Читать книгу Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig - Страница 6

Vorlesung 3

Оглавление

Bisher beschäftigten wir uns mit der Umwelt und den Vorfahren und Seitenlinien des Urmenschen, mit den Schimpansen, Gorillas und anderen Affen. Wir verfolgten ihre Lebenswege bis zu dem Zeitpunkt vor 5 Millionen Jahren, als sich die Wege des Menschen und seiner verschiedenen Verwandten trennten. Die Haupt­trennlinie war folgende: Durch den Rückzug des Waldes nach Süden waren jene Affen, die ausschließlich auf den Bäumen wohnten und Hände und Füße gleichermaßen zum Laufen und Pflücken nutzten, gezwungen dem Umzug des Waldes zu folgen, während jene Wesen, die bereits durch die Freigabe ihrer Hände das Laufen und Benutzen von Hilfswerkzeugen gelernt hatten, in der Lage waren, auch auf dem Boden, in der Steppe, ihr Auskommen und ihren Schutz zu finden. Ich sage „gelernt hatten“ und meine: „lernen mussten“ und nicht „lernen konnten“, denn selbst dies, die Freigabe der Hand durch die Unabhängigkeit des Fußes, war durchaus kein freiwilliger Akt, sondern ein durch die Umstände bedingter Zwang.

Heute und in der Folgevorlesung wollen wir erkunden, wie die Urmenschen lebten, wie sie wohnten und arbeiteten, wie sie den Gebrauch des Feuers und damit hochwertigere Proteine entdeckten, wie sich dadurch und durch die aufrechte Haltung und durch den Blick in die Ferne und durch das Fertigen immer komplizierterer Werkzeuge in Hunderttausenden von Jahren ihr Gehirn weiterentwickelte. Im später folgenden Vorlesungen geht es sodann um die Fragen, die uns immer näher und näher an unser Thema heranführen: Wie sich der Mensch als Produzent selbst entdeckte. Wie er sich des Unterschieds zu den anderen Lebewesen bewusst wurde. Wie er die Zeit entdeckte und wie er die planetarischen Weltuhren, Sonne und Mond, als lebenswichtige „Lebewesen“ empfand und sie verehrte. Wie er seine Lebensmittel bewusst entdeckte, wie er sie anzubauen, zu schätzen und zu ehren wusste und wie er diesen Lebensmitteln erste Opfergaben darbrachte. Noch kennt er keine Götter, noch reicht weder seine Phantasie noch sein Wissen so weit, dass er „andere Lebewesen“ hinter allem vermutet. Aber dann lernt er nachbarschaftliche Verwandtenstämme kennen und beginnt zu ahnen, dass seine Welt aus mehr als nur ihm und dem Ort seiner Geburt besteht. Nun stehen unsere Vorfahren kurz vor der Geburt Gottes.

Der Mensch lernte nicht plötzlich auf zwei Füßen zu gehen. In der ersten Zeit ging er wahrscheinlich nur zeitweilig und unbeholfen aufrecht. Wie hat der Mensch – oder richtiger: der Affenmensch – damals ausgesehen? Lebend ist der Affenmensch nirgends erhalten geblieben. Aber sind nicht wenigstens seine Knochen erhalten?

Wenn man diese Knochen nur finden würde, fragten sich bereits vor rund 160 Jahren die Zoologen, die Biologen, Archäologen und Philosophen, dann könnte man endgültig beweisen, dass der Mensch vom Affen abstammt. Der Affenmensch ist der urälteste Mensch, das Verbindungsglied in jener Kette, die vom Affen zum heutigen Menschen führt. Und dieses Glied soll spurlos in Lehm und Sand, in den Ablagerungen der Flüsse verloren gegangen sein?

Die Archäologen verstehen sich darauf, in der Erde herumzuwühlen. Aber bevor man zu graben anfängt, muss man wissen, wo man graben soll, wo dieses verschwundene Kettenglied zu suchen ist. Es ist wohl noch schwieriger, die Knochen des Urmenschen in der Erde als eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat der Naturforscher Ernst Haeckel erstmals die Vermutung ausgesprochen, dass die Knochen des Affenmenschen – oder, in der Sprache der Wissenschaft: des Pithekanthropus – wahrscheinlich in Südasien zu finden wären. Und er bezeichnete auch die Gegend, in der nach seiner Meinung die Knochen des Pithekanthropus erhalten sein könnten: die Malaiischen Inseln.

