Читать книгу Brahmsrösi - Stefan Haenni - Страница 13
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ОглавлениеNach dem Telefongespräch mit meinem Assistenten versorge ich das Handy in der Hosentasche.
Ich setzte mich wie gewohnt auf eine sonnige Parkbank am Brahmsquai, unweit meiner Mietwohnung, in der es um diese Zeit noch schattig ist. Die Kopien des Manuskripts habe ich dabei. Ich unternehme einen ersten Versuch, die Handschrift Brahms zu charakterisieren. Schließlich will ich in Krakau gut vorbereitet sein und mich vor dem Bibliotheksleiter keinesfalls blamieren.
Nach einer Weile weckt ein Fußgänger meine Neugierde, der über den kurzgeschnittenen Rasen auf die Statue zusteuert. In der Hand trägt er eine kleine, silberfarbene Digitalkamera. Damit beginnt er, die Brahmsrösi von allen Seiten abzulichten. Es hat den Anschein, als erwarte er jeden Augenblick den Abmarsch der kühlen Nackten. Falls sein Interesse an der Anzahl der Aufnahmen zu messen ist, gilt er abgesehen vom reinlichen Brahmspräsi als ihr obsessivster Fan. Hoffentlich bereitet da nicht ein Vandale gerade seinen nächsten Anschlag vor. Besorgt fummle ich an der linken Augenbraue und gebe keine Ruh, bevor ich nicht ein Härchen zu fassen kriege. Das wird so lange um die eigene Achse gezwirnt, bis es sich aus seiner Verwurzelung löst. Dieses autodestruktive Ritual steigert bekanntlich meine aktuelle Hirnleistung.
Inzwischen hat der Bildjäger anscheinend genug geknipst. Er macht ein paar Schritte und schaut ängstlich um sich. Darauf widmet er sich einer Gedenktafel über einem kleinen Brunnen. Erst kürzlich habe ich sie mir genauer angesehen, nachdem ich jahrelang achtlos daran vorbeigegangen bin.
›Hier in einem 1933 abgebrochenen Hause
lebte und komponierte in den Sommern 1886–1888
JOHANNES BRAHMS
Du hast dies Land
sangfroh seit alter Zeit
mit deinem Lied zu neuem Ruhm geweiht.
J. V. Widmann‹
Wie würde man heute sowas formulieren? Wer würde die passenden Worte finden? Wer war J. V. Widmann?
*
In dem Moment, als ich mich auf meiner Parkbank wieder den Fotokopien zuwende, schießt mir ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Augenblicklich stellt sich in meiner Hirnschale eine Leere ein. Darin widerhallt ein Name wie das Echo in den Tropfsteinhöhlen des heiligen Beatus: Perkins! Perkins! Der Typ von vorhin zeigt eine frappante Ähnlichkeit.
Mein Mobiltelefon vibriert.
Jürg Lüthi verkündet frohgemut: »Hanspudi, euer Flug startet morgen Nachmittag um 13.55 Uhr ab Zürich. Ich werde dich und Stefan mit dem Auto hinbringen, wenn’s dir recht ist.«
Das ist es mir. Hingegen weiß ich nicht, was ich von dem Herumschleichen des eifrigen Fotografen halten soll. Diskret lasse ich die Notenblätter in der Mappe verschwinden. Argwöhnisch beobachte ich Perkins’ Aktivitäten. Er gibt vor, das Metallschild bei einer frisch gepflanzten Weide zu entziffern. Der Brahmsbaum ist zum 100. Todestag des Komponisten dank Spendengeldern gepflanzt worden. Zusätzlich zum Brahmsquai, zum Brahmsweg, zum Brahmsbrunnen und zur Brahmsrösi. Nur das Brahmshaus ist weg.
Als der Fotograf an mir vorbeischleicht, treffen sich unsere Blicke. Seine tiefdunklen Augen mustern mich feindselig. Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass er mich kennt.
Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, die Originale nach Krakau mitzunehmen. Auf der Maur hat nachträglich interveniert. Lediglich die Kopien sollen auf Reisen gehen. In dem Fall benötige ich das Manuskript nicht mehr. Nach der Begegnung mit Perkins frage ich mich zudem, ob die Papiere in meiner Wohnung sicher sind. Wäre es nicht klüger, sie zurückzugeben? Kurzfristig ist der Brahmspräsi nicht mehr erreichbar. Er steckt nun mitten in den Examen.
Am gescheitesten gebe ich die Originale darum einer unbeteiligten Person in Obhut. Sofort kommt mir ein befreundeter Musiker in den Sinn, Bernhard Bachmann, der Paganini der Schweizer Alpen. Er wohnt in der Gemeinde Oberhofen, ein paar Kilometer seeaufwärts. Er gilt mir als absolut vertrauenswürdig und zuverlässig. Vermutlich freut er sich sogar über das exklusive Depositum. Ich zögere nicht. Entschlossen springe ich von der Sitzbank und eile nach Hause.
Umgehend rufe ich Bachmann an. Ich trage ihm mein Anliegen vor. Er erklärt sich bereit, während meiner Abwesenheit den Brahms zu hüten. Weitere Fragen stellt er keine. Wie selbstverständlich empfängt er mich kurz darauf in seinem Eigenheim. Ich überreiche ihm den Schuber. Vorsichtig lässt er die Ledermappe herausgleiten. Erwartungsvoll klappt er sie auf und mustert das Deckblatt. »Unglaublich. Das Original!«
»Das muss sich erst weisen«, relativiere ich. »Morgen früh fliege ich nach Polen. Wenn es dort gut läuft, wissen wir am Abend mehr.«