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1) Ein Ausstellungsprojekt

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Stuttgart, Mai 1990

Der goldene Hirsch auf der Kuppel des Kunstgebäudes störte Bernd Köhnle nicht. Was für eine ironische Anspielung auf das röhrende Tier, das viele Wohnzimmerwände der Fünfzigerjahre geziert hatte! Dieser Teil des Kunstgebäudes hatte die Bombennächte des Jahres 1944 überlebt, ein kleines Wunder. Es schien fast, als hätten die alliierten Bomberpiloten vor Kulturgütern mehr Respekt zeigen wollen als vor Wohnungen und Betriebsstätten.

Der Bauunternehmer Köhnle trug heute eines seiner dezenteren Jacketts mit hellgrauem Karomuster. Es konnte seinen imposanten Bauch nicht verdecken. Die Abendsonne brachte die Stirnglatze unter den schütteren, ehemals blonden Haaren zum Glänzen. Er stand vor dem Galerieeingang und rauchte schon die vierte Zigarette. Vielleicht sollte er versuchen, den Nikotinkonsum etwas zu reduzieren. Er blickte über den Schlossplatz in Richtung Königsbau, in dem Lorenz Jakobi seine Galerie betrieb. Er fühlte sich weit entfernt von dem Dunst aus Sauerkraut und Staub, der ihm als Erinnerung an seine Kindheit geblieben war. Während des Ingenieurstudiums hatte er sich in einer der christlichen Partei nahestehenden Studentenverbindung hervorgetan. Die Wahl zum Vorsitzenden des Beirats der Galerie der Stadt Stuttgart war die Krönung seiner steilen Karriere. Die Landeshauptstadt wollte und konnte an dem geschäftlich erfolgreichen und kunstsinnigen Bauunternehmer nicht vorbei gehen. Er hatte mit seinen Spenden die Anschaffung einiger Werke von Otto Dix ermöglicht, unter anderem das Bild der Familie des Rechtsanwaltes Dr. Glaser, eine Ikone der Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit.

Das Dillmann-Gymnasium war 1960, dem Jahr von Köhnles Abitur, noch eine reine Knabenschule gewesen. Er und seine Klassenkameraden Lorenz Jakobi und Jochen Klinger hatten mit heißen Köpfen die Bildbände verschlungen, die der Kunstlehrer in einem Nebenraum aufbewahrte. Der exzentrische Blubach gehörte zum Freundeskreis des Galeriedirektors, der unmittelbar nach Kriegsende mit dem Aufbau der inzwischen einmaligen Stuttgarter Otto-Dix-Sammlung begonnen hatte. Als ihm bei der Behandlung der klassischen Moderne die Begeisterung der Siebzehnjährigen aufgefallen war, durften sie manchmal an den freien Nachmittagen in den Zeichensaal kommen.

„Als Dirnenmaler ist er beschimpft worden, der Dix, dabei hat er nur gezeigt, was ist, wenn auch ziemlich drastisch.“ Das konnte man sagen! Die Aquarelle von Vergewaltigung und Lustmord hatten sie erregt, die Lithografien mit Bordellszenen ihnen ganz schön eingeheizt. Das war etwas anderes als die fade kirchliche Aufklärungsbroschüre, die sie von ihren Eltern bekommen hatten. Auch in den Gemälden, die in feinster Lasurmalerei ausgeführt waren, konnte man ungeniert weibliche Geschlechtsteile betrachten und die Hände beneiden, die Brüste drücken und füllige Pobacken quetschen.

Lorenz Jakobi war es als einzigem gelungen, aus der gemeinsamen Kunstbegeisterung seinen Beruf zu machen. Nach dem Kunststudium an der Akademie hatte er 1970 eine Galerie eröffnet, die seit fünf Jahren im Königsbau residierte. Die Geschäfte mussten wohl gut gehen. Jakobi passierte gerade den kleinen Pavillon an der Nordseite des Schlossplatzes und strebte in Richtung Kunstgebäude. Sogar auf die Entfernung erkannte Köhnle das Seidentuch, das er lässig um den Hals trug. Heute hatte es einen leichten Aubergineton. So ein Dandy! Er konnte sich nicht erinnern, Jakobi je ohne Tuch gesehen zu haben.

Köhnle dachte wieder an Otto Dix und die Ausstellung. Die Leidenschaft für diesen Maler mit dem extremen Blick war nach dem Abitur nicht erkaltet, was ihn mit Klinger und Jakobi immer noch verband. Schon beim gemeinsamen Besuch der wiederaufgebauten Galerie am Schlossplatz im Sommer 1961 hatten sie mit großen Augen vor dem Rot der Anita Berber und dem Schmelz von Martha Dix verharrt. Vom Großstadt-Triptychon trennten sie sich erst nach Ewigkeiten. Sex und Elend, Glanz und Schmutz, Eros und Tod: Die Zwanzigjährigen waren davon überzeugt, den Maler verstanden zu haben.

Köhnles erster Kunstkauf konnte die Beziehung zu Klinger nur vorübergehend beeinträchtigen. Den Abzug der Lithografie ‚Salon II‘ mit den ausgemergelten, halbnackten Frauengestalten hatte er Klinger weggeschnappt. Dieser kleine Verwaltungsrichter hätte sie sich sowieso nicht leisten können – bei dem bescheidenen Gehalt!

Heute Abend sollte der Beirat der Galerie abschließend über das Projekt der großen Dix-Ausstellung beraten, die ab Herbst 1991 stattfinden und später sogar nach Berlin wandern würde. Sie sollte die erste umfassende Werkschau seit 1971 sein und Köhnle verstand sie zugleich als Lohn für die jahrzehntelangen Aktivitäten der Galerie und vor allem als Belohnung für seine eigene Arbeit. Leihgaben der Dix-Stiftung aus Vaduz, aus Dresden und aus Gera waren zugesagt. Die jüngste politische Entwicklung hatte Schluss gemacht mit der Zweiteilung dieses Künstlers. Die ‚Wende‘ genannte Öffnung der DDR und die sich abzeichnende Aufnahme in die Bundesrepublik hatten der Galerie phantastische Perspektiven erbracht.

Sein Besuch in Dresden im letzten April war äußerst erfolgreich verlaufen. Die hatten dort keine Ahnung, was sie wirklich besaßen. Diese Situation musste entschlossen ausgenutzt werden.

Die Ausstellung würde auf jeden Fall ein Erfolg werden. Sollte aber der eingefädelte Deal klappen, wäre die Sensation perfekt und er ein Großer in der Kunstszene. „Guten Abend.“ „Hallo, Lorenz, wir tagen heute oben im Künstlercafé.“

Jakobi nickte. Das Tuch hatte einen Stich ins Lila und glänzte matt in der Abendsonne. Die ersten Beiräte hatten die Vorhalle erreicht. Köhnle trat auf den Platz hinaus und legte sich in Gedanken zurecht, was und wie viel er sagen wollte.

Die Sitzung war nach einer Stunde beendet. Er war bei Andeutungen geblieben, aber anschließend wies er den städtischen Kunstbeauftragten darauf hin, dass es nötig werden könnte, den Sonderfonds zu aktivieren. Der Beiratsvorsitzende war zufrieden mit sich und der Welt.

Als er nach Hause kam, fand er eine Einladung zum Klassentreffen am 16. Juni vor. Jochen Klinger hatte das dreißigjährige Abi-Jubiläum nicht vergessen. Zuverlässig war er. Wenn alles vorbei sein würde, könnte man sich wieder einmal treffen.

Martha vor dem Spiegel

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