Читать книгу Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig - Страница 7
Vorlesung 4
ОглавлениеIn der ersten Zeit, als der Mensch gerade begann, Mensch zu sein, stellte er noch nichts her und produzierte nichts, sondern sammelte sich seine steinernen Krallen und Zähne, so wie wir heute Pilze und Beeren sammeln. Auf den Sandbänken der Flüsse suchte er sich Steine, scharfe, abgeschliffene, von der Natur selbst gedrechselte Steine.
Man findet solche „natürlichen“ Werkzeuge an Stellen, wo sich ein Steinhaufen dröhnend in einem wilden Wasserwirbel gedreht hatte, wie eine riesige Kinderklapper, so dass die Steine zerkleinert und geschliffen wurden. Natürlich kümmerte es den Wasserwirbel wenig, ob seine „Arbeit“ irgendeinen Sinn hatte, daher waren unter Hunderten von Steinen, die die Natur bearbeitete, nur sehr wenige, die dem Menschen nützlich sein konnten. Da begann der Mensch selbst herzustellen, was er brauchte – er fing an, sich Werkzeuge zu machen.
Hier geschah zum ersten Mal etwas, was sich später in der Geschichte der Menschheit oft wiederholte: Natürliches ersetzte der Mensch durch Künstliches. In einer Ecke der großen Werkstatt Natur richtete der Mensch seine eigene Werkstatt ein, um immer neue Dinge herzustellen, die es in der Natur nicht gibt. So war es mit den steinernen Werkzeugen, so war es auch später – nach Tausenden von Jahren – mit dem Metall: Anstatt reines Metall zu benützen, das nur schwer zu finden ist, schmolz der Mensch es mit Hilfe des Feuers aus den Erzen heraus. Jedes Mal, wenn er dazu überging, das Vorgefundene durch Schöpfungen seiner eigenen Hände zu ersetzen, machte der Mensch einen neuen Schritt zur Freiheit, zur Unabhängigkeit von der harten Gewalt der Natur. Der Mensch entwickelte sich so wie sich alle Lebewesen ihren natürlichen Lebensräumen entsprechend entwickelten.
Zunächst vermochte der Mensch noch nicht, sich das Material für seine Werkzeuge selber herzustellen. Er gab dem Material, das er fertig in der Natur vorfand, nur eine neue Form. Er nahm den Stein in die Hand und schlug ihn sich mit einem anderen Stein zurecht. So entstand das, was die Archäologen „Faustkeil“ oder „Schlegel“ nennen. Ein solches Werkzeug eignete sich zum Hämmern. Auch die Splitter waren nützlich. Mit ihnen konnte man schneiden, schaben, stechen.
Die ältesten Werkzeuge, die man in den untersten Erdschichten findet, sind den von der Natur bearbeiteten Steinen noch so ähnlich, dass es oft schwerfällt, zu entscheiden, wer hier der Meister war: der Mensch oder der Fluss oder einfach Hitze und Kälte, die ebenfalls, im Verein mit dem Wasser, Steine zu zersprengen und zerstückeln vermögen. Aber dann wurden andere Werkzeuge gefunden, über die es keinen Zweifel mehr gibt. In den Sandbänken und Uferrändern früherer Flüsse, die heute unter mächtigen Lehm- und Sandschichten begraben sind, fand man die vollständigen Werkzeuge des Urmenschen: sowohl fertige Faustkeile als auch die dazu gehörigen Splitter, die bei der Herstellung abgeschlagen wurden.
Sieht man sich solch einen Splitter an, so kann man deutlich die Stelle erkennen, auf die der Mensch schlug, um ihn gerade so abzuschlagen, dass der Faustkeil die gewünschte Form bekam. Solche Formen hätte die Natur nicht herstellen können, das vermochte nur der Mensch. Das ist selbstverständlich, denn in der Natur geht alles ohne Ziel und Plan vor sich. Der Wasserwirbel des Flusses schleuderte die Steine ohne jede Absicht gegeneinander. Der Mensch tat das Gleiche, aber bewusst, mit einem Ziel. Das Ziel und der Plan erscheinen so zum ersten Mal in der Welt.
