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4) Klinger findet einen Toten

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Stuttgart, 20. Juni 1990 abends

Der Beschluss vom 30. Mai 1990 lag Klinger im Magen. Er selber ordnete damit die Zahlungen an Abelein an! Bis das Sozialamt eine Überprüfung vor Ort durchführen würde, konnte viel Zeit vergehen. Er brachte die dünne Akte auf die Geschäftsstelle. Zu einem Gespräch mit Frau Mohr, seiner Urkundsbeamtin, hatte er keine Lust. Er trug sein liebstes Polohemd, das rote. Sonja Buri hatte ihm gesagt, dass sie diese Farbe gern mochte.

Wie hilfreich wäre es gewesen, hätte er sich mit seiner Frau Karla austauschen können. Letzte Woche war ihr durch eine Bemerkung von Clemens Gruber die Beziehung zu Sonja bekannt geworden. Sie hatte sich seither zurückgezogen.

„Ich dachte immer, du wärst anders, aber offenbar musst du mit Fünfzig genauso eine jüngere Frau haben wie…“

„Sag nicht so etwas!“

„Ich will unserem Kind eine Familienkonstellation mit zwei Frauen nicht zumuten!“

„Aber…“

Karla hatte ihn stehen gelassen und sich Felix zugewandt, der seine Eltern verständnislos ansah. Klinger wollte noch nicht zu einer Entscheidung gezwungen sein. Sein Kreuz meldete sich mit einem leichten Ziehen.

„Gehst du mit in die Kantine?“ Er hatte nicht gehört, dass der Kollege Clemens Gruber sein Zimmer betreten hatte. „Ich sehe schon, du träumst. Vielleicht kommst du ja nach.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, war er verschwunden.

Fünf Minuten später stand Klinger vor der Imbissbude an der Rotebühlstraße und erläuterte der Verkäuferin seinen stets gleichen Wunsch.

„Eine Currywurst ohne Ketchup mit Pommes frites und etwas Majo.“

„Wie bitte?“

„Ja, mit Majo.“

„Ohne Curry?“

„Nein, ohne Ketchup.“

„Ich dachte, Sie wollten eine Currywurst.“

In der Schlange hinter Klinger kam Unruhe auf. Ein paar Tauben flatterten auf die Überdachung des Eingangs der S-Bahnstation Feuersee.

„Ich habe Sie nicht verstanden, die Tauben…“

„Also, was wollen Sie jetzt?“

Klinger resignierte. „Eine Currywurst mit Pommes.“

„Warum sagen Sie das nicht gleich?“ Sie richtete sich hinter dem Schalter auf und griff eine der braunen Fettstangen. Beim Essen ließ er möglichst viel von der sauren, roten Pampe abtropfen.

Als er wieder in seinem Dienstzimmer war, suchte er die Adressenliste heraus, die er aus Anlass des Klassentreffens vom letzten Samstag aktualisiert hatte. Er griff zum Telefon. Mit dem Hörer in der Hand zögerte er. Arnd Abelein drehte irgendein Ding. Dass er das Geschäft mit den Hotelzimmern alleine hinkriegen konnte, war sehr unwahrscheinlich. Überhaupt schien es unglaubhaft, dass er mit eigenem Geld das Gebäude erworben haben sollte. Der gute Arnd hatte nun einmal das Talent zum Scheitern. Das war schon in der Schule so gewesen. Außerdem hatte er sein Geld beim Spielen durchgebracht. Klinger wählte die Nummer.

„Hallo, Arnd, dein Vorschlag mit Rotenberg war klasse. Das Klassentreffen war sehr gelungen … Aber das war doch keine große Mühe! Du, ich sollte mich einmal mit dir unterhalten … Diese Geschichte mit dem Röcker gefällt mir gar nicht … wie bitte? … Wie kommst du überhaupt da hinein? … Und dieser Obdachlose …. Ja, das stimmt natürlich. Sag mal, kann ich heute Abend kurz bei dir vorbeikommen, sagen wir so um Sechs? … Bis dann!“

Kurz nach Fünf überwand Klinger mit einem Zug der Linie 15 der aus der Kindheit vertrauten Straßenbahn den Anstieg aus dem Talkessel. Die Strecke durch den Wald unterhalb des Fernsehturms mochte er besonders gern. Er liebte es, wenn die nostalgischen Schmalpurwagen durch die langgezogenen Kurven schwankten und quietschten. In Sillenbuch fand er den Weg in die Wellingstraße, ohne fragen zu müssen.

