Читать книгу Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig - Страница 8
Vorlesung 5
ОглавлениеZu jeder Arbeit muss man befähigt sein. Diese Fähigkeit fällt aber nicht vom Himmel, man muss sie von jemandem erwerben. Wenn jeder Zimmermann selbst Beil, Säge und Hobel erfinden und herstellen müsste, wenn er sogar noch erarbeiten müsste, wie man dann mit diesen Werkzeugen umzugehen hat, dann gäbe es in der ganzen Welt keinen einzigen Zimmermann. Wenn jeder von uns, der Geographie lernen möchte, die ganze Welt umreisen, Amerika entdecken, Afrika und Asien erforschen, den Mount Everest erklettern, alle Landzungen und Landengen besuchen müsste, so würde sein Leben nicht ausreichen, selbst wenn es tausend Mal länger wäre.
Je weiter die Menschen die Natur bewältigten, je ausgefeilter und effektiver sie dies taten, umso notwendiger wurde es für sie, zu LERNEN. Jede neue Generation erhält von der vorangehenden einen immer größeren Vorrat an Kenntnissen, Nachrichten/Informationen und Entdeckungen.
Wir sehen es an unseren Kindern: Die ersten zehn Jahre gehen schon allein damit hin, die Grundschule zu beenden und Grundkenntnisse zu erlangen. Das Wissen nimmt rasant zu; die Zahl der Wissenschaften explodierte in den letzten zweihundert Jahren. Unter dem Druck der neuen Erkenntnisse haben sich die Wissenschaften geteilt und vermehrt wie lebende Zellen.
In der Steinzeit gab es natürlich noch keine Wissenschaften. Die Menschheit begann erst, ihre Erfahrungen zu sammeln und aufzuspeichern. Die Arbeit des Menschen war nicht so kompliziert wie heute. Daher verging auch nicht so viel Zeit bei der Lehre. Und doch mussten die Menschen auch damals schon lernen. Um ein Tier aufzuspüren, es zu erlegen, das Fell zu zerteilen, die Hütte zu bauen und ein Steinmesser herzustellen, musste man Handfertigkeiten besitzen, Meisterschaft erlangen. Und woher kommt diese Fertigkeit? Der Mensch wird nicht als Meister geboren, er muss die Meisterschaft erwerben. Hier sieht man, wie weit sich der Mensch inzwischen vom Tier entfernt hat. Wir hatten bereits darüber berichtet, dass den Tieren die „Werkzeuge“ angeboren und nicht austauschbar oder bearbeitbar sind. Tiere benötigen weder Werkstätten noch Schulen. Anders beim Menschen. Er macht seine Werkzeuge selbst. Er wird nicht mit ihnen geboren. Daher bekommt er auch die Fähigkeit, sie zu gebrauchen, nicht als Erbschaft von Vater und Mutter mit, sondern von den Lehrern und von den Älteren während der Arbeit.
Zum Glück für die Menschheit haben wir uns von den Fesseln der Natur befreit und werden nicht mit abgeschlossenen Fertigkeiten geboren. Wir lehren und lernen, und jede Generation steuert etwas zu dem allgemeinen Vorrat menschlicher Erfahrungen und Entdeckungen bei. Die Erfahrung wächst und wächst. Die Menschheit schiebt die Grenze der Unkenntnis immer weiter von sich. Wie jeder Schüler, so geht auch die ganze Menschheit durch eine Schule und erkennt immer Neues. Diese tausendjährige Schule hat den Menschen zu dem gemacht, was er ist. Sie gab ihm Wissenschaft, Technik und Kunst, gab ihm die ganze vielfältige Kultur.
In die tausendjährige Schule trat der Mensch schon in der Steinzeit ein. Alte, erfahrene Jäger unterrichteten die Jünglinge in der schwierigen Kunst der Jagd, lehrten sie Spuren zu erkennen und zeigten ihnen, wie man ein Tier anschleichen muss, um es nicht aufzuschrecken. Auch für die Frauen war Schulung nötig. Musste die Frau doch gleichzeitig Hausfrau, Architektin, Holzfällerin und Schneiderin sein. Auch Giftiges musste sie beim Sammeln vom Essbaren unterscheiden lernen.
In jeder Menschenhorde gab es alte, erfahrene Männer und Frauen, die der Jugend die Erfahrungen eines arbeitsreichen Lebens übergaben. Wie aber übergibt man sein Können, seine Erfahrungen anderen. Indem man zeigt und erzählt.
