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Vorlesung 2

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Die bis hier geschilderten Ereignisse der Entwicklung des Lebens stehen für sich. Noch reden wir nicht von Gott, von Religion, von Welterkenntnis, von Bewusstsein und Gehirn, von Glauben und Wissen. Noch sind wir entwicklungsgeschichtlich äußerst weit von diesen „Dingen“ entfernt. Wir bewegen uns immer noch ca. 5 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Erst später werden wir uns an den entscheidenden evolutionären Knotenpunkten über die „Erfindung der Welt“ detaillierte Erkenntnisse verschaffen können.

Vor Millionen Jahren standen an der Stelle unserer heutigen Gehölze und Wälder ganz andere, mit anderen Bäumen, mit anderen Tieren und anderen Kräutern. In jenen Wäldern wuchsen außer Ahorn, Birken und Linden noch Myrten, Lorbeer und Magnolien. Neben dem Nussbaum wuchs die Weinrebe. Nicht weit von der bescheidenen Trauerweide blühten Kampfer- und Am­bra-Bäume. Neben den gigantischen Mammutbäumen wirkten die Rieseneichen wie Zwerge.

Wenn wir unseren Wald von heute mit einem Haus vergleichen, dann war jener Urwald kein einfaches Haus, sondern ein richtiger Wolkenkratzer. In den oberen Etagen dieses Wolkenkratzers war es hell und laut. Bunte Vögel flogen mit Geschrei zwischen Riesenblüten. Affen schaukelten auf den Ästen und sprangen schwingend von einem Baum zum anderen. Da läuft eine Affenherde über die Äste wie über eine Brücke. Die Mütter halten die Jüngsten an die Brust gedrückt und stecken ihnen vorgekaute Früchte und Nüsse in den Mund. Größere Kinder hängen an den Beinen. Ein alter Affe mit zottigem Fell klettert flink den Stamm hinauf, und die ganze Herde eilt hinter ihm her.

Was sind denn das für Affen? Wir finden sie heute in keinem Zoologischen Garten. Es sind jene Affen, von denen gleichermaßen die Vorfahren des Menschen, des Schimpansen und des Gorillas abstammen. Es sind unsere Wald- und Baumvorfahren.

Unsere Ahnen wohnten in den oberen Stockwerken. Sie lebten in der Höhe, mehrere Dutzend Meter über dem Boden, wie auf Brücken, Galerien und Terrassen. Der Wald war ihr Haus. Die Nacht verbrachten sie in einem Nest aus Zweigen, in den Astgabeln der Bäume. Der Wald war zugleich ihre Festung. Oben auf den Bäumen waren sie sicher vor den dolchscharfen Eckzähnen ihres Erzfeindes, des Tigers Machairod.

Der Wald war ihre Speisekammer. Dort auf den Zweigen hing ihre Nahrung: Früchte und Nüsse. Um aber unter dem Dach des Waldes zu leben, musste man an Ästen hängen, Stämme erklettern, von Baum zu Baum springen, Früchte greifen und pflücken und Nüsse aufbrechen können. Dazu brauchte man eine Greifhand, ein scharfes Auge und harte Zähne.

So war unser Vorfahr nicht nur mit einer Fessel, sondern mit vielen Fesseln an den Wald gebunden, und zwar nicht an den Wald im Allgemeinen, sondern an dessen obere Regionen.

Wie kam es nun dazu, dass der Mensch diese Ketten sprengte? Wie fand das Waldtier den Mut, aus seinem Käfig auszubrechen, herauszutreten aus den Grenzen des Waldes?

Dazu müssen wir sowohl die entfernten Vorfahren unseres Protagonisten als auch seine nächsten Verwandten ermitteln. Wir gehen an den Ort, an dem er das Licht der Welt erblickte, werden erkunden, wie er gehen, sprechen und denken lernte. Wir verfolgen seine ersten Ideen und Vorstellungen von der sichtbaren Welt und dem darüber hängenden Himmel, seinen Lebenskampf; wir verfolgen, wie er die Fesseln und unsichtbaren Mauern überwand, erfahren von seinem Unglück, seinen Freuden, seinen Siegen, seinen Niederlagen.