Nachdem er den Klingelknopf entdeckt und hörbar betätigt hatte, geschah lange Minuten nichts. Ein Jammern wie von einem Baby drang aus dem hinter dem Haus gelegenen Grundstücksteil.

„Der schreit schon den ganzen Nachmittag.“ Im Nachbargarten schnitt eine Frau Rosen. Mit dem langen Rock und der fliederfarbenen Baumwollbluse schien sie direkt aus der Waldorfschule zu kommen.

„Wen meinen Sie?“

„Na, den Felix, den Kater von nebenan. Mein Herr Nachbar vernachlässigt diese arme Kreatur.“

„Entschuldigen Sie bitte, ich bin ein Schulkamerad von Herrn Abelein und war eigentlich mit ihm verabredet. Ich wundere mich, dass er nicht aufmacht.“

„Dabei hatte er heute Nachmittag noch Besuch.“

„Wie bitte?“

„Ja, ein Mann ist so gegen fünf Uhr gekommen. Ich habe allerdings nicht gesehen, dass jemand wegging.“

„Frau?“

„Balzer.“

„Frau Balzer, Klinger ist mein Name; ich bin Richter und ich denke, wir sollten der Sache auf den Grund gehen. Als ich mit ihm telefoniert habe, war offenbar jemand bei ihm. Vielleicht schauen wir einmal hinter das Haus.“

Sie sah sich interessiert um. „Meinen Sie, dass etwas passiert ist?“

Klinger schaute auf seine Uhr. „Ich weiß nicht…“

Sie zog die Arbeitshandschuhe von den Händen und stieg durch eine Lücke in der niedrigen Hecke. „Dann wollen wir mal, Herr Klinger.“

Hinter der geschlossenen Terrassentür wanderte ein rotgestreifter Kater wie ein hospitalisiertes Zootier hin und her. Er blieb stehen, als die beiden auftauchten und gab noch einmal den klagenden Laut von sich. Klinger schirmte mit beiden Händen die Augen an den Schläfen ab, um durch die spiegelnde Scheibe etwas erkennen zu können.

„Haben Sie einen Schlüssel für das Haus?“

„Ja, ich sehe immer nach der Katze, wenn er auswärts ist. Ich hole ihn. Glauben Sie, es ist etwas passiert?“

Die Haustüre klemmte leicht. Durch einen kleinen Vorraum gelangte man in das Wohnzimmer. Kater Felix war pfeilschnell an ihnen vorbei aus dem Haus gerannt. Der Efeu vor dem Fenster tauchte den Raum in ein grünliches Licht. Auf dem Esstisch standen zwei Gläser. Es roch schwach nach Whisky.

Die Tür zu einem Nebenzimmer stand offen. Mit dem Gesicht nach unten lag Abelein in dem Durchgang. Verkrustetes Blut färbte die kurzen Haare über dem linken Ohr. Eine Blutlache hatte sich um seinen Kopf ausgebreitet. Auf dem Boden daneben erkannte Klinger eine Bronzestatuette, einen echten Nuss. Die etwas ausgezehrte, weibliche Figur war verschmiert, aber anscheinend unversehrt. Eine kleine quadratische Marmorplatte lag neben ihr. Abelein trug weiße Stoffh„Fassen Sie nichts an! Bitte rufen Sie von Ihrem Telefon aus die Polizei!“

Frau Balzer verließ langsam und mit steifen Bewegungen den Bungalow. Klinger betrachtete die verschmutzte Hose seines Klassenkameraden. Er hatte Abelein nicht besonders gemocht, aber es durchflutete ihn dennoch eine heiße Welle von Mitleid. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus.

Martha vor dem Spiegel

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