Dazu ist Sprache nötig.
Die Tiere brauchen ihren Kindern nicht beizubringen, wie die lebendigen Werkzeuge – Pfoten und Zähne – zu benutzen sind. Daher brauchen die Tiere nicht sprechen können.
Die Sprache war nötig, sowohl um gemeinsam zu arbeiten, als auch um die Arbeitserfahrungen und Arbeitskenntnisse von den Alten an die Jungen weiterzugeben. Wie hat der Mensch der Steinzeit gesprochen?
In der Tiefe der Höhlen und auf den Jagdplätzen der vorzeitlichen Menschen findet man mitunter sie selbst, oder vielmehr das, was von ihnen übriggeblieben ist. Ihre Schädel und Skelette wurden an vielen Stellen gefunden: in Frankreich, Deutschland, Belgien und in Russland. Nach dem Neandertal, wo einer der ersten Funde gemacht wurde, nennt man all diese damaligen Zeitgenossen „Neandertaler“.
Wir werden unseren Protagonisten auch „Neandertaler“ nennen. Wir müssen es kurz machen: Bei ihm werdet ihr nicht mehr auf den Gedanken kommen, er sei ein Affe. Und doch ähnelt er noch stark einem Affen. Die niedrige Stirn überragt die Augen wie ein Mützenschirm, die schräggestellten Zähne ragen vor. Hauptsächlich aber sind es Stirn und Kinn, die ihn von uns unterscheiden. Die Stirn flieht nach hinten, und das Kinn ist kaum angedeutet. In diesem fast stirnlosen Schädel fehlten offenbar noch Gehirnteile, die der heutige Mensch besitzt. Der Unterkiefer mit dem abgeschrägten Kinn war zum Sprechen ungeeignet. Ein Mensch mit solcher Stirn und solchem Kiefer konnte niemals so denken und sprechen wie wir denken und sprechen. Trotzdem musste er sprechen.
Die gemeinsame Arbeit erforderte das Sprechen. Wenn Menschen miteinander arbeiten, so müssen sie sich über die Arbeit verständigen. Der Mensch konnte nicht warten, bis ihm ein Kinn wuchs und sich die Kiefern verbreiterten. Da hätte er tausend Jahre warten müssen.
Wie verständigte sich nun der Mensch?
Er verständigte sich so, wie es ihm möglich war – mit Hilfe seines ganzen Körpers. Da er noch kein spezielles Organe für die Sprache besaß, so sprach er die Sprache der Gesichtsmuskeln, die Sprache der Schultern, der Beine, aber am meisten sprachen seine Hände.
Habt ihr schon einmal mit einem Hund gesprochen? Wenn unsere Hunde uns etwas zu erklären versuchen, so blicken sie uns in die Augen, stoßen uns mit der Nase an, legen uns ihre Pfoten auf den Schoß, krabbeln an unseren Beinen hoch, wedeln mit dem Schwanz, strecken sich und gähnen vor Ungeduld oder stellen sich an die Tür. Sie können nicht mit Worten sprechen, daher sprechen sie mit ihrem ganzen Körper, von der Nasenspitze bis zur Spitze des Schwanzes. Der vorzeitliche Mensch vermochte ebenfalls nicht mit Worten zu sprechen. Dafür halfen ihm bei der Verständigung mit anderen die Hände, denn mit ihnen arbeitete er, und die Verständigung war ein notwendiger Teil seiner Arbeit. Anstatt zu sagen: „Hacke“, schlug er mit der Hand; statt zu sagen: „Gib“, streckte er seine Hand vor, und statt zu sagen: „Komm her“, winkte er auf sich zu. Dabei verschaffte der Mensch seinen Händen mit der Stimme Nachdruck: er heulte, brüllte und schrie, um die Aufmerksamkeit seiner Hordenmitglieder auf sich zu lenken und sie zu zwingen, seinen Zeichen zu folgen.
Woher wissen wir das aber?
Jedes in der Erde gefundene Bruchstück eines Steinwerkzeugs ist ein nachweisbares Bruchstück der Vergangenheit. Wo aber findet man die Bruchstücke der Gesten? Wie stellt man die Bewegungen längst verwester Hände wieder her?
