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ОглавлениеPünktlich um 14.30 Uhr stehe ich vor einer moosgrünen Villa aus der Jahrhundertwende und staune nicht schlecht.
Beim freundlichen Herrn, der mir die schwere Eichentür öffnet, handelt es sich um ein bekanntes Gesicht. Und das, obschon ich Herrn Auf der Maur bisher nicht persönlich kennengelernt habe. Ich muss nicht lange überlegen, woher mir seine markanten Züge vertraut sind. Der Mann, der kürzlich am Brahmsquai den Gärtner zum Reinigen der Bronzeplastik bewogen hat, ist mit meinem Gastgeber identisch. Er trägt einen weißen Ziegenbart und schütteres Kopfhaar. Ein staatsmännischer Riecher verleiht dem älteren Herrn Würde. Durch dicke Brillengläser trifft mich ein schwermütiger Blick. Seine Augendeckel sind auf Halbmast hängen geblieben. Insgesamt erinnert er mich an einen amtsmüden Parlamentarier.
Der Präsident der Brahmsgesellschaft bittet mich ins getäferte Entree. An den Wänden hängen goldgerahmte Veduten und Stiche mit Thunermotiven, dem alten oder neuen Schloss Schadau, dem mittelalterlichen Burgtrakt des Thuner Schlosses mit den vier schlanken Ecktürmen und dem Hünegg, dem verspielten Jugendstilschlösschen.
Im gedämpften Licht einer Hängelampe aus opakem Glas eilt Auf der Maur in einen großzügigen Salon voraus. Hier riecht es angenehm nach Leder, Holzpolitur und Teppichwolle. Hohe Fenster eröffnen den Blick in einen parkähnlichen Garten.
»Nehmen Sie Platz, Herr Feller«, bittet er. Dazu macht er eine einladende Geste mit der rechten Hand. Auf einem chinesischen Tischchen mit kurzen O-Beinen dampft Tee aus rot-weißem Porzellan. Nur die braune Porzellankuh mit Rahm im gewölbten Leib steht deplatziert inmitten des aparten Services.
Ich sinke in den weichen Clubsessel und schaue ungeniert um mich. Ein schwarz lackierter Bösendorfer weckt meine Aufmerksamkeit. Auf dem imposanten Tasteninstrument liegen Notenblätter bereit. Die Tastatur aus vergilbtem Elfenbein lädt zum Musizieren ein.
Der Gastgeber erhebt sich. Er setzt sich an den Flügel und beginnt zu spielen. »Was sagt Ihnen das?«
Jetzt wird der Tee kalt, befürchte ich. Nach ein paar Takten hält der Pianist aber inne und wendet sich zu mir um. Peinlicherweise genau in dem Augenblick, in dem ich unmissverständlich die Petits Fours mit den Augen verschlinge.
»Und?«
»Na ja, im Anschluss an Ihre telefonische Erkundigung nach meiner Brahmsliebe nehme ich an, dass Sie mir soeben etwas Entsprechendes intoniert haben«, mutmaße ich.
»Stimmt. Aber nicht irgendetwas. So klingen die ersten Takte der Sonate Nummer zwei für Klavier und Violine«, verkündet Auf der Maur. Erwartungsvoll mustert er mich.
Vermutlich werde ich seiner Erwartung wieder nicht gerecht. Was will er andeuten? Was soll ich verstehen? Worauf soll ich selbst kommen? Wie habe ich als Schüler solche Ratespiele gehasst!
»Opus 100, Herr Feller, die Thuner-Sonate!«
Davon habe ich tatsächlich schon gehört. Bloß ist mir die Komposition bisher nicht oft genug erklungen, um sie spontan zu erkennen.
»Jä so. Jetzt, wo Sie’s sagen«, brummle ich.
»Johannes Brahms wurde dazu durch die deutsche Altistin Hermine Spies inspiriert«, erklärt Auf der Maur weiter. »Sie hielt sich zu der Zeit am Thunersee auf. Ich glaube, in Interlaken. Europaweit galt sie als hervorragende Interpretin seiner Lieder. Ob er allerdings mehr in sie oder in ihren Gesang vernarrt war, lässt sich nachträglich nicht entscheiden.«
Noch bevor mir ein passender Kommentar einfällt, winkt mich der Brahmspräsi zu sich. »Schauen Sie sich die Partitur an, Herr Feller. Sie können doch Noten lesen?«
»Ich habe zehn Jahre Klavierunterricht genossen. ›Für Elise‹, den ›fröhlichen Landmann‹ und die ›Czerny-Etüden‹ hat es gereicht.«
Auf der Maur lacht.
Ich weiß seine Heiterkeit nicht recht zu interpretieren. Ist mein Repertoire nach seiner Auffassung zu banal oder zu basal?