Aber hier, ganz zu Anfang, stoßen wir auf große Schwierigkeiten.

Wie sollen wir die Ahnin des Helden beschreiben – jene Großmutter-Äffin, von der wir unsere Familie herleiten –, da sie doch schon lange nicht mehr auf der Welt ist? Ihr Porträt ist uns nicht erhalten, da die Affen bekanntlich nicht zeichnen können. Jene Begegnung mit unseren Vorfahren kann nur in einem Museum stattfinden. Aber auch im Museum ist es nicht möglich, unsere Großmutter im Ganzen zu sehen, da von ihr nur einige Knöchlein und zwei Handvoll Zähne übriggeblieben sind, die an verschiedenen Orten Afrikas, Asiens und Europas gefunden wurden. Gewöhnlich besitzen die Großmütter keine Zähne, hier sind die Zähne ohne Großmütter.

Besser steht es mit den übrigen Verwandten unseres Protagonisten, mit seinen „Cousins“ und „Schwestern“. Seit jener Zeit nämlich, da der Mensch aus dem Tropenwald herausgetreten ist und auf seinen beiden Füßen steht – im wahrsten Sinne des Wortes –, sind seine nächsten Verwandten, die Gorillas, Schimpansen, Gibbons und Orang-Utans, wilde Waldbewohner geblieben. Der Mensch wird nicht gern an seine armen Verwandten erinnert. Manchmal versucht er sogar voller Empörung, sie zu verleugnen. Es gibt Leute, die jede Anspielung darauf, dass der Mensch und der Schimpanse die gleiche Ur-Großmutter hatten, als Verleumdung betrachten.

Das riecht nach einer Verleumdungsklage. Und tatsächlich: Vor rund 80 Jahren kam es wegen dieser Angelegenheit in den USA zu einem Gerichtsverfahren. Man verurteilte einen Volksschullehrer, weil er den Mut gehabt hatte, den Kindern von der Verwandtschaft des Menschen mit den Affen zu berichten. Im Gerichtssaal erschienen mehrere honorige Bürger mit Armbinden, auf denen stand: „Wir sind keine Affen, und wir lassen uns nicht zu Affen machen.“

Der arme Volksschullehrer, der diese Esel und Affen ja gar nicht verwandeln wollte, war von den auf ihn niederhagelnden Beschuldigungen zutiefst erschüttert. Während er auf die drohenden Fragen des Richters antwortete, dachten Freunde von ihm: „Ist der Richter denn verrückt geworden? Ebenso gut könnte man ja auch fürs kleine Einmaleins verurteilt werden!“

Die Verhandlung wurde nach allen Regeln der juristischen Kunst geführt. Zeugen wurden vernommen, dem Angeklagten ein letztes Wort gewährt. Und endlich verlas der Richter das Urteil:

„1. Es wird festgestellt, dass Mensch und Affe nicht miteinander verwandt sind.

2. Der Lehrer hat eine Strafe von hundert Dollar zu zahlen.“

So hob der amerikanische Richter die ganze Wissenschaft über die Entstehung des Menschen kurzerhand auf, die von Darwin und anderen Denkern und Forschern geschaffen und von nachfolgenden Forschergenerationen bis heute weiterentwickelt wurde. Aber die Wahrheit ist starrköpfig, sie lässt sich durch Gerichtsurteile nicht aufheben. Wären heutzutage zu dieser Verhandlung Wissenschaftler eingeladen worden, so hätten sie mit Hunderten von Tatsachen bewiesen, dass der Volksschullehrer im Recht war, und dass nicht jeder Richter Recht sprechen kann, wenn Fragen der Wissenschaft verhandelt werden. Andererseits hätten heutige Kritiker der Evolutionstheorie mit klug klingenden Worten das einfache Urteil jenes einfachen US-Richters von damals irgendwie rechtfertigt.

