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6) Fund in der Galerie
ОглавлениеDresden, 14. März 1989 nachmittags
Es war ihm tatsächlich gelungen, das Hotel rechtzeitig zu verlassen. Rasch überquerte Jochen Klinger die Brücke und schlug sich beim Zwinger nach links in Richtung Altstadt. Er hatte keinen Blick für die Umgebung. Vielleicht war nachher noch Zeit für eine kurze Stadtbesichtigung. Nach dem Plan, den er an der Rezeption erhalten hatte, befand sich die Galerie Schulze in der Salzgasse. Im fahlen Licht des Spätnachmittags wirkte der enorme Trümmerhaufen der Frauenkirche wie ein schlafender Drache.
Der Laden war leicht zu finden. Die Schaufenster umrahmte dunkel gebeiztes Holz, das an vielen Stellen schadhaft war. Den Scheiben hätte eine Reinigung gutgetan. Vom Eingang musste man zwei Stufen zur Verkaufsebene hinabsteigen.
Erinnerungen an seine ersten Galeriebesuche in den späten Fünfzigerjahren stiegen in Klinger auf. Die gleichen Regale und Ständer für Plakate und Grafiken hatte es dort gegeben.
„Guten Tag, was wünscht der Herr?“ Der Galerist war aus dem winzigen Büro im Hintergrund aufgetaucht und musterte den Kunden neugierig.
„Ja, ich weiß nicht recht… Ich wollte nach Radierungen suchen, von Dresdner Künstlern, vielleicht sogar von Otto Dix.“
„Das ist aber interessant! Darf ich Sie fragen, woher Sie kommen?“
„Aus Stuttgart.“
„Na sowas, erst letzten Monat war ein Dix-Liebhaber aus Ihrer Stadt hier.“
Klinger fragte sich, ob Köhnle oder Jakobi schon einmal hier gewesen waren oder vielleicht sogar Abelein, der immer mit seinen Geschäftsbeziehungen nach „drüben“ geprahlt hatte. „Davon gibt es bei uns viele.“
„Das glaube ich gerne. Sie haben in Ihrer Stuttgarter Galerie eine umfangreiche Sammlung. Ich gratuliere! Leider konnte ich sie noch nicht besuchen. So viel Bewegungsfreiheit wie der Maler hatte ich bisher nicht.“
„Das ist schade. Ich habe gelesen, dass er in Dresden in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Hunderte von Radierungen und Zeichnungen produziert hat.“
Der Galerist Schulze lächelte säuerlich. „Allerdings, er hat zwar auch gemalt, aber sein Schwerpunkt hier in Dresden war die Grafik. Die Druckerei kannte er noch aus den Zwanzigerjahren. Kommen Sie einmal hier herüber, in einer Mappe habe ich noch ein paar Abzüge aus dieser Zeit. Er hat unzählige Lithografien geschaffen, deren Steinplatten er selber in der Druckerei fertiggestellt hat.“
„Ach ja? War das die Druckerei Ehrhardt?“
„Natürlich, wie gesagt, die kannte er schon aus seiner Professorenzeit. Seit 1949 führt der Junior den Betrieb. Weil sie praktisch zur Hochschule gehören, sind sie nie in Volkseigentum überführt worden.“ Schulze schob eine dicke Mappe auf den kleinen Tisch vor dem Regal.
„Gibt es die Druckerei noch?“
„Na klar, immer noch bei den Brühlschen Terrassen. Schauen Sie sich die Sachen in Ruhe an, ich sehe noch einmal im Lager nach, ob ich noch mehr davon habe.“ Der Galerist verschwand im Nebenraum.
Jochen Klinger konnte es kaum glauben. Da kam er zum ersten Mal nach Dresden und war dem verehrten Maler sofort ganz nah! Vorsichtig, fast ehrfürchtig begann er, in der Mappe zu blättern.
Viele Portraits, ein Hahn und christliche Szenen tauchten aus dem Stapel auf. Es gab sogar eine Lithografie des Druckers Roland Ehrhardt aus dem Jahr 1964. Unschlüssig wendete Klinger das nächste Blatt. Der Halbakt einer jungen Frau mit schwarzen Haaren und vollen Lippen sah ihn an. Ihre großen Brüste, die den unteren Bildrand berührten, wurden wie von zwei unsichtbaren Händen angehoben, wodurch sie sich auf ungleicher Höhe befanden. Der Blick aus den dunklen Augen wirkte sinnlich und selbstbewusst.