Haeckels Gedanke schien vielen zu schwach begründet. Aber es fand sich doch einer, der so fest daran glaubte, dass er alles stehen und liegen ließ und beschloss, nach dem Malaiischen Archipel zu reisen, um den dort vermuteten Pithekanthropus zu suchen. Das war Dr. Eugen Dubois, der bis dahin Vorlesungen über Anatomie an der Amsterdamer Universität gehalten hatte. Viele seiner Arbeitskollegen und die Professoren der Universität schüttelten die Köpfe: Ein Mensch mit normalen geistigen Fähigkeiten dürfe doch nicht so leichtfertig sein. Es waren eben würdevolle Leute, und die einzige Reise, die sie dazumal zu machen pflegten, war der tägliche Weg durch die ruhigen Amsterdamer Straßen mit dem Regenschirm in der Hand von Zuhause in die Universität und zurück.

Um seinen kühnen Gedanken zu verwirklichen, verließ Dubois die Universität, trat als Militärarzt in den Dienst der holländischen Kolonialtruppen und fuhr von Amsterdam ans „Ende der Welt“ – nach der Insel Sumatra. Sobald er dort angekommen war, machte er sich auf die Suche. Ganze Berge wurden nach seinen Anweisungen umgegraben und durchwühlt. Es verging ein Monat, ein zweiter, ein dritter, aber die Knochen des Pithekanthropus waren nicht zu finden.

Wenn ein Mensch sucht, was er verloren hat, so weiß er wenigstens, dass der verlorene Gegenstand irgendwo ist und dass man ihn bei genügend eifrigem Suchen finden kann. Dubois aber war wesentlich schlechter dran: Er konnte ja nicht mit Sicherheit behaupten, sondern nahm nur an, dass die Knochen des Pithekanthropus existierten. Dennoch setzte er seine Suche mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit fort. Es vergingen ein, zwei, drei Jahre, aber das verschwundene Zwischenglied war noch immer nicht gefunden. Jeder andere hätte die vergebliche Suche längst aufgegeben. Dubois plagten zwischenzeitlich Zweifel. Aber er gehörte nicht zu den Menschen, die sich von einmal gefassten Entschlüssen so leicht abbringen lassen.

Da Dubois den Pithekanthropus in Sumatra nicht fand, beschloss er, sein Glück auf einer anderen Insel des Malaiischen Archipels zu versuchen – auf Java.

Und hier hatte er endlich Glück.

Unweit des Dorfes Trinil fand er eine Schädeldecke, den Rest eines Unterkiefers, einige Zähne und einen Schenkelknochen des Pithekanthropus. Später wurden noch einige Fragmente von Schenkelknochen gefunden. Dubois versuchte, das Gesicht seines Ahnen zu rekonstruieren und man erkannte eine niedrige, nach hinten fliehende Stirn, dicke Augenbrauenbögen, unter denen die Augen geschützt lagen. Dieses Gesicht ähnelte eher dem eines Affen als dem eines Menschen – aber es war eben auch kein „reines“ Affengesicht mehr. Die nähere Untersuchung der Schädeldecke überzeugte ihn davon, dass der Pithekanthropus klüger gewesen sein musste als ein Affe: sein Gehirn war wesentlich größer als das Gehirn der dem Menschen am nächsten stehenden Affen.

Ein Schädeldach, Zähne, einige Knochentrümmer – das ist nicht viel. Und doch gelang es Dubois, aus diesen Bruchstücken vieles zu rekonstruieren – und er wurde später durch weitere Funde, durch andere Expeditionen und Forscher in allem bestätigt. Die heutige DNA-/RNA-Forschung bestätigt all diese „Hardware“-Funde. Als Dubois den Schenkel und die kaum sichtbaren Ansatzstellen der Muskeln und Sehnen untersuchte, kam er zu dem Schluss, dass der Pithekanthropus zur Not auf zwei Beinen zu gehen vermochte. Das ist schon kein Affe mehr, aber auch noch kein richtiger Mensch. Dubois beschloss, seinem Findling einen Namen zu geben und taufte ihn: „Pithekanthropus erectus“, der Aufrechte. Im Vergleich mit den Affen ging er tatsächlich – wie sich im Fortgang der Funde bestätigte – aufrecht.