Wir wollen hier noch nicht auf die Motivationslage beider Seiten eingehen, denn wir befinden uns im Moment lediglich auf der Vorstufe einer viel weitergehenden Erkenntnis. Auch Grundsatzfragen sind im Moment nicht zu klären. Es mag sicher jetzt schon äußerst interessant sein zu fragen, wer Gott geschaffen hat, ob also hinter dem „Schöpfer“ ein weiterer „Schöpfer“ steht – und hinter diesem wiederum eine unendliche Zahl vorangegangener Schöpfungsakte mit jeweiligen „Urschöpfern“. Doch üben wir uns in Geduld.

Wir könnten hier das ganze Buch mit unzähligen Beweisen für die Verwandtschaft von Mensch und Affe füllen. Aber sogar ohne alle wissenschaftlichen Überlegungen ist die Familienähnlichkeit zwischen Mensch und Affe für jeden ersichtlich, der sich auch nur eine Stunde in der Gesellschaft eines Schimpansen oder Orang-Utans befunden hat.

Vielleicht erinnern sich einige Leser an eine Studie aus der Jetztzeit, vor ca. 90 Jahren:

Es handelt sich um das erste und altbekannte Pawlow‘sche Experiment im Laboratorium von Koltuschi mit den beiden Schimpansen Rafael und Rosa. Inzwischen wurden mehrere gleichartige Experimente mit den gleichen Erkenntnissen durchgeführt. Gewöhnlich sind die Menschen nicht sehr gastfreundlich zu ihren armen Verwandten aus dem Wald; man bringt sie sofort hinter Gittern. Hier aber, in Koltuschi, begrüßte man die Gäste aus den Wäldern Afrikas mit zuvorkommender Herzlichkeit. Man stellte ihnen eine ganze Wohnung zur Verfügung, mit Schlaf-, Speise- und Badezimmer sowie mit einem Spiel- und Aufenthaltsraum. Ins Schlafzimmer brachte man bequeme Betten mit Nachttischchen daneben. Im Speisezimmer wurde der Tisch mit einem weißen Tischtuch gedeckt und das Buffet mit Speisen gefüllt.

Nichts in dieser gemütlichen Wohnung erinnerte daran, dass die Bewohner keine Menschen, sondern Affen waren. Zum Essen standen Teller mit Löffeln auf dem Tisch. Für die Nacht wurden die Betten abgedeckt und die Kissen sorgfältig aufgeschüttelt. Manchmal benahmen sich die Gäste allerdings nicht so, wie es sich gehört. Beim Essen legten sie die Löffel weg und schlürften einfach das Kompott aus dem Teller. Beim Einschlafen legten sie nicht den Kopf auf das Kissen, sondern das Kissen auf den Kopf. Und doch benahmen sich Rosa und Rafael, wenn auch nicht ganz, so doch fast wie Menschen.

Rosa konnte zum Beispiel nicht schlechter als irgendeine Hausfrau mit den Schlüsseln des Buffets umgehen. Gewöhnlich befanden sich die Schlüssel in der Tasche des Wärters. Rosa schlich sich unbemerkt von hinten an ihn heran und steckte die Hand in seine Tasche. Im nächsten Moment war sie im Speisezimmer vor dem Buffet. Sie klettert auf einen Stuhl und steckt behutsam den Schlüssel ins Schlüsselloch. Hinter dem Glastürchen liegen auf einer Schale leuchtend gelbe Aprikosen und verlockende Weintrauben. Ein rascher Griff, und die Trauben sind in Rosas Händen.