Allmählich beginnt der Mensch die Natur zu verändern und zu verbessern, indem er den von der Natur geschaffenen Stein korrigiert. So erhob sich der Mensch um eine weitere Stufe über die anderen Tiere, er erhielt noch mehr Freiheit, er war nun nicht mehr abhängig davon, dass die Natur einen geeigneten Stein für ihn bereithielt. Er konnte jetzt sein Werkzeug selbst herstellen.
Mit Mühe und Not sind unsere Vorlesungen bis hierher fortgeschritten, und wir haben noch immer nicht gesagt, wo und wann unser Protagonist geboren wurde. Noch nicht einmal sein genauer Name wurde genannt. An der einen Stelle bezeichnen wir ihn als „Affenmenschen“, an einer anderen als „Urmensch“, an einer dritten – noch unbestimmter – als „unseren Waldvorfahren“. Wenn wir den ganz frühen Menschen betrachten, der dem Affen noch sehr ähnlich ist, so nennt ihn die Wissenschaft, wie schon einmal erwähnt, Pithekanthropus, Sinanthropus und Heidelberger Mensch. Vom Letzteren ist nur ein Kiefer erhalten, der nahe der Stadt Heidelberg gefunden wurde. Nach diesem Kiefer zu schließen, hat der Besitzer den Namen eines Menschen wohl verdient: Er hat keine tierischen, sondern menschliche Zähne, und die Eckzähne ragen nicht wie beim Affen über die anderen Zähne hinaus.
Und doch ist der Heidelberger Mensch noch kein richtiger Mensch, sondern im Übergang begriffen, was man deutlich an seinem nach hinten fliehenden Affenkinn erkennen kann. Pithekanthropus, Sinanthropus und Heidelberger Mensch – drei Namen, mit denen unser Protagonist im gleichen Alter und auf der gleichen Entwicklungsstufe bezeichnet wird. Jedoch wollen wir uns nicht mit der wissenschaftlichen Namensgebung zu lange aufhalten. Wir sollten noch berücksichtigen, dass wir allerdings eines NICHT sagen können: Unser Protagonist ist in diesem oder jenem Jahr geboren. Warum? Weil er eben nicht in einem Jahr zum Menschen geworden ist. Hunderttausende von Jahren waren nötig, damit der Mensch gehen lernte und sich Werkzeuge herstellen konnte. Auf die Frage, wie alt der Mensch sei, gibt es nur eine annähernde Antwort: Ungefähr zwischen 1,6 und 2,1 Millionen Jahren. Nicht zu verwechseln mit seiner Ablösungsphase vom Affen, die bereits vor 5 Millionen Jahren begann.
Im Jahr 1960 fanden die berühmte Paläoanthropologin Mary Leakey und ihr Sohn Jonathan in 1,8 Millionen Jahre alten Sedimenten der Olduvai-Schlucht in Tansania einen Unterkiefer, ein paar Handknochen und Trümmer einer Schädeldecke. Marys Ehemann Louis Leakey analysierte die Fossilien und verkündete vier Jahre später, sie müssen zu der frühesten bislang bekannten Art der Gattung Homo, unserer Gattung, gehören. Aus den Olduvai-Funden, die als OH7 bekannt wurden, schloss er, das Wesen müsse schon in der Lage gewesen sein, sehr geschickt (lateinisch habilis) zu greifen. Daher der Name der frühen Menschenart: Homo habilis. (Das wäre unser vierter Name.)
Damit traten die Leakeys eine jahrzehntelange Debatte los: Handelte es sich wirklich um Reste eines Exemplars unserer Gattung und nicht vielmehr um späte Vertreter der Australopithecinen, deren berühmteste Vertreterin die 3,2 Millionen Jahre alte „Lucy“ ist? Erst 2015 konnte man diesen Streit für endgültig beendet erklären, denn es erschienen gleich zwei neue Untersuchungen, die Licht auf die frühe Gattung Homo werfen. Die erste erschien in der Zeitschrift „Nature“, und in ihr haben Forscher des Max-Planck-Institutes für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zusammen mit Kollegen aus England und Tansania die OH7-Fossilien mit modernen Methoden untersucht. Mittels Computersimulation konnten sie den stark deformierten Unterkiefer virtuell in seine ursprüngliche Form bringen und mit anderen Homo-Fossilien aus der Zeit zwischen 2,1 und 1,6 Millionen Jahren vergleichen.