Das Ziel schien erreicht. Pithekanthropus war gefunden. Aber nun begannen gegen Ende des 19. Jahrhunderts für Dubois erst die schwierigsten Tage und Jahre. Es ist leichter, sich durch eine zähe Lehmschicht hindurch zu graben, als die Zähigkeit menschlichen Aberglaubens und menschlicher Vorurteile mit Jahrtausende alter Prägungs- und Glaubenstradition zu durchdringen. Alle jene, die nicht anerkennen wollten, dass der Mensch vom Affen abstammt, begegneten Dubois‘ Entdeckung mit zahlreichen Einwänden. Archäologen in Priesterröcken suchten zu beweisen, dass der Schädel, den Dubois gefunden hatte, dem Gibbon-Affen gehöre und dass der Schenkel der eines gewöhnlichen Menschen sei. So verwandelten Dubois‘ Gegner den Affenmenschen in die arithmetische Summe eines Affen und eines Menschen, und selbst dabei ließen sie es nicht bewenden. Sie zogen das Alter des Fundes in Zweifel und behaupteten, die von Dubois gefundenen Knochen hätten nicht viele hunderttausend, sondern nur wenige Jahre in der Erde gelegen. Mit einem Wort, man tat alles, um den Pithekanthropus aufs Neue zu begraben, ihn wieder in die Erde einzuscharren und der Vergessenheit anheimfallen zu lassen.

Dubois verteidigte sich tapfer. Diejenigen, denen die Bedeutung seiner Entdeckung für die Wissenschaft einleuchtete, unterstützten ihn. Er antwortete seinen Gegnern, dass der Pithekanthropus-Schädel keineswegs dem Gibbon gehören könne: der Gibbon besitzt keine Stirnhöhlen. Beim Pithekanthropus aber sind sie vorhanden.

Die Jahre vergingen, und die Echtheit des Pithekanthropus wurde noch immer bezweifelt. Da fanden die Naturwissenschaftler plötzlich einen neuen Affenmenschen, ganz ähnlich dem Pithekanthropus. 1912 ging ein Naturforscher durch die Straßen Pekings; er trat in eine Apotheke, um die chinesischen Arzneien kennen zu lernen. Da lagen auf dem Ladentisch sehr sonderbare Sachen: eine Heilwurzel, ganz ähnlich einer menschlichen Figur, die Zähne verschiedener Tiere und allerlei Knochen und Amulette. Unter den Knochen fand der Gelehrte einen Zahn, der keinem Tier gehören konnte, sich aber gleichzeitig von den Zähnen des heutigen Menschen unterschied.

Der Mann kaufte den Zahn und sandte ihn einem europäischen Museum. Dort trug man diesen Fund in den Katalog ein, unter der sehr vorsichtigen Bezeichnung: „Chinesischer Zahn.“

Wieder waren mehr als zwanzig Jahre vergangen, als man in einer Höhle in der Nähe von Peking zwei weitere Zähne fand und schließlich auch ihren Besitzer, den die Naturwissenschaft Sinanthropus nannte. Man fand ihn nicht in einem Stück, sondern als einen Haufen verschiedenartigster Knochen. Hier einige Dutzend Zähne, drei komplette Schädel, elf Kiefer, das Stück eines Schenkels, dort ein Wirbel, ein Schlüsselbein, ein Handgelenk, das Stück eines Fußes.

Das bedeutet natürlich nicht, dass der Bewohner jener Höhle drei Köpfe und nur einen Fuß besaß.

In der Höhle lebte vielmehr nicht nur ein einzelner Sinanthropus, sondern eine ganze Horde. In weit über einhunderttausend Jahren gingen viele Knochen verloren, wurden von wilden Tieren verschleppt. Aber auch die restlichen Knochen genügten, um sich ein Bild vom Aussehen des Bewohners zu machen: Gib den Naturwissenschaftlern einen Finger, sie machen daraus den ganzen Menschen.

Wie sah unser Held in jener längst vergangenen Epoche seines Lebens aus? Jedenfalls war er nach heutigen Maßstäben keine Schönheit (schon gar, wenn wir Heidi Klum zu Rate ziehen). Wäret ihr ihm begegnet, ihr wärt vor Entsetzen zurückgewichen, so sehr glich dieser Mensch einem Affen, vornübergebeugt, mit wildem Gesicht und herabhängenden zottigen Armen. Aber wenn ihr ihn auch im ersten Augenblick für einen Affen gehalten hättet, wärt ihr euch bald über euren Irrtum klar geworden: Der Affe hat keinen solchen aufrechten, menschlichen Gang, kein so menschenähnliches Gesicht.