Jetzt beobachten wir Rafael bei seiner Beschäftigung: Als Lehrmittel dienen ein Eimerchen voller Aprikosen und verschiedene Würfel. Diese Würfel sind viel größer als jene, mit denen sonst die Kinder spielen. Der größte ist so hoch wie ein Schemel, der kleinste nicht niedriger als eine Fußbank. Das Aprikoseneimerchen hängt oben an der Decke, und die Aufgabe besteht darin, die Aprikosen zu erreichen und aufzuessen.

Zunächst vermochte Rafael diese schwere Aufgabe nicht zu lösen. In seiner Heimat war er oft auf Bäume geklettert, um Obst zu pflücken. Hier aber hingen die Früchte nicht an einem Ast, sondern in der Luft. Außer Würfeln gab es nichts, worauf er hätte klettern können. Aber auch vom größten Würfel aus konnte er nicht bis zu den Aprikosen langen.

Während Rafael die Würfel hin und her drehte, machte er ganz ZUFÄLLIG eine Entdeckung: Stellte er zwei Würfel aufeinander, so kam er den Aprikosen etwas näher. Allmählich baute Rafael eine Pyramide aus drei, vier, schließlich aus fünf Würfeln. Das war gar nicht so einfach. Man konnte die Würfel nicht beliebig aufeinanderstellen, sondern sie mussten eine bestimmte Reihenfolge haben: zuunterst große, dann kleinere, oben ganz kleine.

Oft machte Rafael den Fehler, die größeren Würfel auf kleinere zu stellen. Dann begann die ganze Konstruktion bedenklich zu wackeln. Im nächsten Augenblick drohte die ganze Pyramide mit Rafael zusammenzustürzen. Dazu kam es aber nicht, da Rafael geschickt wie ein Affe war. Bald war die Aufgabe gelöst. Er hatte alle sieben Würfel der Größe nach aufeinandergestellt, so, als hätte er die angeschriebenen Nummern lesen können – was natürlich nicht der Fall war.

Endlich, auf der Spitze der Pyramide, hält er nun das Eimerchen und frisst mit größtem Vergnügen die ehrlich verdienten Aprikosen. Welches andere Tier vermag sich so menschenähnlich zu benehmen? Könnte man einem Hund den Bau einer Pyramide zutrauen? Und dabei ist doch der Hund ein äußerst verständiges Tier.

Wenn Rafael „arbeitet“, ist seine Menschenähnlichkeit geradezu verblüffend. Er packt einen Würfel, nimmt ihn auf die Schulter und trägt ihn zur Pyramide. Aber der Würfel passt nicht. Da stellt er ihn auf die Erde, setzt sich darauf und überlegt. Nachdem er sich erholt hat, fängt er von vorne an – und vermeidet den begangenen Fehler.

Wenn dem aber so ist, könnte man dann nicht dem Schimpansen beibringen, menschlich zu gehen, zu denken, (an Gott zu glauben) und zu arbeiten? Dies zu erreichen war der Traum des berühmten Dresseurs Durow. Er ließ seinem Liebling Mimus die denkbar sorgfältigste Erziehung zuteilwerden, und Mimus erwies sich als ein sehr verständiger Schüler: Er lernte den Löffel richtig zu benützen, sich eine Serviette umzubinden, auf dem Stuhl zu sitzen, beim Suppe essen keine Flecken zu machen und schließlich auf einem Schlitten den Berg hinunter zu rodeln.

Und doch ist aus Mimus kein Mensch geworden.

Das war auch nicht anders zu erwarten. Denn die Wege des Menschen und des Schimpansen haben sich vor langer Zeit voneinander getrennt. Die Vorfahren des Menschen stiegen von den Bäumen auf die Erde hinab, begannen auf zwei Füßen zu gehen und mit den Händen zu arbeiten. Dagegen blieben die Vorfahren des Schimpansen auf den Bäumen und passten sich dem dortigen Leben noch weiter an.

