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5) Richterbesuch in Dresden

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Dresden, 14. März 1989

Der Bahnhof machte auf Jochen Klinger den Eindruck, als habe gerade ein Dampfzug die Halle verlassen. Ruß und Schmutz überzog Wände und Decken. In der Luft dominierte der Geruch von Braunkohle und DDR-Plastik. Er kannte diese Mischung von seinen Bahnfahrten durch die DDR nach Westberlin während seines Jurastudiums in den Sechzigerjahren. Seine kurzen Haare waren inzwischen vollständig grau. Seit Sonja Buri sie als silbern bezeichnete und edel nannte, gefiel ihm diese Farbe. Er erinnerte sich an das angenehme Gefühl, das ihn erfüllte, wenn sie ihm über den Kopf streichelte.

Er war inzwischen seit fast zwanzig Jahren Richter am Verwaltungsgericht in Stuttgart und dort unter anderem mit Streitigkeiten aus dem Sozialhilferecht befasst. Jetzt nutzte die Neue Richtervereinigung, der er seit der Gründung im Jahr 1987 angehörte, die Öffnung der Grenzen zu einem Treffen mit DDR-Richtern.

Zwei Herren in grauen Anzügen, deren Revers Parteiabzeichen zierten, kamen auf Klinger und seine drei Mitreisenden zu.

„Liebe Gen… äh … Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie im Namen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Justiz in unserer wunderschönen Stadt Dresden!“

Klinger fühlte sich von hinten geschoben. Die Zivilrichterin aus Karlsruhe drückte eine Hand an seinen Rücken. Er fühlte sich nicht wohl in Anzug und Krawatte, die er wegen des offiziellen Charakters des Treffens trug. Lieber hätte er in seinem üblichen weichen Polohemd gesteckt. Er ergriff die dargebotene Hand.

„Ähm, im Namen der Neuen Richtervereinigung danke ich für die Einladung und die Begrüßung. Wir freuen uns auf den Gedankenaustausch zu den Fragen der Gerichtsorganisation und … der richterlichen Selbstverwaltung.“ Er hatte sich vorgenommen, dieses Thema auf jeden Fall zu erwähnen, warum nicht gleich zu Beginn des dreitägigen Besuchs?

Die Kontakte zu Justizstellen im anderen Deutschland waren umstritten. Natürlich wollte man auch mit Kollegen jenseits des Eisernen Vorhangs diskutieren, aber die Begeisterung für kommunistische Regime war gering. Viele der Richterinnen und Richter, die sich der so genannten Altachtundsechzigerfraktion zugehörig fühlten und sich mit der NRV eine Heimat in der ansonsten so traditionellen Justiz geschaffen hatten, hegten keine Sympathien für die staatlich gegängelte Justiz im Ostblock.

Es war aber überall zu hören, dass sich im Gefolge der Entwicklung einer echten Opposition in Ungarn und deren gerade bekannt gewordener Organisation in Runden Tischen auch in der DDR Menschen zusammenfanden, die das Regime kritisierten. Außerdem war erst kürzlich ein „privater“ Dresdenbesuch von Helmut Kohl bekannt geworden.

Ihr Quartier sollte das Interhotel Bellevue sein, das der Abteilung Touristik des Ministeriums für Staatssicherheit unterstellt war und nur in Westwährung gebucht werden konnte. Den Weg dorthin legten sie in zwei Wolga-Limousinen zurück. Die riesige Plattenbauzeile beim Bahnhof mit den Hochhaustürmen wirkte trotz der vielen Menschen leer und unwirtlich. Beim Blick in die Altstadt dominierten neben der Farbe Schwarz an den Gebäuden die Schutthäufen und Ruinen, die von der Bombardierung 1945 übriggeblieben waren. Sie ließen die Semperoper links liegen und überquerten im Schritttempo hinter einer der vorsintflutlichen Straßenbahnen die Friedrich-Augustus-Brücke, die jetzt Georgij-Dimitroff-Brücke hieß.

Klinger war nicht nur auf die Fachgespräche vorbereitet. Er wusste, dass es in der Altstadt private Galerien und Kunsthändler gab. Seit seiner Begegnung mit dessen Werk im Kunstunterricht war Otto Dix sein großes Idol. In Dresden hatte der Maler viele Jahre verbracht und vor allem nach 1945 zahlreiche Radierungen und andere Grafiken geschaffen. Es wäre doch denkbar, dort etwas zu finden, das sein Budget nicht überstieg. Vielleich könnte er endlich mit Bernd Köhnle gleichziehen, den er lange um die Lithografie beneidet hatte. Er fragte sich, ob Köhnle wohl auch schon in Dresden gewesen war? Noch heute Nachmittag würde er versuchen, sich auf die Suche zu machen.

Von dem Eingangsportal des Hotels konnte man zum rechten Elbeufer hin den „Canaletto-Blick“ genießen, wie ihr Begleiter betonte. Die vier Gäste aus der Bundesrepublik warfen einen kurzen Blick auf die bekannte Silhouette. Die Brühlschen Terrassen lagen direkt gegenüber. Dort hatte Dix sein Atelier gehabt. Die berühmte Elbfront der Stadt ähnelte den Gebissen der alten Frauen, die er 1923 und 1924 in Bildern festgehalten hatte: sie war durch Schmutz und Lücken entstellt.

Martha vor dem Spiegel

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