Endgültig schwinden alle Zweifel, wenn man dem Sinanthropus zu seiner Höhle folgt: Da humpelt er plump auf seinen krummen Beinen am Rand eines Flusses entlang. Plötzlich setzt er sich auf den Sand. Ein großer Stein hat seine Aufmerksamkeit erregt. Er hebt ihn auf, betrachtet ihn, schlägt mit ihm gegen einen anderen Stein. Dann steht er auf und nimmt seinen Fund mit sich. Wir folgen ihm und klettern auf das steile Ufer. Da, beim Eingang zur Höhle, sind alle Bewohner versammelt. Sie drängen sich um einen bärtigen, zottigen Alten, der mit einem steinernen Werkzeug eine Antilope ausweidet. Einige Frauen neben ihm zerreißen das Fleisch mit den Händen, Kinder erbetteln davon ein paar Stücke. Und der Schein eines Lagerfeuers, das im Hintergrund der Höhle brennt, beleuchtet die ganze Szene.

Nun muss jeder Zweifel schwinden: Könnte ein Affe ein Feuer entzünden und ein steinernes Werkzeug gebrauchen?

Aber der Vorlesungsteilnehmer hat ein Recht zu fragen, woher man denn weiß, dass der Sinanthropus den Gebrauch der Werkzeuge und des Feuers kannte. Darüber gibt uns die Höhle Auskunft. Bei den Ausgrabungen fand man nicht nur Knochen, sondern auch vieles andere: eine dicke Schicht Asche, vermischt mit Erde, und einen Haufen grober, steinerner Werkzeuge. Mehr als zweitausend Werkzeuge waren da, und die Aschenschicht war sieben Meter dick.

Man sieht, dass die Sinanthropus-Herde lange Zeit in der Höhle lebte und dass sie das Feuer während vieler Jahre – vielleicht sogar Generationen übergreifend während vieler Jahrzehnte – unterhalten haben musste. Offenbar war der Sinanthropus noch nicht imstande, selbst Feuer zu machen, sondern er sammelte es, genauso, wie er Wurzeln zum Essen und Steine für seine Werkzeuge sammelte. Irgendwo bei einem Waldbrand konnte er das Feuer finden. Der Sinanthropus nahm einen glimmenden Ast und trug ihn behutsam nach Hause. Und hier, in der Höhle, geschützt vor Regen und Wind, bewahrte und hütete er das Feuer als größte Kostbarkeit.

Unser Protagonist nahm den Stein oder den Stock in die Hand. Dadurch wurde er mit einem Mal kräftiger und unabhängiger. Nun war es nicht mehr so wichtig, dass er sich in der unmittelbaren Nähe eines Obst- oder eines Nussbaumes aufhielt. Er entfernte sich auf der Nahrungssuche von seinen heimatlichen Plätzen, suchte immer neue Umgebungen auf, verweilte in waldlosen Gebieten und kostete alles Mögliche, um dabei vielleicht etwas Genießbares und Schmackhaftes zu finden.

So verletzt der Mensch am Beginn seines abenteuerlichen Daseins alle Regeln, die sonst in der Natur gelten. Er verletzt die Regeln seines ursprünglichen „Paradieses“ … ein Paradies, das ihn bis dahin – wie alle Tiere – in unsichtbaren Fesseln gefangen gehalten hatte. Der Waldbewohner steigt von den Bäumen und fängt an, auf der Erde zu laufen. Außerdem hebt er sich auf die Hinterbeine und beginnt zu gehen. Sogar mit der Nahrung, die ihm bislang zustand, begnügte er sich nicht, er verschafft sich neues Essen auf völlig neue Weise.

In der Natur sind alle Pflanzen und Tiere durch „Ketten der Ernährung“ miteinander verbunden. Die Eichhörnchen im Wald fressen Tannensamen und werden selbst von Mardern gefressen. Es ergibt sich eine Kette: Tannensamen, Eichhörnchen, Marder. Außer Tannensamen frisst das Eichhörnchen aber noch manches andere, zum Beispiel Pilze und Nüsse. Und außer vom Marder wird es auch von anderen Raubtieren, zum Beispiel vom Habicht, gefressen. Das ergibt eine zweite Kette: Pilze/Nüsse, Eichhörnchen, Habicht. Durch solche Ketten sind alle Lebewesen miteinander verbunden.

Auch unser Held war bisher Glied einer solchen Kette: Er aß Früchte und wurde selbst vom Tiger gefressen.

