Читать книгу Brahmsrösi - Stefan Haenni - Страница 8
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ОглавлениеNur das eine brauche ich jetzt.
Die Muße, auf einer der besonnten Holzbänke an der gemächlich dahinfließenden Aare mein Leibblatt zu lesen. Dabei interessieren mich folgende Fragen: Werden neue Vandalenakte vermeldet? Gibt es frische Graffiti? Sind wieder Denkmäler beschädigt worden? Hat die Bronzeplastik des Fulehung auch noch ihr zweites Horn eingebüßt?
Aufmerksam prüfe ich den Regionalteil des Thuner Tagblatts. Prompt werde ich dabei gestört. Kaum habe ich mich nämlich gesetzt und die Zeitung aufgeschlagen, rattert ein orangefarbener Kleintransporter heran. Wenige Meter von mir entfernt stoppt der kleine Stinker. Es entsteigen ihm zwei blaugewandte Stadtgärtner mit leuchtorangen Beinstulpen. Der eine wirkt behäbig. Er scheint den Vorarbeiter zu mimen, auch vom Alter her. Beim andern dürfte es sich um seinen Lehrling handeln. Noch keine 20, der Stift. Unter langen blonden Stirnfransen lugen sanfte Augen mit einem Blick für zarte Pflänzchen und herbe Unkräuter hervor.
Der Alte greift mit Zeitlupengeschwindigkeit in die rechte Hosentasche, der er ein zerdrücktes Päckli entnimmt. Routiniert klopft er eine Zigi heraus. Es fällt kein Wort. Inzwischen schlendert der Stift unaufgefordert zur Ladefläche, von der er eine Harke und einen Rechen hievt. Wenn er etwas von seinem Chef gelernt hat, so ist es, abgesehen von der eklatanten Gesprächigkeit, zweifellos das atemberaubende Arbeitstempo. Immerhin stellt er mit dem Werkzeug eine grundsätzliche Handlungsbereitschaft in Aussicht. Ich frage mich unweigerlich: Warum gelingt es der minimalistischen Darbietung der beiden Gärtner, mich vom Lesen abzuhalten?
Vielleicht lockt die Lektüre nicht wirklich. Der regionale Blätterwald ist ziemlich ausgedünnt. Er bietet wenig Alternativen. Im Tägu und in der Berner Zeitung finden sich weitgehend dieselben Bünde mit identischen Inhalten. Hans was Heiri, was man liest, falls man mehr als 20 Minuten für eine Gratiszeitung opfert. Ich schlage mit dem Handrücken auf das entfaltete Papier, als gälte es nun ernsthaft, mich den Tagesaktualitäten zuzuwenden.
Da klickt das Feuerzeug des Vorarbeiters. Das kurze, helle Geräusch genügt, mich erneut abzulenken. Warum zum Henker kann ich mich heute nicht konzentrieren?
Der Alte hat einen Glimmstängel entzündet. Paffend lehnt er sich gegen die offene Führerkabine. Das eine Bein belastet er als klassisches Standbein. Das übergrätschte Spielbein stützt er lässig mit der Fußspitze ab. Der Vorarbeiter räuspert sich, ohne danach irgendwelche Anweisungen zu husten. Schließlich lässt er einen kompakten Grünen zu Boden fladern. Mit zusammengekniffenen Echsenäuglein mustert der Stadtgärtner seine Umgebung, so als hoffte er eine grüne Oase ausfindig zu machen. Die befindet sich in Form einer üppig bepflanzten Rabatte auf der Fluchtlinie zwischen ihm und mir. Sie verhindert Blickkontakte durch die Blume. Verwundert blinzelt mich der Gärtner an, als wüsste er, mit wem er es zu tun hat. Nämlich dem stadtbekannten Privatdetektiv, der bereits eine Mörderin überführt hat. Seither kann ich allerdings weder mit nennenswerten Heldentaten prahlen, noch sind lohnende Aufträge eingegangen. Abgesehen von der Jagd nach den Schmierfinken. Der Rathauswirt hat mich beauftragt herauszufinden, wer ihm seine Liegenschaft garniert hat.
Bisher ist mir leider kein gescheiter Lösungsansatz eingefallen. Wie soll ich den Nachtbuben auf die Schliche kommen? Ich kenne mich in der Szene überhaupt nicht aus und bin zu alt, um mich unauffällig unter die Kiffer auf der Mühleplatztreppe zu mischen.
Ich müsste meine Ermittlungen auf die Typen vom Weißen Block fokussieren. Würde mich nicht wundern, wenn die Sprayer unter ihnen zu finden wären. Leider begnügt sich mein Auftraggeber nicht mit Vermutungen. Er wünscht, dass ich die nachtaktiven Wand- und Landstreicher inflagranti ertappe. Wie stelle ich das an?
An seiner Hauswand ist das Werk vollbracht. Kein Quadratmeter steht für neue Attacken frei. Dort werde ich die Künstler kaum mehr überraschen. Ich müsste erraten, welche jungfräuliche Fassade als nächstes vollgesabbert werden soll. Das Strättligarchiv? Die Bahnhofunterführung? Das Gerichtsgebäude auf dem Schlossberg?
Fast unmöglich, entsprechende Prognosen zu stellen. Am einfachsten wäre es, die Wand weiß zu übertünchen, um die Schmierfinken erneut zum Sprayen zu animieren. Sodann müsste ich nur noch das Objekt observieren. Allerdings rund um die Uhr.