Das wäre ganz unmöglich, wenn die Urmenschen nicht unsere Vorfahren wären und uns, den heutigen Menschen, eine gewisse Erbschaft hinterlassen hätten. Bei den Indianern, die die englische Sprache wie auch die Sprache ihres Stammes fließend sprechen, können wir beispielsweise eine Sprache entdecken, die den Indianern aus sehr alten Zeiten überliefert wurde. Es ist die einfachste Sprache der Welt. Wenn ihr sie erlernen wollt, braucht ihr euch nicht mit Deklinationen und Konjugationen abplagen. Bei dieser Sprache aus vergangenen Zeiten denkt niemand an Dinge wie Konjunktive, Partizipien, Gerundien und so weiter, die für uns so schwer zu erlernen sind. Auch die Erlernung der Aussprache würde euch keine Zeit kosten, da es nichts auszusprechen gibt. Die Sprache, die die Indianer sprechen konnten, war keine Sprache der Laute, sondern eine Sprache der Zeichen. Ein Wörterbuch dieser Sprache sieht etwa so aus:
Der Bogen – die eine Hand hält den unsichtbaren Bogen, die andere spannt die unsichtbare Sehne.
Der Wigwam – ein Dach, durch die gekreuzten Finger der Hände nachgebildet.
Der Wolf – eine Hand mit zwei nach vorn gestreckten Fingern, die wie zwei Ohren aussehen.
Wolken – zwei Fäuste über dem Kopf, um die hängenden Wolken nachzubilden … und kennt das Wörterbuch unserer noch nicht sprechenden Vorfahren eine ganze Reihe anderer Begriffe und Zusammenhänge – Wortbilder. Auch wir benutzen im heutigen Alltag noch die längst vergangene Sprache der Zeichen und Signale: Statt „Ja“ nicken wir oftmals nur mit dem Kopf, bei „Nein“ schütteln wir ihn – in manchen Gegenden ist es umgekehrt. Wenn wir „Guten Tag“ sagen, verbeugen wir uns manchmal, wir zucken mit den Achseln, ziehen die Augenbrauen in die Höhe, schlagen die Hände zusammen, greifen uns an den Kopf und so weiter.
Wie aber ging es weiter, wie erwarb sich der Urmensch den Verstand und wie lernte er sprechen?
In der Welt wimmelt es von Signalen: Jedes Geräusch, jeder Geruch, jede Spur im Gras, jedes Schreien oder Pfeifen oder donnernde Dröhnen bedeutet irgendetwas und erfordert irgendetwas. Auch der Urmensch lauschte auf diese Signale, die ihm aus der Umwelt zugesandt wurden. Aber außer diesen Signalen lernte er bald auch die anderen Signale verstehen, die von den Leuten seiner Horde kamen.
Der Jäger hat irgendwo im Wald die Spur eines Hirsches gefunden. Mit einer Bewegung seiner Hand signalisiert er dies den anderen Jägern, die ihm folgen. Sie sehen das Tier zwar noch nicht, aber das Signal hat sie veranlasst, auf der Hut zu sein und die Waffe fester in die Hand zu nehmen, als hätten sie schon selbst das gablige Geweih und die gespitzten Ohren der Hirsche vor sich.
Die Fußspur auf dem Boden – das ist ein Signal. Die Bewegung der Hand, die von der gefundenen Spur kündet – das ist ein Signal eines Signals. Jedes Mal, wenn einer der Jäger eine Spur auf der Erde sieht oder das Geräusch des schleichenden Tieres hört, gibt er den übrigen Mitgliedern der Horde ein Signal dieses Signals. So folgt den Signalen, die die Natur dem Menschen gibt, die Sprache – „Signal der Signale“-, die der Mensch der Horde zusendet. Sprachforscher bezeichnen die menschliche Sprache als das „Signal der Signale“.
Zunächst gab es nur Gesten und Rufe. Von Augen und Ohren aufgenommen, gelangten sie ins Hirn des Menschen wie in eine Telefonzentrale. Das „Signal eines Signals“: „Ein Tier nähert sich“, gelangt zum Hirn; das Hirn gibt den Händen den Befehl, den Jagdspieß fester zu packen, mit den Augen eindringlich das Laub zu mustern und mit den Ohren genau auf knarrende und knackende Geräusche zu lauschen. Noch war das Tier nicht zu sehen oder zu hören, aber der Mensch war schon vorbereitet, ihm zu begegnen.
Je mehr Gesten es gab, umso häufiger gelangten „Signale von Signalen“ ins Gehirn, umso mehr Arbeit bekam die „Zentrale“, die hinter der Stirn des Menschen liegt. Dadurch musste sich die Zentrale immer mehr ausbreiten. Im Gehirn bildeten sich neue Zellen, und die Verbindungen der Zellen untereinander wurden immer verwickelter. Das Hirn wuchs und nahm an Umfang zu.