Daher ist der Schimpanse auch anders gebaut als der Mensch. Er hat andere Hände, andere Füße, kein solches Gehirn und nicht die gleiche Zunge. Sehen wir uns die Hand des Schimpansen an: Sie ist anders eingerichtet als die des Menschen. Der Daumen steht nicht so weit seitwärts wie beim Menschen, und er ist kleiner als dessen kleiner Finger. Bei uns ist der Daumen der wichtigste in jenem Team von fünf Arbeitern, die man die Hand nennt. Er vermag mit jedem einzelnen der übrigen vier und mit allen gemeinsam zu arbeiten. Deshalb kann unsere Hand so geschickt mit den verschiedenartigsten Werkzeugen umgehen.

Wenn sich der Schimpanse eine Frucht pflücken will, hält er sich häufig mit den Händen an einem Ast fest, um mit dem Fuß danach zu greifen. Geht er dagegen auf der Erde, so stützt er sich auf die zusammengebogenen Finger der Hände. Er benützt also oft seine Hände als Füße und die Füße als Hände. Aber nicht nur die Verschiedenartigkeit im Bau der Hände und Füße, sondern noch etwas anderes, sehr Wichtiges lassen jene Dresseure außeracht, die aus Schimpansen Menschen zu machen suchen. Sie vergessen, dass das Gehirn des Schimpansen viel kleiner und unkomplizierter ist als das des Menschen.

Pawlow, der während langer Jahre die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns studiert hatte, beobachtete mit dem größten Interesse das Benehmen seiner Gäste Rosa und Rafael. Er verbrachte lange Zeit im Affenstall, studierte ihr Verhalten und stellte fest, dass es ungeordnet und weitgehend verständnislos war. Ehe sie eine Sache beendeten, begannen sie schon eine neue.

Voller Ernstes sehen wir Rafael damit beschäftigt, seine Pyramide zu bauen. Plötzlich bemerkt er einen Ball, wirft die Würfel um und lässt den Ball zwischen dem Boden und seiner langen, behaarten Hand hin- und herspringen. Im nächsten Augenblick ist der Ball vergessen: Rafaels ganze Aufmerksamkeit gilt einer Fliege, die am Boden kriecht. In den chaotischen Handlungen des Affen spiegelt sich deutlich die chaotische Arbeit seines Gehirns, während die Arbeit des menschlichen Gehirns gar nicht ungeordnet, sondern gesammelt und konzentriert ist. Und doch ist der Affe dem Leben im Wald ausreichend angepasst und besitzt genug Verständigkeit für jene Welt, an die er durch viele unsichtbare Ketten gebunden ist.

Einmal kam ein Filmregisseur in die Wohnung von Rosa und Rafael, um die Beiden zu filmen. Nach seinem Drehbuch sollten die Affen für kurze Zeit aus dem Haus gelassen werden. Kaum waren sie frei, kletterten sie sofort auf einen nahen Baum und begannen voller Begeisterung, mit den Händen an einem Ast hängend, zu schaukeln. Auf dem Baum fanden sie es viel gemütlicher als zu Hause in ihrer gut eingerichteten Wohnung.

In Afrika lebt der Schimpanse in den oberen Stock­werken des Waldes. In den Zweigen baut er sich sein Nest. Er klettert auf den Baum, wenn er vor einem Feind flüchtet. Auf dem Baum findet er sein Essen – Früchte und Nüsse. Er hat sich den Bäumen so angepasst, dass er sich auf einem senkrechten Stamm viel besser bewegt als auf ebener Erde. Wo kein Wald ist, findet man auch keine Schimpansen.

In den 1980er-Jahren flog eine Forscherin nach Kamerun in Afrika, um wieder einmal das Leben der Schimpansen in ihrer Heimat zu studieren. Sie fing zehn Schimpansen ein und siedelte sie in der Nähe ihres Hauses im Wald an, so dass sie sich ganz ungestört fühlten. Damit sie nicht weglaufen konnten, baute sie ihnen einen unsichtbaren Käfig. Zur Herstellung dieses Käfigs genügte ein Werkzeug: eine Motorsäge. Die Holzfäller brauchten nur die Bäume rings um eine abgesteckte Fläche zu fällen, so dass eine kleine Wald-Insel inmitten einer Lichtung übrigblieb. In dieses Wäldchen kamen die Affen.