Für Fred Spoor vom University College in London, einem Mitautor der „Nature“-Studie zu OH7, beginnt diese Entdeckung die evolutionsgeschichtliche Lücke zu füllen, die sich bislang zwischen den letzten Australopithecinen und den frühesten Vertretern unserer eigenen Gattung auftat. In derselben Ausgabe von „Science“ erschien zudem eine Arbeit derselben amerikanischen Forschergruppe, die anhand fossiler Faunenreste zeigen konnte, dass die Region von Ledi-Geraru vor 2,8 Millionen Jahren trockener wurde als sie vorher gewesen war. Dass ein Klimawandel in Ostafrika hin zu einer trockeneren, offeneren Savannenlandschaft einst die Entwicklung der Gattung Mensch befördert hat, war schon oft als Hypothese aufgestellt worden, nun gibt es einen weiteren Hinweis darauf, dass sich die Entstehung der Menschheit möglicherweise wirklich durch einen Klimawandel beschleunigte.
Bevor wir dieses (zweifellos wichtige) Thema im Zeitraffer streifen, sollten wir verstehen, wie unsere Vorahnen die Zeit als eine nutzbringende Einheit entdeckten und sie nicht nur instinktiv als Tag-/Nacht-Rhythmus erlebten. Die Entdeckung der Zeit und ihr werktäglicher Gebrauch war so wichtig wie die Entdeckung und der Gebrauch des Feuers. Jedermann weiß, wie man Eisen oder Öl gewinnt und wie man Feuer macht. Wie aber macht man Zeit?
Schon sehr früh lernte der Mensch die Zeit gewinnen. Als er begann, sich Werkzeuge zu machen, trat damit in sein Leben eine ganz neue Beschäftigung, eine wirklich menschliche Beschäftigung, die Arbeit. Aber Arbeit braucht Zeit. Um ein Steinwerkzeug herzustellen, muss man zunächst einen geeigneten Stein finden. Nicht jeder beliebige Stein ist brauchbar. Am besten eignet sich der harte, dichte Feuerstein. Aber solche Feuersteine lagen nicht beliebig umher, man musste sie suchen. Viele Stunden vergingen bei der Suche, und es kam mitunter vor, dass das Suchen ergebnislos verlief. Dann war der Mensch gezwungen, weniger harte Kieselsteine zu nehmen.
Wenn er aber nun endlich einen geeigneten Stein gefunden hatte, musste er ihn zurechtschlagen und schleifen, um ihm die richtige Form zu geben. Die Bearbeitung – das erforderte abermals Zeit. Überdies waren die Finger des damaligen Menschen nicht so geschickt und beweglich wie heute – sie lernten ja erst arbeiten. Wahrscheinlich verging über die Herstellung eines groben Steinkeils viel mehr Zeit, als man vor hundert Jahren benötigte, um eine stählerne Axt in Handarbeit herzustellen. Heute erledigen das Maschinen im Minutentakt.
Wo war für den Urmensch für all das die Zeit herzunehmen?
Er hatte sehr wenig freie Zeit, sicherlich noch weniger als selbst die superbeschäftigten Menschen unserer Tage. Von morgens bis abends wanderte er durch Wälder und über Wiesen, um Nahrung zu suchen. Nahrungssuche und Essen – damit verging die ganze Zeit, wenn er nicht schlief. Und das Essen war so beschaffen, dass es großer Mengen bedurfte, um satt zu werden. Man musste in der Periode vor der Entdeckung der Jagd (die mit der Entdeckung des Werkzeugs möglich wurde) sehr viel essen, da das Menü nur aus Beeren, Nüssen, Schnecken, Mäusen, jungen Pflanzentrieben, essbaren Wurzeln, Larven und ähnlichem Kleinzeug bestand.