„Da haben Sie was ganz Besonderes gefunden. Das ist Katharina König.“
Klinger löste den Blick von dem Bild und wandte sich dem Galeristen zu, der hinter ihn getreten war. „Wer ist sie denn?“, fragte er nach einer längeren Pause.
„Die Tochter von Otto Dix! Dieses Bild ist während seines letzten Aufenthaltes in Dresden entstanden, das war 1966.“
Es stimmte also, was sein Klassenkamerad Lorenz Jakobi seit Jahren erzählte. Der kannte sich wirklich aus. Es gab eine zweite Familie. Die regelmäßigen Aufenthalte des Malers in Dresden dienten nicht nur der Kunst! Klinger hatte die Geschichte nicht glauben wollen und jetzt begegnete er einem eindeutigen Beweis.
„Und ihre Mutter, was ist mit der?“
„Die Käthe, ja, die war Modell in der Akademie. Die kannte er schon ewig. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben.“
„Gibt es auch von dieser Frau Bilder?“ Klinger legte die Lithografie vorsichtig zurück. Schulze schüttelte den Kopf und ging zu einem Regal an der gegenüber liegenden Wand. Klinger verfiel in stummes Nachdenken. Wie konnte es angehen, dass der Meister des Portraits von dieser langjährigen Partnerin kein einziges Bild hinterlassen hatte? Von Martha Dix gab es Dutzende, allerdings nur bis etwa 1930. Die letzten waren seiner Erinnerung nach wenig schmeichelhaft ausgefallen.
Im gesamten Schaffen des Malers war kein Bild der Zweitfamilie bekannt. Viele Werke von Dix waren beschlagnahmt, geraubt oder zerstört worden. Vielleicht gab es darunter eines. Ob je wieder eines der verschollenen Bildern auftauchen würde? Von Rückgaben an die Eigentümer hatte man selten gehört. Das nationalsozialistische Gesetz vom 31. Mai 1938 über die „Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ wurde als Rechtsgrundlage für das organisierte Unrecht von den bundesrepublikanischen Gerichten und Behörden akzeptiert. Die Beschlagnahmen wurden heute noch als rechtmäßig angesehen und damit auch die Tatsache, dass sie ohne jede Entschädigung durchgeführt worden waren. Wer Werke von privaten Sammlern – auch hier waren meist Juden betroffen – zu Spottpreisen erworben hatte, musste nur die zivilrechtliche Verjährungsfrist abwarten, um „rechtmäßiger“ Eigentümer zu sein. Man konnte sich ausmalen, dass es in diesem Zeitraum einen lebhaften Handel gegeben haben musste, in welchem die Altnazis oder ihre Erben ihre „entarteten“ Besitztümer zu Geld machten. Klinger griff wieder nach der Lithografie von Katharina König.
„Hat nicht Rechtsanwalt Glaser in Dresden gelebt?“
Der Galerist blickte von der Liste auf, die er in der Hand hielt. „Ja, der war mit dem Dix dicke befreundet.“
Klinger wandte sich wieder dem Bild zu. „Ist dieser Abzug auch bei Ehrhardt hergestellt worden?“
„Nu klar!“, zum ersten Mal war eine Dialektfärbung zu hören.
„Wieso hat er keine Nummer?“
Herr Schulze betrachtete erst die Decke des Raumes, dann das Schaufenster und schließlich Klinger. „Da gibt es eine besondere Geschichte.“
„Sie machen mich gespannt.“
„Der Dix hielt sich immer nur ein paar Wochen oder maximal zwei Monate hier auf, weil er auch bei seiner Familie am Bodensee sein wollte. Da konnte es schon passieren, dass die vorgesehene Auflage noch nicht fertig war, wenn er abreiste. So ein Druck ist eine ganz schön komplizierte Angelegenheit.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Na, wenn nun jemand vor der Vernichtung der Druckplatten ein paar Abzüge mehr gemacht hätte, das hätte der Künstler nie bemerken können.“
„War das so?“
Es entstand eine Pause.
„Es soll in den Sechzigerjahren einen Mitarbeiter in der Druckerei gegeben haben, dem man das zutraut. Jedenfalls gibt es von einigen Werken nicht nummerierte Exemplare. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
„Was soll dieser Abzug kosten?“
„Wenn Sie in D-Mark bezahlen, bekommen Sie ihn für 30.“