Der Schädel des Neandertalers hat einen um vierhundert bis fünfhundert Kubikzentimeter größeren Rauminhalt als der des Pithekanthropus. Das Hirn des Menschen entwickelte sich kontinuierlich über die Jahrtausende weiter. Der Mensch lernte denken. Wenn er das Signal, das „Sonne“ bedeutete, hörte oder sah, so dachte er an die Sonne, selbst wenn es zu dieser Zeit tiefe Nacht war. Wenn man ihm zeigte, dass er gehen und einen Speer bringen sollte, so kam ihm der Speer in den Sinn, obwohl keiner zur Hand war. Die gemeinschaftliche Arbeit lehrte den Menschen sprechen. Und indem er sprechen lernte, lernte er denken. Ein wechselseitiger Prozess. Der Mensch hat seinen Verstand nicht von der Natur als Geschenk erhalten. Er hat ihn sich mit seinen eigenen Händen mühsam erworben.
Nun wollen wir im Zeitraffer darstellen, wie Sprache und Hand ihre Rollen vertauschten. Als es noch nicht viele Werkzeuge gab, als die Erfahrung des Menschen noch nicht groß war, genügten zur Übermittlung der Erfahrungen die einfachsten Gesten. Je komplizierter die Arbeit wurde, umso komplizierter wurden die Gesten. Für jede Sache bedurfte es einer eigenen Geste, die die Sache genau darstellte. So entstand die Bild-Geste. Der Mensch zeichnet das Tier, die Waffe, den Baum in die Luft – alles recht kompliziert und doch äußerst primitiv. Die Sprache der Gesten war zugleich arm und reich. Sie war reich, weil sie die Dinge und Ereignisse lebhaft und eindringlich darstellte. Zugleich aber war sie arm. Mit einer Geste konnte man wohl das linke oder rechte Auge darstellen, aber einfach „Auge“ zu sagen war unmöglich.
Mit einer Geste kann man ein bestimmtes Ding bezeichnen, aber man vermag keinen abstrakten Begriff damit auszudrücken. Auch noch andere Nachteile hatte die Gestensprache: Man kann sich in der Nacht nicht verständigen. Nicht einmal bei grellem Sonnenschein kann man sich immer mit Gesten verständigen. Auch im Wald, wenn zwischen den Jägern Bäume stehen, ist eine Unterhaltung per Geste unmöglich. Hier wurde es für den Menschen notwendig, sich in Lauten auszudrücken.
Angangs gehorchten ihm Zunge und Kehle noch schlecht. Nur schwer war ein Laut vom anderen zu unterscheiden. Die einzelnen Laute flossen in ein Gebrüll, Gekrächze, Geschrei, Gekreisch zusammen. Viel Zeit verging, ehe der Mensch seine eigene Zunge beherrschte und sie zwingen konnte, deutlich zu sprechen. Zunächst half die Zunge nur den Händen. Aber je klarer und deutlicher sie sprechen lernte, umso öfter übernahm sie die Rolle der ersten Geige im Orchester. Die Lautsprache, die anfänglich nur eine bescheidene Helferin der Händesprache war, trat an den ersten Platz.
Die Bewegungen der Zunge im Mund waren wohl von allen Gesten am wenigsten sichtbar. Aber sie hatten den Vorteil, dass man sie hören konnte. Am Anfang war die Lautsprache der Sprache der Gesten sehr ähnlich. Sie war ebenso bildhaft, ebenso ausdrucksvoll. Und sie vermochte jedes Ding, jede Bewegung lebendig darzustellen. In der Sprache des Stammes Ewe sagt man nicht einfach „Gehen“, sondern: „so dze dze“ – mit sicherem Schritt gehen; „so bocho bocho“ – schwer auftretend gehen, wie dicke Leute; „so bula bula“ – schnell, Hals über Kopf gehend, den Weg nicht beachtend; „so pia pia“ – trippelnd gehen; „so gowu gowu“ – leicht hinkend gehen, mit nach vorn gebeugtem Kopf.
Jedes dieser Ausdrücke ist ein Lautbild, das die betreffende Gangart in den kleinsten Einzelheiten genau darstellt. Es sind ebenso viele Ausdrücke vorhanden, wie es verschiedene Gangarten gibt. Das Bild der Geste ist durch ein Wortbild ersetzt worden. So lernte der Mensch sprechen – zunächst mit Gesten und dann mit Worten.