Die Menschenherde weidete damals im Wald wie eine Hirschherde, die nichts anderes tut als Gras und Blätter rupfen und kauen. Wenn man aber den ganzen Tag Essen suchte und kaute, wann konnte man dann arbeiten? Es stellte sich jedoch heraus, dass die Arbeit eine wunderbare Eigenschaft besitzt: sie nimmt nicht nur Zeit, sondern sie gibt sie auch. Wenn man nämlich in vier Stunden das schaffen kann, wozu ein anderer acht Stunden braucht, so bedeutet das: man hat vier Stunden gewonnen. Denkt man sich ein Werkzeug aus, mit dem man doppelt so schnell arbeitet als bisher, so hat man die Hälfte der Zeit eingespart, also Zeit gewonnen, die jene Arbeit bisher erforderte.
Diese Methode, sich Zeit zu verschaffen, hat schon der Mensch der Urzeit erfunden. Zwar musste man viele Stunden aufwenden, um einen Stein zu schärfen, dafür konnte man aber nachher mit diesem scharfen Stein die Larven unter der Baumrinde viel leichter hervorkratzen. Man musste fleißig arbeiten, um einen Ast mit einem Stein zu behobeln. Dafür konnte man nachher mit diesem Stock viel leichter die essbaren Wurzeln ausgraben oder ein Kleintier erlegen. Dadurch ließ sich die Nahrung rascher beschaffen, und der Mensch hatte mehr Zeit für die Arbeit. In den Stunden, die nach der Nahrungssuche übrigblieben, bastelte er an seinen Werkzeugen, machte sie immer besser und schärfer. Und jedes neue Werkzeug bedeutete wiederum mehr Nahrung und daher mehr Zeit.
Besonders durch die Jagd gewann der Mensch viel Zeit. Mit Fleisch kann man sich in einer halben Stunde für einen ganzen Tag völlig satt essen. Aber zunächst bekamen die Menschen sehr selten Fleisch. Es ist unmöglich, mit einem Stock oder einem Stein ein großes Tier zu töten, und an einer Waldmaus ist nur wenig dran.
Der Mensch war noch kein richtiger, echter Jäger.
Was war der Mensch denn?
Er war ein Sammler.
Den Sammler-Menschen der früheren Zeiten ging es schlecht. Wenn sie nicht vor Hunger starben, so lag das daran, dass sie täglich auf der Suche waren und sich vor keiner Nahrung ekelten. McDonalds gab es vor 2,3 Millionen Jahren noch nicht. Der wirkliche Ekel war also noch Millionen Jahre entfernt.
Obwohl die Menschen nun kräftiger und freier geworden waren als ihre Vorfahren, die noch auf Bäumen leben mussten, waren sie doch noch ziemlich jämmerliche, halb verhungerte Wesen.
Aber noch ein furchtbareres Unglück kam über die Erde. Ein furchtbarer Plan Gottes, wenn es ihn denn schon gab. Ein Klimawechsel vollzog sich langsam aber sicher über Jahrtausende hin. Das Eis des Nordens setzte sich in Bewegung und begann nach Süden vorzudringen. Ihr alle wisst genügend über diese Zeit und über ihre Auswirkungen – und deshalb sollten wir ab jetzt im Zeitraffer vorgehen.
Nur langsam bewegte sich das Eis, und sein kalter Hauch wurde nicht sogleich spürbar, wo der Mensch lebte. Die ersten, die das Nahen des Eises fühlten, waren nicht die Tiere des Festlandes, sondern die Tiere der Meere. Die Uferablagerungen berichten uns eindrucksvoll von dieser Verwandlung der warmen Meere in kalte. Während auf dem Festland noch wärmeliebende Pflanzen und Tiere lebten, veränderte sich schon die Bevölkerung des Meeres. Wenn wir die Gesteinsschichten studieren, die damals abgelagert wurden, finden wir in ihnen massenhaft die Schalen kleiner Muscheln, die nur in kalten Gewässern leben konnten.