Die Berechnung der Forscherin war richtig. Der Affe ist ein Waldtier. Freiwillig würde er den Wald nicht verlassen. So wie es dem Eisbären unmöglich ist, in der Wüste zu leben, so kann ein Affe nicht auf einer Lichtung existieren.

Aber wenn der Schimpanse den Wald nicht verlassen kann, wie gelang dies seinem Verwandten, dem Menschen?

Unsere Waldvorfahren verließen ihren Käfig nicht innerhalb eines Tages oder eines Jahres. Hunderttausende von Jahren vergingen, bis sie sich soweit frei gemacht hatten, dass sie aus dem Wald in die Steppe und auf die wenig bewachsene Ebene hinaustreten konnten. Wenn es einem Baumtier gelingen sollte, die Kette, die es an den Wald fesselte, zu zerreißen, musste es vor allem vom Baum herabsteigen und lernen, auf ebener Erde zu gehen.

Auch heute fällt es dem Menschen schwer, gehen zu lernen. Wer von uns kennt sie nicht, die Kriechkinder aus der Krabbelstube. Krabbelkinder sind Kinder, die nicht mehr an ihrem Platz bleiben wollen, aber noch nicht gehen können. Es dauert fast einen Monat (bei einigen etwas kürzer, bei anderen etwas länger), bis sich das kriechende Kind in einen Fußgänger verwandelt hat. Aufrecht zu gehen, ohne sich mit den Händen auf den Boden zu stützen oder sich an anderen Gegenständen festzuhalten, ist gar nicht einfach. Da hat es das Fohlen und fast alle anderen Tiernachkömmlinge einfacher. Hierin wiederspiegelt sich unser Jahrtausende langer Kampf ums aufrechte Gehen.

Gehen zu lernen ist viel schwieriger, als Rad fahren zu lernen. Während ein Kind Monate braucht, um sicher aufrecht laufen zu lernen, brauchten unsere Vorfahren zu diesem wichtigen Entwicklungsschritt Jahrtausende. Zu jener Zeit, als unsere Ahnen noch auf Bäumen lebten, geschah es zuweilen, dass sie auf den Boden hinabstiegen. Und es ist möglich, dass sie sich dabei nicht immer mit den Händen auf die Erde stützten, sondern zwei oder drei Schritte nur auf den Hinterbeinen machten, wie das der Schimpanse manchmal tut. Aber es sind zwei ganz verschiedene Dinge, zwei, drei Schritte zu machen – oder fünfzig oder hundert.

Als unsere Vorfahren noch auf den Bäumen lebten, lernten sie schon, die Hände anders zu gebrauchen als die Füße. Mit den Händen griffen sie nach Früchten und Nüssen, bauten sie ihre Nester auf den Stämmen. Die gleiche Hand aber, die eine Nuss greifen konnte, vermochte auch einen Stein und einen Stock zu greifen. Und einen Stein oder einen Stock in der Hand zu halten, das bedeutete eine KRÄFTIGERE und LÄNGERE Hand.

Mit einem Stein kann man eine Nuss zerschlagen, deren Schale so hart ist, dass die Zähne sie nicht mehr aufknacken können. Mit dem Stock vermag man in der Erde nach essbaren, proteinhaltigen Wurzeln zu graben. Und nun begann der Menschenvorfahr, sich die Nahrung immer häufiger mit den neuen Hilfsmitteln zu verschaffen. Mit dem Stock grub er aus der Erde Knollen und Wurzelgemüse. Mit Hilfe des Steines zerbröckelte er morsche Baumstümpfe und verschaffte sich die Larven von Insekten.