Was haben wir bei unserer bisherigen Reise in die Vergangenheit entdeckt?
Wie der Reisende, der stromaufwärts dem Fluss folgt, so sind auch wir zu jenem kleinen Bächlein gelangt, von dem der breite Fluss menschlicher Erfahrung seinen Anfang nahm. Dort, am Oberlauf, haben wir den Beginn der menschlichen Gesellschaft, den Beginn der Sprache und den Beginn des Denkens gefunden. So wie der Fluss wasserreicher wird mit jedem Nebenfluss, der in ihn mündet, wird auch der Fluss der menschlichen Erfahrung immer breiter und tiefer, indem jede Generation die von ihm gesammelte Erfahrung weiterträgt.
Generationen – eine nach der anderen – versanken in der Vergangenheit. Hätten sie keine Spuren hinterlassen, so wären Menschen und Stämme verschwunden, Städte und Dörfer in Staub zerfallen, ohne eine Erinnerung zu hinterlassen. Es scheint, als gäbe es nichts, das vor der zerstörenden Kraft der Zeit standhalten könnte.
Nur die Erfahrung der Menschheit ist nicht verschwunden. Sie besiegte die Zeit, sie blieb am Leben, in der Sprache, im Handwerk, in der Wissenschaft. Jedes Wort der Sprache, jede Bewegung bei der Arbeit, jeder Gedanke der Wissenschaft ist gesammelte, vereinigte Erfahrung der Generationen. Keine Arbeit ist umsonst, ist verloren gegangen, so wie kein Nebenfluss im Strom verloren geht. Im Fluss der menschlichen Erfahrung ist die Arbeit des Menschen, die irgendwann früher lebten, mit der Arbeit der Menschen, die heute leben, zu einem Ganzen zusammengeflossen.
So sind wir zum Oberlauf des Flusses gekommen, an den Anfang all unserer Unternehmungen. Hier entstand der Mensch – jenes Wesen, das arbeitet, spricht und denkt. Wenn wir auf die Jahrtausende zurückblicken, die den Menschen vom Affen trennen, so erinnern wir uns der klugen Worte jener großen Philosophen, die bereits neun Generationen vor uns feststellten, dass die Arbeit den Menschen geschaffen hat.
In der folgenden Vorlesung machen wir einen großen Zeitsprung. Wir versuchen nachzuvollziehen, wie unsere Vorfahren die Welt, die Gestirne und Naturgewalten zu verstehen lernten. Wir wohnen der Erfindung zweier neuer Berufszweige bei und lernen die Neueinsteiger näher kennen: den Häuptling und den Medizinmann. Wir erleben, wie der damalige Mensch die Unbegreiflichkeiten seiner Umwelt mit Mystik mühsam zu erklären versucht. Wir erleben, wie er medizinische Heilung und Heilung seiner dramatischen Lebensängste in einer Form sucht, die wir bald schon als „Religion“ bezeichnen können. Wir erleben, wie sich die Religion viertausend Jahre vor unserer Zeit als notwendige erste „Wissenschaft“ etabliert, wie fester Glaube, wie Ziel und Plan, wie unsicheres Glaubenswissen sich mit astronomischem Wissen durch exakte Beobachtung ergänzen – und endlich werden wir verstehen, weshalb eine Jahrtausende lang geübte und von über 200 Menschengenerationen übertragene und verfestigte Glaubenstradition trotz aller neuester Wissenschaftserkenntnisse noch existieren kann.
In den darauf folgenden Vorlesungen untersuchen wir Funktion und Stellenwert der Religion in den Gesellschaften des Altertums und wie die ansehnlichen (und sichtbaren) Naturgottheiten allmählich zu abstrakten Göttern mit bloßen Oberbegriffen werden. Wir untersuchen den ökonomischen Stellenwert der Religion in den zurück liegenden Jahrtausenden und werden wahrscheinlich erkennen müssen, dass sie am gesellschaftlichen Fortschritt in einem widersprüchlichen Entwicklungsprozess ebenso notwendig war wie die Sklaverei notwendig war, um die Produktivkräfte zu bündeln und vorwärts zu treiben. Und dann gibt es natürlich Wendepunkte, wo Sklaverei und Irrglaube der menschlichen Gesellschaft keinen Fortschritt mehr bringen und hinderlich werden.