Aber bald spürte man auch auf dem Land das Nahen des Eises. Die Arktis verlegte ihren Platz nach Süden. Und daher mussten die Tundren und Nadelwälder des Nordens ebenfalls ihren Platz räumen und nach Süden ausweichen. Die Tundra bedrängte damit die Taiga, die sich nun zurückzog und ihrerseits die Laubwälder verdrängte. Es gab einen großen Krieg der Wälder gegeneinander. Kurz gesagt: Nicht nur Tiere und Menschen kämpften um ihr Überleben und mussten sich den klimatischen Änderungen anpassen, auch die Welt der Pflanzen teilte mit ihnen dieses Problem. Viele Jahrtausende dauerte dieser Verdrängungskrieg der Wälder. Weiter und weiter zogen sich die wärmeliebenden Bäume nach Süden – Reste einer geschlagenen Armee.
Mit den wärmeliebenden Wäldern verschwanden ihre Bewohner. Es verschwand der alte Elefant; Nashorn und Nilpferd verzogen sich nach Süden, und der alte Feind des Menschen, der Säbeltiger Machairod, starb aus. Mit diesen Großtieren sind viele andere Tiere und Vögel zugrunde gegangen oder nach Süden geflüchtet. Es hätte auch nicht anders sein können. Durch die „Ketten der Ernährung“ aneinander gefesselt, gingen Tiere und Pflanzen miteinander zugrunde, wenn der Wald zugrunde ging. Genauso versanken Jahrtausende später die verurteilten Galeerensklaven mit ihrer Galeere, da sie durch Ketten an sie gefesselt waren.
Um davonzukommen, musste das Tier diese Kette zerreißen. Es musste neue Nahrung finden, Krallen und Zähne verwandeln und sich ein dichtes Fell wachsen lassen, um sich vor der Kälte zu retten. Mit anderen Worten: Das Tier war gezwungen, sich zu verändern. Für ein Tier im arktischen Wald war es schwer, sich am Leben zu erhalten. Und so kamen aus dem Norden, zusammen mit dem Wald, seine Bewohner in ihrem neuen dichten Haarkleid: das wollige Nashorn, das Mammut, der Höhlenlöwe, der Höhlenbär. Sie fühlten sich im nördlichen Wald ganz wie zuhause.
Und was wurde aus dem Mensch? Er ist am Leben geblieben, seine Hände Arbeit ließen ihn Schutzräume bauen und ließen ihn lernen, Vorräte aufzubewahren und immer mehr das Feuer zu nutzen. Mit der Asche wurden die Vorräte haltbar gemacht. Für die Menschen, die in den warmen Ländern wohnten, war es nicht schwer, am Leben zu bleiben, obwohl auch dort das Klima merklich kühler wurde. Sie waren dennoch nicht gezwungen, all das zu ihrem Überleben zu „erfinden“, was die Menschen im Norden benötigten, um dem Grauen der Eiszeit entgegenzutreten.
In den strengen Wäldern des Nordens gab es kaum noch etwas zu sammeln. Da begann der Mensch in den Wäldern nach jener Beute zu suchen, die nicht ruhig stehen bleibt und wartet, bis sie gefunden wird, sondern wegläuft, sich versteckt und widersetzt. Selbst in den warmen Ländern ergänzte der Mensch um diese Zeit seine Nahrung immer häufiger durch Fleisch. Es war nahrhafter, gab mehr Kraft und ließ mehr Zeit für die Arbeit. Das wachsende Hirn des Menschen forderte Proteine, nahrhafte Fleischkost.