Aber damit die Hände arbeiten konnten, mussten sie von anderen Tätigkeiten freigehalten werden. Je mehr die Hände beschäftigt waren, desto häufiger mussten die Füße versuchen, allein zu gehen. So wurden die Füße von der Hand gezwungen, gehen zu lernen, und die Hand wurde von den Füßen vom Gehen befreit, um arbeiten zu können. Auf der Erde erschien ein neues Wesen, das es früher nicht gegeben hatte, das sich auf den Hinterbeinen bewegte und mit den Vorderbeinen arbeitete.

Äußerlich war dieses Wesen einem Tier sehr ähnlich. Aber könntet ihr sehen, wie es mit einem Stock oder einem Stein hantierte, würdet ihr sofort sagen: Dieses Tier müsste man eigentlich als einen vorzeitlichen Menschen bezeichnen. In der Tat, nur der Mensch versteht es, mit Werkzeugen umzugehen. Tiere haben keine Werkzeuge.

Wenn eine Springmaus oder ein Maulwurf in der Erde graben, so tun sie das nicht mit einem Spaten, sondern mit ihren eigenen Pfoten. Wenn eine Maus die Wurzel eines Baumes durchschneidet, so tut sie das nicht mit einem Messer, sondern mit ihren Zähnen. Und wenn der Specht die Borke des Baumes abmeißelt, so benutzt er keinen Meißel, sondern seinen Schnabel.

Unser Vorfahre hatte weder einen Meißel-Schnabel noch Spaten-Pfoten noch Nagezähne, scharf wie Messer. Er hatte etwas viel Besseres als alle Schneide- und Eckzähne. Er hatte seine Hand, mit der er sich aus einem vom Boden aufgelesenen Stein eine Schneide und aus einem vom Baum gebrochenen Ast einen Grabstock machte.

Während all dieser Ereignisse änderte sich allmählich auf der Erde das Klima. Vom Norden rückte das Eis langsam nach Süden vor. Die Berge drückten sich die Schneekappen tiefer in die Stirn. Dort, wo unsere Waldvorfahren lebten, wurden die Nächte immer kühler, die Winter immer kälter. Noch war das Klima warm, aber man konnte es nicht mehr heiß nennen. Auf den Nordabhängen der Hügel machten die immergrünen Palmen, Magnolien und Lorbeerbäume den Eichen und Linden Platz. Noch heute findet man in den Strandablagerungen Abdrücke von Eichen- und Lindenblättern, die irgendwann durch starke Regefälle in die Flüsse gespült wurden.

Der Urmensch mied die kalten Winde, er zog sich in Höhlen auf den südlichen Abhängen zurück, wo noch Feigenbaum und Weinstock wuchsen. Die Grenze der tropischen Wälder zog sich immer weiter nach Süden zurück. Und gemeinsam mit diesen Wäldern zogen auch ihre Bewohner. Der urzeitliche Elefant ging fort, und immer seltener wurde der Säbeltiger Machairod.

Wo einst undurchdringliches Dickicht war, traten die Bäume auseinander und bildeten Lichtungen, auf denen gigantische Hirsche und Nashorne weideten. Manche Affen zogen fort, andere starben aus. Im Wald fanden sich immer weniger Weintrauben, immer seltener wurden die Feigen- und Nussbäume. Es war auch nicht mehr so leicht, sich durch den Wald zu bewegen. Er lichtete sich: von einer Baumgruppe zur anderen konnte man nicht mehr springen, man musste über die Erde laufen. Für einen Baumbewohner war das nicht ohne Gefahr. Jeden Augenblick konnte es geschehen, dass ihn die Zähne irgendeines flinkeren Raubtieres packten.

Aber da war nichts zu machen. Der Hunger jagte unsere Vorfahren von den Bäumen. Immer häufiger mussten sie auf die Erde steigen und dort auf Nahrungssuche gehen. Was bedeutet es aber für ein lebendiges Wesen, aus seinem gewohnten Käfig heraus zu treten, aus der Welt des Waldes, an die es sich Jahrtausende lang angepasst hat?