Mit leichter Wehmut erinnere ich mich an meine österreichische Klavierlehrerin. Sie eröffnete mir als Zehnjährigem Einsichten und Einblicke, die mich die Vorzüge einer echten Weanerin haben kennen und schätzen lernen. Zum Beispiel die tiefen Einblicke in das Dekolleté ihres rosafarbenen Dirndls.
Als schmaler Jüngling saß ich auf einem hochgeschraubten Klavierstuhl. Blind haute ich in die Tasten, bis die unvergessliche Gerdl Krautsch um ihr Musikgehör fürchtete. Sie sprang auf und stellte sich direkt hinter mich. Liebevoll umfasste sie mich mit zwei kräftigen Armen, die aus gebauschten Puffärmeln ragten. Nachfolgend spielte sie mir vor, wie’s klingen sollte. Selten habe ich mich auf ihr fehlerfreies Spiel konzentrieren können, denn im Pianissimo lastete ihr praller Busen wie ein barocker Balkon auf meinem unschuldigen Haupt. Im Forte fortissimo hingegen haute mir Gerdl ihre drallen Möpse hemmungslos um die Ohren. Oh, du liebe Krautsch! Haben deine Mozartkugeln etwa einen großen Pianisten verhindert?
*
Ich stehe neben dem Gastgeber am Flügel.
Mit leicht zittriger Hand wendet er ein erstes Notenblatt. Dabei segelt dieses unverhofft auf die Klaviatur. Auf der Maur erschrickt. Vergeblich versucht er zu verhindern, dass auch die restlichen Seiten nacheinander auf die Tasten flattern. Eigenartigerweise besteht das ganze Bündel aus losen Einzelblättern. Was noch mehr überrascht: die Noten sind allesamt von Hand geschrieben.
Bevor ich den Mund aufkriege, verkündet der Brahmspräsi mit bebender Stimme: »Lieber Herr Feller. Was Sie hier sehen, ist nichts Geringeres als Johannes Brahms’ Originalpartitur!«
Ich reagiere mit einem subalternen »Wow!«
Auf der Maur guckt irritiert.
Darum dopple ich mit den Worten »potztausend« nach.
Jetzt strahlt er über alle vier Backen.
Ich erkundige mich: »Wie sind Sie an das Autograf rangekommen?«
»Gute Frage, Herr Feller. Die Umstände sind in der Tat etwas obskur. Das ist der eine Grund, warum ich Sie engagieren möchte«, erklärt er, ohne mir damit zu antworten. »Der andere basiert auf meiner Unsicherheit bezüglich der Echtheit der Handschriften.«
Ich nicke verständnisvoll: »Obskur? Was sind das für Umstände?«
Auf der Maur zögert. Er ordnet mit spitzen Fingern vorsichtig die Notenblätter. Nach einem Räuspern sagt er: »Zwei Dinge muss man vorausschicken. Erstens haben wir es hier nicht mit der vollständigen Sonate zu tun, sondern lediglich mit dem zweiten und dritten Satz.«
»Wo bleibt der erste?«, frage ich.
»In einer polnischen Bibliothek. Der erste Satz konnte dort schon vor langer Zeit lokalisiert werden. Zweitens: Die beiden andern Teile haben bisher als verschollen gegolten. Ihr ungeahntes Auftauchen kommt also einer Sensation gleich.«
Ich warte gespannt.
»Es ist überliefert, dass Brahms jeweils mehrere Abschriften seiner Kompositionen anfertigte. Die Kopien verschickte er an Freunde und Freundinnen, um ihr geschätztes Urteil zu erfahren. So gesehen erstaunt, dass bis vor wenigen Tagen nur noch eine einzige Abschrift der Thuner-Sonate bekannt war. Jene in Krakau. Es lag stets im Bereich des Möglichen, dass irgendwann, irgendwo weitere Blätter auftauchen könnten. Et voilà!«
»Wie sind Sie an das Manuskript gelangt?«, wiederhole ich meine Frage. »Wer bietet es an? Zu welchen Konditionen?«
Mein Gastgeber windet sich.