Der Wirt kann sich für diese Lösung nicht erwärmen. »Identifiziere die Täter und ich renoviere die Fassade. Vorher nicht«, hat er verkündet. Das macht mich ziemlich rat- und mutlos. Huere Schmiererei! Scheiß Auftrag!
Die Gärtner ergreifen das Werkzeug und zwei grüne Plastikkörbe. Sie schlurfen in Richtung Blumenbeet. Ich erwäge zu flüchten, bin aber unentschlossen und bleibe schließlich doch sitzen. Meine Blicke folgen dem blonden Jüngling, der inzwischen den grünen Arbeitskittel ablegt hat und jetzt ein weißes T-Shirt mit dem karminroten Aufdruck ›Ich bin auch ein Rasenmäher‹ präsentiert.
Der Rasenmäher und sein Boss nähern sich als wankende Silhouetten im Gegenlicht der Morgensonne. Sie wirken wie zwei Außerirdische, die ihr Tagwerk zum Wohl der Menschheit anpacken. Sie werden aber von einer jungen Frau gestoppt. Dafür hat sie, wie ich von meinem Bänklein aus leicht erkenne, zwei plausible Gründe: Erstens steht die Gute mitten im Blumenbeet und zweitens ist sie splitterfasernackt!
Samtblättrige Stiefmütterchen in tiefdunklem Violett und leuchtendem Gelb blühen zu Füßen der jugendlichen Schönheit. Bei der Unbekleideten handelt es sich um eine Bronzestatue. Diese wurde zu Ehren und zur Erinnerung an Johannes Brahms an der Seepromenade in Thun aufgestellt, auf der Wiese zwischen Entenegg und Bächimattpark. Heute bezeichnet man die Örtlichkeiten als Brahmsquai und die Plastik als Brahmsrösi. Warum ausgerechnet ein weiblicher Akt an den deutschen Komponisten erinnern soll, bleibt vorerst ein Geheimnis.
Brahmsrösi hält ihren rechten Arm in der Horizontalen. Die abgewinkelte, offene Handfläche präsentiert sie wie eine Politesse auf der Verkehrsinsel. Angeblich begrüße die Holde den neuen Tag.
»Hallo, Frischling. Ob’s heute was wird mit uns beiden?«
Ganz keck, diese Rösi! Wenngleich: Könnte ihre Haltung nicht auch auf verinnerlichtes Lauschen hindeuten? Vermittelt ihr Gesichtsausdruck aufmerksames Zuhören? Jedenfalls wird die stille Besinnlichkeit auf absurde Weise durch den Verkehrslärm der Hofstettenstraße beeinträchtigt. Davon kann ich ein Liedlein singen. Meine Wohnung liegt nur einen Steinwurf von hier entfernt.
Den linken Arm hebt die Nackte wie ein Modell in einem Werbespott für rasierte Achselhöhlen. Die Hand liegt lässig am Hinterkopf. Zwei apfelförmige Brüste wölben sich mir wie reifes Mostobst entgegen.
Mit halb geschlossenen Augen und zurückgeneigtem Kopf lächelt Rösi dem Tag entgegen, als käme es ihr nicht wirklich darauf an, was er bringt. Voller Zuversicht, dass sich das Heute als verheißungsvoller Morgen von gestern entpuppt. Sogar der Taubendreck, der über das verzauberte Antlitz rinnt und die ganze Figur von oben bis unten mit weißen Striemen verunstaltet, scheint die Gelassenheit der Schönheit nicht im Geringsten zu beeinträchtigen.
In Sichtweite und Blickrichtung der Figur steht ein Gotteshaus, das Scherzligkirchlein. Ein Haus zum Scherzen? Ein Kirchlein der Heiterkeit? Liegt Rösis Geste eine sakrale Bedeutung zugrunde? Mir ist ihr Handzeichen schon anderswo aufgefallen. Beim Pontifex maximus. So grüßt der germanische Kondomleugner! Immerhin soll er den Muslimen den Gebrauch der Lümmeltüte ans Herz gelegt haben.
Jetzt verlässt ein älterer Mann im dunkelblauen, zweiteiligen Anzug den geteerten Spazierweg und überquert den Rasen. Mit gemessenen Schritten nähert er sich den beiden Stadtgärtnern. Er spricht sie an. Die scheinen sich zu wundern. Leider kann ich nicht hören, was geredet wird. Danach greift der distinguierte Herr in die Innentasche seines Anzugs, holt eine dicke Brieftasche hervor und reicht dem Rasenmäher eine Zwanzigernote. Wird hier gedealt? Gleichen im Rentnerparadies am Thunersee die Junkies den pensionierten Bankern?
Einer abgegriffenen Ledermappe entnimmt der Alte einen weichen Lappen und eine transparente Plastikflasche mit irgendeinem Putzmittel. Beides übergibt er dem Jungen, der umgehend beginnt, damit die Bronzefigur vom Vogeldreck zu befreien.
Ich wundere mich etwas über diese private Initiative. Was liegt dem sonderbaren Mann an der Brahmsrösi? Andrerseits kann die Öffentlichkeit dankbar sein, dass am Aarelauf ein selbstloser Bürger mit ausgeprägtem Ordnungssinn ein paar Fränkli flüssig macht.