Je besser die Werkzeuge der Menschen wurden, umso mehr Raum nahm die Jagd in ihrem Leben ein. Und wenn die Jagd schon im warmen Süden zur Notwendigkeit wurde – im Norden war es unmöglich, ohne sie zu existieren. Gewiss, in den vielen Jahrtausenden, die den Jägermenschen vom Sammlermenschen trennen, hat sich die steinerne Waffe verändert; sie ist schärfer und besser geworden. Der Arbeitsaufwand wurde größer. Wenn daher der Mensch ein Steinwerkzeug oder Waffe gemacht hat, so wirft er dies nicht nach dem einmaligen Gebrauch fort, sondern bewahrt es sorgsam auf und schärft es wieder, wenn es stumpf geworden ist. Der Mensch schätzt das Werkzeug, da er seine Arbeit und Zeit schätzt. So wächst allmählich sein Bewusstsein: Er begreift durch sein BEGREIFEN des Werkzeugs und des zu bearbeitenden Materials, dass es ein Ziel gibt. Und er hat einen Plan, um zu diesem Ziel zu gelangen – so kommen Dinge in sein Leben, die früher dem Zufall überlassen waren. Dinge, die er begrifflich noch nicht formen kann, die aber gleichwohl durch seiner Hände Arbeit existieren: Plan und Ziel.
Nun kann der Einzelne noch so große Ziele und Pläne haben, kann er sie auch als Einzelner verwirklichen?
Man kann sich bemühen, wie man will, Stein bleibt Stein. Ein Jagdspieß mit einer Feuersteinspitze war eine unzureichende Waffe, um ein Tier wie das Mammut anzugehen. Denn das Mammut hatte eine Haut, so dick wie ein Stahlpanzer. Dennoch hat der Mensch die Mammute überwältigt. Das erzählen uns ihre Schädel und Stoßzähne, die an den Jagdplätzen zu finden sind. Wie wurde der primitive Jäger mit dem Mammut fertig? Das kann nur verstehen, wer das Wort „Mensch“ richtig lesen kann, der „Mensch“ sagt und „Gemeinschaft“ meint. Nicht ein Mensch, sondern die Menschen in gemeinsamer Bemühung lernten es, Werkzeuge zu machen, zu jagen, das Feuer zu gewinnen, Behausungen zu bauen, die Erde zu bearbeiten. Nicht ein Mensch, sondern die Menschengesellschaft hat durch die Arbeit von Millionen Mitglieder ihrer Art Kultur, Religion und schließlich Wissenschaft hervorgebracht.
Vereinzelt wäre der Mensch ein Tier geblieben. In manchen Geschichten wird der damalige Jäger-Mensch als einzelner Robinson dargestellt, der in hartnäckiger Arbeit allein zu allem gekommen ist. Wäre der Mensch wirklich solch ein alleinstehender Robinson gewesen oder hätten die Menschen als einzelne Familien gelebt und nicht als ganze Sippen/ Stämme/ Gesellschaften, so wären sie nie Menschen geworden und hätte nie die Kultur geschaffen. Die Arbeit in der Gemeinschaft hat das Tier zum Menschen gemacht.
Natürlich kennt ihr Defoes Geschichte von Robinson. Aber Robinsons Leben war nicht so, wie es dort erzählt wurde – weder romantisch, noch abenteuerlich. Die wahre Geschichte zeigt, dass man Robinson nach vielen Jahren der totalen Inseleinsamkeit völlig verwildert wiederfand. Der alte Matrose hatte fast ganz das Sprechen verlernt und war einem Tier ähnlicher als einem Menschen. In der Einsamkeit ist es daher sogar für einen heutigen Menschen gar nicht leicht, Mensch zu bleiben. Was soll man da erst von den Urmenschen sagen!
Sie existierten nur in der Gemeinschaft, dadurch, dass sie gemeinsam lebten, gemeinsam jagten, gemeinsam sammelten und gemeinsam Waffen verfertigten. In einer Horde verfolgten die Urmenschen das Mammut. Nicht ein Jagdspieß, Dutzende von Spießen bohrten sich in seine zottigen Hüften. Wie ein vielbeiniges und vielhändiges Wesen verfolgte der Menschenschwarm das Mammut. Nicht nur Dutzende von Händen, sondern auch Dutzende von Köpfen arbeiteten hier zusammen. Das Mammut war zwar viel größer und stärker als ein Mensch, die Menschen aber waren schlauer. Sie nutzten mit Vorsatz das Feuer und trieben das Mammut vorsätzlich an den Rand eines Abgrundes oder eines Moores. Vorsatz aber bedeutet stets Plan und Ziel zu haben.