Nun beginnt er diese Kette plötzlich zu zerreißen. Er isst Dinge, die er bisher nicht gegessen hat, und weigert sich, weiterhin die Nahrung des Säbeltigers Machairod zu sein, wie es seine Vorfahren Hundertausende von Jahren gewesen sind. Woher nahm er den Mut dazu? Wie konnte er sich entschließen, vom Baum auf die Erde zu steigen, wo ihm die scharfen Zähne der Raubtiere drohten? Das war doch für ihn das Gleiche, wie wenn eine Katze vom Baum herabklettert, während sie unten ein scharfer Hund erwartet.

Diesen Mut bekam der Mensch durch seine Hand. Der gleiche Stein oder Stock, der zur Beschaffung der Nahrung diente, eignete sich auch zur Verteidigung. Das erste Werkzeug des Menschen war auch seine erste Waffe. Außerdem streifte der Mensch nie einzeln durch die Wälder. Die Raubtiere stießen auf den Widerstand der ganzen – jetzt bewaffneten – Horde.

Wenn die Katze nicht allein auf dem Baum säße und sich mit einem Stock bewaffnen könnte, würde sie sich wahrscheinlich auch nicht ängstigen, sondern vom Baum herabsteigen und selbst den wütenden Hund verjagen. Und schließlich darf das Feuer nicht vergessen werden, mit dessen Hilfe der Mensch die wildesten Tiere erschrecken und verscheuchen konnte. Vom Baum auf die Erde, aus dem Wald in die Flusstäler richtete sich der Weg des Menschen, nachdem es ihm gelungen war, seine Ketten zu sprengen.

Woher wissen wir, dass der Weg des Menschen in die Flusstäler führte? Seine Spuren weisen dorthin. Aber wie konnten sich denn die Spuren des Menschen bis auf unsere Zeit erhalten?

Wir sprechen nicht von gewöhnlichen Spuren, von Fußspuren, sondern von den Spuren, die seine Hände hinterlassen haben. Vor ungefähr hundertsechzig Jahren arbeiteten in Frankreich, im Tal der Somme, Erdarbeiter. Sie gewannen dort aus den Flussanschwemmungen Sand, Kies und Steine. Vor langer, langer Zeit, als die Somme noch jung war und sich ihren Weg bahnte, war sie so schnell und stark, dass sie große Steine mit sich tragen konnte. Im Bett des Flusses schlug Stein an Stein, alle Unebenheiten der Felstrümmer wurden abgeschliffen, und es entstanden glatte, runde Kiesel. Später, als sich der Fluss beruhigte, blieben die Kieselsteine im Sand und Lehm liegen.

Aus diesen Lehm- und Sandbänken gruben die Spaten der Erdarbeiter die schönen, gleichmäßigen Kiesel aus. Aber sonderbar: manche Steine waren gar nicht eben und glatt, sondern im Gegenteil ungleichmäßig, so als ob sie von beiden Seiten zurechtgeschlagen wären. Wer konnte ihnen diese Form gegeben haben? Sicherlich nicht der Fluss, der die Steine schleift. Diese merkwürdigen Steine kamen Herrn Boucher de Perthes zu Gesicht.

Boucher de Perthes war ein Gelehrter, der in der Nähe des Fundortes wohnte. Er besaß eine reiche Sammlung verschiedener Funde, die er in der Erde am Ufer der Somme aufgelesen hatte. Da waren Eckzähne des Mammuts, Hörner des Nashorns und Schädel des Höhlenbären. Boucher de Perthes sammelte und studierte liebevoll die Überreste jener Ungeheuer, die irgendwann einmal zur Tränke an die Somme gekommen waren, ebenso häufig wie heute die Pferde und Schafe der Bauern. Aber wo war der Urmensch selbst? Von ihm konnte Boucher de Perthes keinerlei Knochen finden.

Und nun sah er plötzlich die sonderbaren Steine, die man im Sande gefunden hatte. Wer hatte sie so an beiden Seiten zugeschärft? Boucher de Perthes war sich sofort im Klaren: das konnte nur der Mensch gewesen sein. Mit ungeheurer Aufregung betrachtete er seinen Fund. Natürlich, das waren nicht Überreste des Urmenschen selbst. Aber es waren seine Spuren – Spuren seiner Arbeit. Hier hatte nicht der Fluss gearbeitet, sondern die Hand.

Über seine Entdeckung schrieb Boucher de Perthes ein Buch, das er kühn benannte: „Von der Schöpfung – ein Werk über die Entwicklung und Entstehung der Lebewesen“.

