ach, weißt du, Hanspudi, meine Frau tröstet sich mit dem Gedanken, dass ich jeweils die Rechnung begleiche.«
Inzwischen hat die Bedienung das Gewünschte auf den Tisch gelegt und sich wortlos entfernt. Unsere Debatte scheint sie nicht zu kratzen. Sind im Berner Oberland die Böen der feministischen Sturmwinde erlahmt?
»Jüre, bist du eigentlich schon dazu gekommen, über Johannes Brahms zu recherchieren?«, will ich nun wissen.
»Ja. Habe damit begonnen. Der absolute Brahmskracher scheint das Liedchen ›Guten Abend, gut Nacht‹ zu sein.«
»Ist das nicht ein deutsches Volkslied?«
»Nein. Ursprünglich handelt es sich um eine Komposition vom Meister.«
Ich zweifle: »Bist du dir sicher, dass das Volkslied nicht zuerst da war?«
»Du meinst, der Schlaumeier hat es nur gecovert?«
»Könnte man so sagen, oder?«
»Auch möglich«, sagt mein Assistent.
»Müsste er nicht sowieso eher Seemannslieder geschrieben haben?«, frage ich. »Er wurde doch in Hamburg geboren.
»Stimmt«, bestätigt Jüre. »1833. Nur hat Brahms in der Wiege nichts komponiert.«
»In der Wiege nicht. Für die Wiege schon. ›Guten Abend, gut Nacht‹ gilt als Wiegenlied, oder?«
»Ja, ja«, nickt er und lässt mit der verdoppelten Zustimmung durchklingen, dass ihn das Thema zu langweilen beginnt. Hintennach fügt er an: »Was Brahms als Jüngling zusammengeschrieben hat, veröffentlichte er ohnehin unter einem Pseudonym.«
»Was für ein Pseudonym?«, horche ich ihn aus.
»G. W. Marcks, zum Beispiel.«
»Marx?«, wiederhole ich verwundert.
»Ja, oder Karl Würth.«
»Würg! Wozu denn das?«
»Na hör mal. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die unter fantasievollen Künstlernamen publizieren.«
»An wen denkst du?«, frage ich.
»Pascal Mercier zum Beispiel, Paul Lascaux oder Etienne Lecoq.«
»Komponisten?«
»Nein. Schriftsteller.«
»Wozu tun sie das? Warum wählen sie Fantasienamen?«
Mein Assistent zögert. Dass er in die Rolle des Verteidigers der Künstlergilde zu geraten droht, scheint ihn zu irritieren. »Was fragst du mich? Sie wagen ihr Debüt, haben Erfolg und bleiben danach beim Künstlernamen. Brahms jedenfalls soll von seinen frühen Kompositionen nur jene aufgehoben haben, die unter Pseudonym veröffentlicht wurden.«
»Was ihn nur dazu bewogen hat?«, rätsle ich.
»Überzogene Selbstkritik«, meint Jüre. »Erstaunlicherweise ist die aber erst erwacht, nachdem ihn Robert Schumann mit Lob überhäuft hatte.«
»Nachdem?«
»Richtig. Auch Komplimente müssen schließlich verdaut werden«, weiß er. »Sieht so aus, als hätte Schumanns Lob Brahms’ Courage im Keim erstickt. Anfänglich hatte der Junge ausschließlich Klavierwerke geschrieben. Als ihn der verehrte Meister zu großen Orchesterwerken ermunterte, fühlte er sich vielleicht überfordert.«
»Sympathisch, wenn berühmte Menschen dazu stehen, ihre Kunst erlernt zu haben«, sage ich.
»Stimmt. Allzu oft geistern Ideen pränataler Hochbegabung und frühmusikalischer Förderung durch die Kinderzimmer ehrgeiziger Eltern«, behauptet ausgerechnet Papa Lüthi.