Das getötete Mamut aus dem Talkessel oder dem Sumpf zu holen – das alles erforderte nicht zwei, sondern Dutzende von Händen, die diese Arbeit verrichteten. Es erforderte „Absprache“, was damals noch bedeutete: Dutzende von Menschen, die ihre Kräfte durch mehr oder weniger artikuliertes Geschrei vereinten, schleppten mühsam ein riesiges, zottiges Mammutbein über den Boden hin zu ihrer Höhle. Hier waren es wieder Dutzende von Händen, die die Jagdbeute zerlegten, zubereiteten oder mit Asche haltbar machten.
Der Wettlauf des Menschen mit den anderen Tieren war zu Ende: Der Mensch ging als Sieger durch das Ziel, er überwältigte das größte aller Tiere. Es war weniger ein Wettkampf im Laufen als im Essen: Wer isst wen? Der Mensch wurde derjenige, der alle übrigen isst und von niemandem gegessen wird. Seitdem begann die Zahl der Menschen zu wachsen, rascher und rascher. Mit jedem Jahrhundert, jedem Jahrtausend wurden es immer mehr, und zum Schluss besiedelten sie die ganze Welt.
Nun ging es auch in der kulturellen Entwicklung rasch vorwärts. Der Mensch braucht nicht mehr selber weiden und pflanzliche Nahrung sammeln. Er kultiviert Tiere und lässt sie für sich weiden. Er hortet die im Fleisch gesammelten Vorräte an Stoff und Energie, die im Laufe vieler Jahre in dem (nun geschlachteten) Tier entstanden waren. Und solche Vorräte wurden auf dem kälter werdenden Globus bitter nötig. Aber dabei blieb es nicht. Denn eine Änderung zog die andere nach sich. Seit der Mensch Vorräte hielt, musste er auch sesshafter werden, konnte er sich nicht mehr so leichtfertig durch die Landschaft bewegen. Ein geschlachtetes Tier kann man nicht immer mit sich herumschleppen – doch auch diesen Zeitabschnitt gab es im Leben der Menschheit.
Auch aus anderen Gründen war es für den Menschen Zeit, das Leben eines obdachlosen Vagabunden aufzugeben. Es war die bereits erwähnte vorrückende Eiszeit, die ihn Schutz vor der Kälte, vor den Schneestürmen suchen ließ. So kam es dazu, dass der Mensch sich in der großen, kalten Welt seine eigene, kleine, warme Welt zu bauen begann. Wir wollen jetzt nicht im Einzelnen die verschiedenen Behausungen, die „Himmelsgewölbe“ beschreiben, die sich der Mensch im Laufe der nun folgenden Jahrtausende suchte.
Neben die Entdeckung der Werkzeuge, der Zeit, des Feuers, der Arbeit in der und für die Gemeinschaft, neben die Entdeckung von Plan und Ziel tritt eine entscheidende Erfindung hinzu: die Arbeitsteilung. Die Aufteilung der Arbeit nach den Werkzeugen spricht dafür, dass die Verteilung der Arbeit unter den Menschen schon in der Zeit der urmenschlichen Jäger begonnen hat. Diese Arbeitsteilung wurde immer mannigfaltiger. Um mehr zu schaffen, um mehr ZEIT zu schaffen, mussten die einen diese Arbeit verrichten, die anderen jene. Während die Männer auf der Jagd den Tieren nachspürten, blieben die Frauen nicht untätig. Sie erbauten Hütten, wurden also zu architektonischen „Hausfrauen“, verfertigten die Kleidung, sammelten Wurzeln, Gemüse, Brennstoffe, sorgten für Vorräte.
Aber es gab auch eine andere Teilung der Arbeit: die zwischen den Alten und Jungen.
Die Schule, durch die seitdem die Menschheit ging, dauerte Tausende von Jahren.