Da begann der Kampf. Von allen Seiten wurde Boucher de Perthes angegriffen, ebenso wie Dubois. Die angesehensten Archäologen suchten zu beweisen, dass dieser Provinzamateur nichts von der Wissenschaft verstehe, dass man seine steinernen „Äxte“ als Fälschungen ansehen müsste, dass sein Buch zu verurteilen sei, da es einen Anschlag auf die Lehre der Kirche von der Schöpfung des Menschen darstelle. Volle fünfzehn Jahre dauerte der Krieg zwischen Boucher de Perthes und seinen Gegnern. Er wurde grau und alt, aber er kämpfte hartnäckig und bewies das hohe Alter des Menschengeschlechts. (Wir wissen inzwischen dank fortgeschrittenster Technik und Untersuchungsmethoden sehr genau die Entwicklungsschritte der Natur, von Pflanzen, Tieren und von uns Menschen, während Boucher de Perthes noch etwas im Ungewissen herumstochern musste.)

Es war damals ein ungleicher Kampf, und doch siegte Boucher de Perthes. Zur rechten Zeit kamen ihm die Geologen Lyell und Prestwich zu Hilfe. Sie reisten ins Sommetal, prüften die Fundorte, studierten Perthes‘ Sammlungen sorgfältig und erklärten die von ihm gefundenen Werkzeuge nachweislich für Werkzeuge des Urmenschen, der in Frankreich gelebt hatte, als es dort noch Elefanten und Nashörner gab. Das Buch von Lyell „Geologische Beweise für das Alter des Menschen“ entzog allen Angriffen auf de Perthes den Boden.

Dafür erklärten seine Gegner jetzt, dass de Perthes eigentlich nichts Neues entdeckt habe, dass schon viel früher Werkzeuge des Urmenschen gefunden worden seien. Darauf antwortete Lyell treffend: „Jedes Mal, wenn die Wissenschaft etwas Wichtiges entdeckt, sagt man zunächst, dass es der Religion widerspreche, um dann zu erklären, dass es allen längst bekannt sei.“

Solche steinernen Werkzeuge wurden nun, nachdem de Perthes ihre Natur erkannt hatte, allenthalben gefunden. Am häufigsten entdeckte man sie in Gruben an Flussufern, wo Steinschutt und Sand gewonnen wurde. So stoßen die Spaten und Bagger der heutigen Arbeiter in der Erde auf die Werkzeuge jener Zeiten, da die Menschen das Arbeiten überhaupt erst erfanden.

Die ältesten Werkzeuge sind Steine, die mit einem anderen Stein auf zwei Seiten zurechtgeschlagen wurden. Zusammen mit diesen Steinwerkzeugen haben sich die Späne und Splitter erhalten, die bei ihrer Herstellung entstanden. Diese Steinwerkzeuge, das sind die Spuren der Hände, Spuren, die zu den Flusstälern und Sandbänken führen. Hier, in den Flussanschwemmungen und auf den Sandbänken, suchte sich der Mensch das geeignete Material für seine künstlichen Krallen und Zähne. Das war schon eine echt menschliche Tätigkeit. Das Tier kann wohl Nahrung und Material zum Nestbau sammeln, es sucht aber nie das Material zur Bildung seiner Krallen und Zähne.

Wir alle haben von der Technik der Tiere gehört und gelesen oder sie selbst beobachtet. Wir kennen tierische Bauarbeiter, Zimmerleute, Weber; ja sogar Schneider gibt es unter den Tieren. Wir wissen zum Beispiel, dass die Biber mit ihren scharfen, kräftigen Schneidezähnen Bäume fällen, ebenso gut wie Holzfäller, und dass sie aus den Stämmen und Zweigen einen richtigen Deich bauen, der den Fluss aufhält, so dass er über die Ufer tritt.

Und fast jeder kennt doch die gewöhnlichen roten Waldameisen. Man braucht nur mit einem Stock im Ameisenhaufen zu scharren, um zu sehen, was das für ein geschickter, vielstöckiger Bau ist – ein richtiger Wolkenkratzer aus Tannennadeln. Es erhebt sich die Frage: Hätten die Ameisen oder die Biber nicht die Möglichkeit, es dem Menschen irgendwann einmal gleichzutun, wenn er nur nicht immer wieder ihre Arbeiten zerstören würde? Könnte es nicht sein, dass, sagen wir in Millionen Jahren, Ameisen ihre Ameisenzeitungen lesen, in Ameisenfabriken arbeiten gehen, in Ameisenflugzeugen fliegen und in ihrem TV die Sendung „Ameisen‘s next Topmodel“ von Heidi Ameiso-Klum sehen können?