»Was lag dem bekannten Schumann eigentlich am unbekannten Brahms?«, grüble ich. »Wann haben die sich kennen gelernt?«
»Der 20-jährige Brahms hat das Ehepaar Schumann in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts getroffen. Diese Bekanntschaft war für seine weitere Entwicklung von großer Bedeutung.«
»Seine musikalische oder seine menschliche?« Ich will es genau wissen.
Jüre präzisiert: »Für beide. Der Briefwechsel zwischen Johannes und Clara ist weitgehend erhalten geblieben. Er belegt die Entwicklung von einer anfänglichen Wertschätzung zu einer innigen Zuneigung. Drei Jahre nach dieser Bekanntschaft schwärmt Brahms: ›Deine Briefe sind wie Küsse‹.«
»Gerade so?«, frage ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Clara war 14 Jahre älter als Johannes und bereits Mutter von sechs Kindern. Zudem hatte sie als Pianistin in Europa beachtlichen Ruhm erlangt. Beides muss das Bürschchen fasziniert haben.«
Ich nicke: »Auch aus heutiger Sicht scheint Clara eine moderne Frau gewesen zu sein. Sie brachte Mutterrolle und Karriere unter einen Hut.«
»Ja, ihre eigene und die ihres Mannes noch dazu«, sagt Jüre. »Diesem hingegen scheint sein Erfolg nicht allzu gut bekommen zu sein. Schumann landete bekanntlich in einer Nervenheilanstalt.«
»Welche Karriere machte ihm wohl mehr zu schaffen? Die eigene oder die seiner Frau?«
»Schon die eigene«, vermutet mein Assistent.
»Wie reagierte der Hausfreund?«
»Oh, Johannes ließ nichts anbrennen. In Roberts Abwesenheit intensivierte er den Kontakt zu Clara.«
»Wie hinterhältig.«
»Da hegte er offenbar keine Skrupel«, meint Jüre. »Im Gegenteil. Zeitweilig lebte er mit Clara und ihren Töchtern unter einem Dach.«
»Unter einem Dach oder unter einer Decke?«
Mein Assistent schmunzelt vielsagend, denn nach seinem Googeln bleibt für gewöhnlich keine Dateileiche im virtuellen Keller des Webs verscharrt.
»Ob Papa Schumann davon wusste?«, mutmaße ich.
»Wovon?«
»Von Brahms’ Einzug ins gelobte Haus.«
Jüre hebt die Schultern. »Keine Ahnung. Die wahre Intention dürfte ohnehin woanders gelegen haben. Vermutlich hatte es Brahms nicht ernsthaft auf Frau Mama abgesehen.«
»Sondern?«
»Auf eine ihrer hübschen Töchter. Johannes buhlte um die Gunst der 24-jährigen Julie, der drittältesten Tochter.«
Ich schaue meinen Assistenten an, als erwartete ich gleich ein Dementi. Vergeblich.
»Ach, halb so schlimm. Er soll mit seinen wahren Gefühlen derart zurückgehalten haben, dass man, oder vielmehr frau, im Hause Schumann nichtsahnend Julies Verlobung mit dem italienischen Grafen Victor Radicati di Marmorito vorbereitete. Johannes’ Liebe blieb rein platonisch, eventuell unerkannt und vermutlich einseitig.«
Daran wage ich zu zweifeln. »So blind ist keine heiratsfähige Tochter. Und eine behütende Mutter erst recht nicht. Ich vermute, dass Clara die Verlobung mit dem Grafen als Reaktion auf Brahms’ Avancen vorangetrieben hatte. Sie wollte ganz einfach den Musikus nicht zum Schwiegersohn.«
»Die Frage lautete in dem Fall, warum?«, grübelt Jüre. »Wollte sie ihn vielleicht selbst zum Freund?«
»Was, Freund? Zum Liebhaber!«, dopple ich nach.
»Schon möglich«, räumt er ein. »Immerhin hatte er Clara seine Zuneigung schriftlich offenbart. Spät erst erfuhr Johannes von Julies Verlobung.«
»Und, wie reagierte er?«, frage ich.