Es bedeutet die Durchbrechung der Gesetze des Waldes, die Zerreißung der Ketten, die das Tier an seinen Platz in der Natur fesseln.

Gewiss verändern sich auch Land- und Wassertiere und Vögel. Nichts in der Welt ist unveränderlich. Aber es ist nicht so einfach, sich zu verändern. Millionen Jahre vergingen, ehe jenes Waldtierchen mit den Krallen an den Pfoten zum Pferd wurde. Jedes Kind unterscheidet sich nur wenig von seinen Eltern. Viele Generationen sind nötig, damit sich eine neue Art bildet, die sich von der früheren unterscheidet.

Nun, und unsere Vorfahren?

Wenn es ihnen nicht gelungen wäre, ihre Tätigkeiten und Gewohnheiten zu ändern, so wären sie genötigt gewesen, gemeinsam mit den Affen nach Süden zu ziehen. Zu jener Zeit aber unterschieden sie sich von den Affen schon dadurch, dass sie sich ihre Nahrung mit Hilfe von künstlichen „Eckzähnen“ und „Krallen“ verschaffen konnten, die sie aus Steinen und Ästen machten. Notfalls konnten sie ohne jene saftigen Südfrüchte auskommen, die in den Wäldern immer seltener wurde. Dass sich die Wälder lichteten, war daher für sie nicht so schlimm. Da sie auch schon gelernt hatten, auf den Füßen zu laufen, hatten sie keine Angst mehr vor den offenen, unbewaldeten Stellen. Und wenn ihnen ein Feind begegnete, begann die ganze Horde der Urmenschen sich mit Steinen und Stöcken zu verteidigen. Die harten Zeiten, die unser affenähnlicher Vorfahr durchmachte, konnten ihn weder vernichten noch zwingen, sich gemeinsam mit den tropischen Wäldern zurückzuziehen; sie beschleunigten nur seine Umwandlung zum Menschen.

Und was geschah mit jenem Teil unserer Vorfahren, die Affen blieben? Sie blieben Waldbewohner und wichen mit den Wäldern nach Süden aus. Da sie die Entwicklung der Urmenschen nicht durchgemacht hatten, konnten sie keine Werkzeuge benutzen. Die geschicktesten unter ihnen lebten weiterhin in den obersten Etagen der Wälder, lernten noch besser auf den Bäumen zu klettern und sich an den Ästen schwingend zu bewegen.

Ganz anders war das Schicksal der Affen, die nicht so flink waren und sich dem Baumleben nicht weiter anpassen konnten. Von ihnen sind nur die größten und kräftigsten am Leben geblieben. Aber je massiger und größer ein Tier war, desto schwerer fiel es ihm, auf dem Baum zu leben. Wohl oder übel mussten diese großen Affen auf die Erde herunterkommen. So leben zum Beispiel auch die heutigen Gorillas in den unteren Stockwerken des Waldes. Gegen Feinde verteidigen sie sich auf der Erde, aber nicht mit Steinen und Stöcken, sondern mit riesigen Eckzähnen, mit denen ihre mächtigen Kiefer bewaffnet sind.

So gingen die Wege des Menschen und seiner verschiedenen Verwandten auseinander.

In der nächsten Vorlesung werden wir erkunden, wie die Urmenschen wohnten, wie sie arbeiteten und lebten – und dann schon nähern wir uns zusehends jenem Zustand, in dem sie sich ihrer selbst, ihrer Eigenexistenz bewusst werden und sich als Schöpfer von Werkzeugen und „Produkten“ begreifen – lasst uns erkunden, ob wir vielleicht hier auf die Spur des Schöpfungsgedankens kommen. Aber nicht zu stürmisch, bitte. Noch befinden wir uns Jahrtausende vor diesen Entwicklungen …

Tag 1 - Als Gott entstand

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