Die Wissenschaft meint, dass es niemals dazu kommen wird. Denn zwischen Menschen und Ameisen besteht ein sehr wichtiger Unterschied. Worin besteht der Unterschied?

Etwa darin, dass der Mensch größer ist als die Ameise?

Nein.

Oder darin, dass die Ameise sechs Beine hat und der Mensch nur zwei?

Nein, wir sprechen von einem ganz anderen Unterschied.

Wie arbeitet der Mensch? Er arbeitet weder mit den bloßen Händen noch mit den Zähnen, sondern mit einer Axt, einem Spaten, einem Schraubendreher, einem Hammer – und inzwischen sogar mit Automaten, die dies alles in sich vereinen. In einem Ameisenhaufen dagegen könnt ihr suchen, soviel ihr wollt, ihr werdet keine Axt, keinen Schraubendreher, keinen Hammer, keinen Spaten und ganz gewiss auch keine computergesteuerte Drehbank finden. Wenn die Ameise etwas zu zerschneiden hat, gebraucht sie die lebendigen Scheren, mit denen ihr Kopf ausgerüstet ist. Wenn sie einen Gang zu graben hat, so gebraucht sie vier lebendige Spaten, die sie ständig mit sich rumzuschleppen hat (während unser Spaten im Gartenhäuschen auf seinen Einsatz wartet) – sie benutzt ihre vier Beine. Mit den zwei Vorderbeinen hebt sie die Erde aus, mit den beiden hinteren schleudert sie sie fort; die mittleren Beine dienen als Stütze.

Sogar lebende Gefäße gibt es bei den Ameisen. Eine Ameisensorte hat die Keller ihres Baus voller lebender Fässer. In einem dunklen, niedrigen Erdgewölbe hängen in dichten Reihen, unter der Decke, richtige Fässer. Sie sind unbeweglich. Da kommt eine Ameise in das Gewölbe gekrochen und trommelt mit ihren Fühlern gegen eines der Fässer: Das Fass wird lebendig und beginnt sich zu bewegen. Es zeigt sich, dass das Fass einen Kopf, eine Brust und Beine hat, dass es nichts anderes ist als das riesige, aufgeblasene Bäuchlein einer Ameise, die sich an den Querbalken der Decke anklammert. Sie öffnet die Kiefer, und aus ihrem Mund tritt ein Honigtröpfchen. Die Ameisenarbeiterin, die gekommen ist, um sich zu stärken, leckt dieses Tröpfchen ab und geht wieder an ihre Arbeit. Das Ameisenfass schläft im Kreise der übrigen Fässer wieder ein.

Eine buchstäblich „lebendige“ Technik hat die Ameise in Jahrmillionen entwickelt – aber sie verwendet eben keine künstlichen Werkzeuge und Geräte wie der Mensch, sondern natürliche, die sie ständig mit sich herumträgt.

Auch der Biber benutzt lebende Werkzeuge. Er fällt die Bäume nicht mit einer Axt, sondern mit seinen Zähnen. Ameise und Biber verfertigen sich also nicht ihre Werkzeuge, sie werden vielmehr mit einer kompletten Werkzeugausrüstung geboren – wie alle anderen Tiere, wie unsere engen Verwandten, die Schimpansen und die anderen Affenarten. Wie auch wir einmal geboren worden waren.

Auf den ersten Blick erscheint es gewiss bequem: Ein lebendes Werkzeug kann man nicht verlieren. Aber wenn man überlegt, wird jedem klar, dass ein solches Instrument unvorteilhaft ist. Man kann es nicht verbessern, austauschen oder umändern. Der Biber kann seine Schneidezähne nicht zur Reparatur bringen, wenn sie vom Alter stumpf geworden sind. Und er kann die Werkstatt seiner Nachkommen auch nicht erweitern, indem er seine „Lebend-Werkzeuge“ weiter vererbt. Jeder Nachkomme kommt immer wieder mit den gleichen „Lebend-Werkzeugen“ zur Welt. Und die Ameise kann sich in keiner Werkstatt ein neues, vervollkommnetes Bein bestellen, um bequemer und schneller in der Erde zu graben.