»Er soll ein ziemlich langes Gesicht gemacht haben, der Schwerenöter.«
»Klar. Schließlich wurde er mehr oder weniger verarscht.«
Was unternahm er?«
»Der Arsch? Er zeigte Größe.«
»Umso schlimmer«, kommentiere ich, unsicher darüber, ob das von Jüre als Verstärkung oder Milderung der Ausdrucksweise gemeint war.
»Vergiss den Allerwertesten. Brahms erschien bei Clara, um ihr eine Rhapsodie zu überreichen.«
»Eine Rhapsodie? Was ist daran groß?«
»Er nannte die Rhapsodie ›Mein Brautgesang‹.«
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. »Warum überreichte der liebestolle Notenschreiber den Brautgesang der Mutter statt der Braut? Was respektive wen wollte er eigentlich erobern?«
»Er begehrte die Tochter und beschenkte die Mutter«, präzisiert Jüre.
»Wie hat es Frau Mama aufgenommen?«
»Gerührt, so viel ich weiß. Clara notierte jedenfalls in ihr Tagebuch, dass sie der ›Brautgesang‹ durch den ›tiefsinnigen Schmerz in Wort und Musik‹ erschüttert habe.«
»Komische Verhältnisse«, meine ich und provoziere damit Widerspruch.
Jüre reckt den Kopf nach vorn wie ein geprellter Erpel. »Komische? Tolerante! Bis heute ist nämlich ungeklärt, wer in der Familie Schumann am meisten in den hübschen Jungen verknallt war, Julie, Clara oder Robert.«
»Robert? Willst du sagen …?«, deute ich an.
»Nicht ich. Ein deutscher Musikprofessor verbreitet es: Papa Schumann soll jungen Männern durchaus zugetan gewesen sein. Das erstaunliche Engagement für den unbekannten Komponistenschnösel gewinnt damit eine neue Erklärung. Überlege mal, Hanspudi: Schumann hat die ganze Kraft seines internationalen Einflusses in den Dienst des undankbaren Schützlings gestellt. Und zwar bevor Brahms eine einzige Note veröffentlicht hat! Ich habe gelesen, dass Robert den Johannes im berühmten Essay ›Neue Bahnen‹ enthusiastisch feierte und voller Bewunderung schrieb: ›Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener‹! Reine Bewunderung für sein Äußeres also«, stellt Jüre fest.
»Ob sie tatsächlich so rein war, die Bewunderung? Sie belegt jedenfalls, dass es gutaussehende Menschen im Leben leichter haben. Aber das muss ich einem Adonis ja nicht erklären.«
»Nein, das brauchst du wirklich nicht. Warum wohl suche ich seit Jahren erfolglos eine Anstellung als Schriftsetzer?«, antwortet er. »Und Brahms? Hat ihm sein Aussehen Ansehen gebracht? Fakt ist, dass er erst 15 Jahre nach dem überproportionierten Schumannlob den Durchbruch schaffte. Mit dem ›Deutschen Requiem‹.«
»Immerhin«, sage ich. »Damit hat er sich doch noch sein Plätzchen auf dem Olymp der unsterblichen Musikgenies gesichert.«
Jüre widerspricht schon wieder: »Unsterblich? Erstens starb Brahms im Alter von 63 Jahren in Wien. Dort liegt er seither in einem feuchten Ehrengrab. Zweitens hat ihm ein berühmter Zeitgenosse eine Schaufel Dreck nachgeschmissen: ›Was liegt noch an Johannes Brahms? Sein Glück war ein deutsches Missverständnis: Man nahm ihn als Antagonisten Wagners – man brauchte einen Antagonisten!‹«
»Wer soll das gesagt haben?«, frage ich.
»Also sprach Friedrich Nietzsche«, antwortet Jüre pathetisch. Er tönt nach Übermensch. Ist das gut für einen Assistenten?«