Ich insistiere. »Sie werden verstehen, Herr Auf der Maur, dass ich mehr über die Umstände erfahren muss, die Sie in den Besitz der raren Blätter gebracht haben.«
»Damit kein Missverständnis aufkommt: Von Besitz kann keine Rede sein. Noch nicht. Mir ist die Sonate lediglich zur Prüfung überlassen worden. Ich entscheide, ob sie allenfalls für die Brahmsgesellschaft erworben werden kann.«
»Ist eine solche Anschaffung realistisch?«
»Von den Statuten her schon. Was unser Vermögen betrifft, vielleicht weniger. Es kommt darauf an, mit was für Preisvorstellungen wir konfrontiert werden. Bisher hat sich der Anbieter diesbezüglich bedeckt gehalten.«
»Um wen handelt es sich da eigentlich?«
»Eine berechtigte Frage.«
»Was soll das heißen? Ich nehme an, dass Sie ihn spätestens bei der Übergabe kennengelernt haben.«
Er zögert. »Hm, vielleicht.«
»Vielleicht? Wie meinen Sie das? Haben Sie ihn nun persönlich getroffen oder nicht?«
»Wie soll ich wissen, ob die Person, die mir die Noten ausgehändigt hat, auch der Anbieter oder gar der Besitzer ist? Möglicherweise habe ich es nur mit einem Laufburschen zu tun gehabt.«
»Das Ganze klingt sonderbar. Sie verstehen hoffentlich, wenn ich skeptisch bleibe.«
»Ja. Aber vergessen Sie nicht: Ein bisschen Geheimnistuerei ist im Kunst- und Antiquitätenhandel Usus. Der Verkauf alter Schriften gehört da irgendwie mit rein, oder?«
»Solang Sie keine Zahlung getätigt haben, liegt das Risiko ganz auf der Seite des Boten. Wie sah der aus?«
»Ein ungefähr 30-jähriger Mann mit osteuropäischem Akzent.«
»Hm.«
»Hinsichtlich der Art und Weise, wie er zu den Blättern gekommen sei, hat er schlicht die Auskunft verweigert. Das ist mir schon etwas komisch vorgekommen.«
»Schlicht ist schlecht«, kommentiere ich.
Auf der Maur nickt. »Er meinte, es genüge doch, dass er mir verraten könne, wie ich zu den Blättern komme. Jedenfalls kenne er genügend andere Interessenten.«
»An wen hat er wohl gedacht?«
»Oh, da weiß ich eine ganze Reihe von Institutionen und privaten Sammlern, die auf sowas scharf wären. Die verschiedenen Brahmsgesellschaften beispielsweise oder die Universitätsbibliothek, in der sich bereits der erste Satz befindet.«
»Wo überall sind noch Brahmsgesellschaften aktiv?«
»Ich kenne nicht alle. Engere Kontakte pflegen wir nur zu Baden-Baden, zur Hamburger Gesellschaft und zum Brahmsarchiv in Lübeck. Aber ich weiß von der Existenz weiterer Gesellschaften in Asien und Übersee.«
»Was glauben Sie, warum als Erstes ausgerechnet Ihnen ein Angebot unterbreitet wird? Werden Sie für besonders solvent gehalten?«
Auf der Maur winkt ab. »Es liegt auf der Hand, die Komposition an ihrem Entstehungsort anzubieten, oder?«
»Verstehe. Da kann Ihre Gesellschaft nicht übergangen werden.«
Mir scheint, diese Tatsache erfüllt ihn mit Stolz.
Bezüglich der Mitgliederzahlen stehe es allerdings alles andere als rosig, gesteht der Präsident. »Jahr für Jahr sterben uns treue Brahmsjaner weg. Neueintritte sind kaum zu verzeichnen. Unsere Aktivitäten beschränken sich auf die jährliche Generalversammlung und ein kleines Konzert mit Werken des verehrten Meisters. Vor über 20 Jahren fand dieses noch in der Stadtkirche statt. Große Orchester intonierten ›Ein deutsches Requiem‹ oder die dritte Symphonie. Heute reicht mein Salon völlig aus, für Kammermusik im kleinen Rahmen. In zwei Wochen ist es übrigens wieder so weit. Wenn Sie sich den Termin schon mal vormerken wollen, Herr Feller.«
Ich notiere mir den Anlass. Mit Blick auf das Manuskript frage ich: »Und das da ist echt?«
»Hoffentlich. Ich kann das aber nicht beurteilen. Es scheint mir unumgänglich, dass jemand nach Krakau reist, um die beiden Sätze mit der dortigen Originalhandschrift zu vergleichen. Bedauerlicherweise habe ich dazu momentan absolut keine Zeit. Mein Lehrauftrag erlaubt während den Abschlussprüfungen keine Abwesenheiten. Darum habe ich an Sie gedacht, Herr Feller. Sie haben möglicherweise die zeitlichen Kapazitäten. Zweifelsfrei aber die erforderlichen Qualifikationen. Ich habe mir sagen lassen, dass Sie, abgesehen von Ihren Qualitäten als Privatdetektiv, ein erfahrener Grafologe und begabter Kalligraf seien.«
Bei so viel Lob läuten mir die Ohren im dreigestrichenen C. Mein Selbstwertgefühl schwingt in höchsten Frequenzen. Ich stottere zwei verlegene »Merci, merci«, als stünden sie vor einem Wiederholungszeichen.