Stellen wir uns vor, der Mensch hätte ebenso wie die anderen Tiere nur angeborene Werkzeuge, nicht solche aus Holz, Eisen und Stahl. Da könnte er weder ein neues Werkzeug erfinden noch das alte umändern. Um einen Spaten zu haben, müsste er mit einer spatenähnlichen Hand geboren werden. Das ist ein ganz grotesker Gedanke. Aber nehmen wir trotzdem an, dass solch eine Fehlgeburt zur Welt käme. Gewiss, sie würde einen ausgezeichneten Erdarbeiter abgeben. Aber dieses Wesen könnte seine Fertigkeiten niemals auf einen anderen übertragen, so wie niemand seine guten Augen einem anderen leihen kann. Seine Spatenhand müsste der Mensch immer bei sich tragen, und sie würde gewiss zu nichts anderem taugen als zum Graben. Und wenn das Ende seiner Tage käme, so wären auch die Tage des Spatens gezählt. Man müsste beide miteinander begraben.

Dieser geborene Erdarbeiter könnte den Spaten nur dann seiner Nachkommenschaft übergeben, wenn einer seiner Enkel oder Urenkel diese „Hand“ von ihm erben würde, so wie man die Haarfarbe oder die Form der Nase erbt. Das ist übrigens noch nicht alles. Ein lebendes Werkzeug kann sich nur dann bei einer Art erhalten, wenn es für das Tier nützlich und nicht schädlich ist. Wenn die Menschen wie Maulwürfe in der Erde lebten, dann brauchten sie wohl Spatenpfoten. Aber für ein Wesen der Erdoberfläche wäre solch eine Pfote ein überflüssiger Luxus. Um ein neues Werkzeug zu schaffen – ein lebendiges, natürliches, wohlverstanden –, wären Millionen Jahre währende übermäßige „Anstrengungen“ der Natur nötig.

Glücklicher- (oder zufälliger-)weise ist der Mensch einen anderen Weg gegangen. Er hat nicht gewartet, bis sich ihm ein Spaten an Stelle der Hand entwickelte. Er hat sich den Spaten selbst gemacht, und nicht nur Spaten, sondern auch Messer, Äxte und noch viele andere Werkzeuge bis hin zur Mikrochiptechnik. Den von seinen Vorfahren übernommenen zwanzig Fingern und Zehen und zweiunddreißig Zähnen hat der Mensch noch Tausende der verschiedenartigsten künstlichen Finger, Schneidezähne, Eckzähne, Krallen und Fäuste hinzugesellt – lange, dicke und dünne, scharfe und stumpfe, stechende, schneidende und schlagende. Und letztlich hat er mit der Computertechnik seine Gehirnarbeit erleichtert und erweitert.

Das ist es, was ihm jene Überlegenheit über die anderen Tiere gegeben hat, so dass sie mit ihm überhaupt nicht mehr konkurrieren können.

Hier beenden wir die dritte Vorlesung. Wir nähern uns etappenweise dem Ziel, um das Hauptthema nicht mit unnötigen Rückblicken zu belasten und die scheinbar wichtigsten Fragen endlich aufzuwerfen und in der Diskussion zu beantworten: Woher kam Gott? Wo war er vor dem Menschen? Wer hat ihm den Namen Gott verliehen? Und warum? Wir diskutieren die Zählebigkeit Jahrtausende lang gelebter Traditionen und psychosozialer Prägungen; wir diskutieren über die Entwicklung des Sprechens und Denkens, also über die Entwicklung des menschlichen Gehirns und betreten irgendwann im Laufe unserer Vorlesungen jene Epochen, in dem sich der (vorläufig) „voll entwickelte“ Mensch vor 4000 Jahren der Arithmetik, Philosophie, der Medizin und den Göttern zuwendet und irgendwann viel später das erste Geschichtsbuch namens Bibel geschrieben wird. Draußen vor der Tür unsrer vierten Vorlesung warten bereits ungeduldig die Ägypter, Griechen und Römer. Sie haben schon ihre Eintrittskarten – und drängeln trotzdem.

In der Vorlesung 4 versuchen wir, über die Entwicklungskette „Pithekanthropus-Sinanthropus-Heidel­berger Mensch“ die wichtigsten Etappen zu bezeichnen. Wir berichten über die Entdeckung der „Zeit“. Über das Nahen des Eises. Über den Untergang der Wälder – und wie der Mensch dem Chaos der Natur entkam: dank seiner Werkzeuge, dank jener Begriffe, die wir heute so selbstverständlich nutzen: Arbeit – Ziel – Plan.

Tag 1 - Als Gott entstand

Подняться наверх