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2) Klinger verliebt sich

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Stuttgart, Mai 1990

Jochen Klinger war unzufrieden mit sich und dem Leben. Seit zehn Jahren lebte er nach einer gescheiterten, viel zu früh geschlossenen Ehe mit seiner Karla zusammen. Sie entsprach nicht dem burschikosen Frauentyp mit der Bubikopffrisur, den er seit der Schulzeit begehrenswert gefunden hatte. Sie war nur wenig kleiner als er und ihr breites Gesicht war voller Lebensfreude, wenn sie lachte, was sie oft tat. Ihre Beziehung war von Anfang an intensiv und gleichberechtigt. Er musste nicht den großen Bruder einer verunsicherten Professorentochter geben, sondern durfte selber schwach, sogar unsachlich sein, ohne dass sich an ihrer Liebe zu ihm etwas geändert hätte.

Karla wusste, was sie wollte, und wenn sie mit ihm schlief, war sie wirklich ganz bei ihm. Sie ließ sich gerne verwöhnen und genoss seine Aufmerksamkeit. Sie war aber auch darauf bedacht, ihren eigenen Bereich zu erhalten und zu entfalten. So entwickelte sich eine Ehe, wie er sie sich gewünscht hatte.

Fast zwanzig Jahre war Klinger nun schon als Richter am Verwaltungsgericht tätig und er liebte seinen Beruf, genoss seine Freiheit und Eigenverantwortung. Vor vier Jahren hatte Karla den lang ersehnten Sohn Felix geboren. Er hätte rundum glücklich sein müssen.

Dennoch plagten ihn seit drei Monaten rezidivierende Kreuzschmerzen, die sein Bruder Andreas, ein Psychiater, als psychosomatisch bezeichnete. Richtig war, dass auch seine allgemeine Stimmung gedrückt war. Klinger war ein kräftiger, vollschlanker Mann, dessen Körpergröße von 1,85 Meter zurzeit deshalb nicht zu erkennen war, weil er sich ständig leicht nach vorne beugte, als trüge er eine schwere Last. Nicht einmal bei seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Radfahren, konnte er sich entspannen.

Die Geburt von Felix war eine lange Angelegenheit und für seine Frau sehr anstrengend gewesen. Das viele Blut, der Kopf, der zwischen Karlas Beinen endlich auftauchte und leicht bläulich angelaufen war, hatten Jochen Klinger nachhaltig beeindruckt. Nach den ersten Wochen des Glücks über das neue Leben war die Erinnerung an diese Szene immer wieder hochgekommen, wodurch ihr körperliches Zusammensein beeinträchtigt wurde. Natürlich hatte sich auch Karlas ganzes Geschlecht durch die Geburt verändert, was Jochen Klinger irritierte. Darüber zu sprechen, hatte er nicht geschafft.

Gestern war in der Zeitung zu lesen gewesen, dass die Städtische Galerie 1991 eine große Dix-Retrospektive vorbereitete. Sofort waren ihm die Nachmittage im Zeichensaal wieder eingefallen. Die Zeit am Dillmann-Gymnasium, das er erst ab der Oberstufe besuchte, war für ihn voller problematischer Erfahrungen gewesen, da die Mitschüler ihn nie ganz akzeptierten. Mit einigen Klassenkameraden konnte er über die gemeinsame Begeisterung für Otto Dix enger zusammenfinden. Bernd Köhnle gehörte dazu. Er war zwar ein eher grober Typ, besaß aber umfangreiche Kenntnisse über Otto Dix. Klinger musste auch seine Durchsetzungsfähigkeit und den geschäftlichen Erfolg anerkennen. Gegenüber Köhnle kam er sich schwach und unterlegen vor. Das würde er ihm natürlich nie sagen. Stattdessen führte er lieber Fachgespräche und demonstrierte seine geschliffene Sprache und das angelesene Wissen.

Den Dritten im Bunde, Lorenz Jakobi, bewunderte Klinger von Anfang an ehrlich, wenn auch mit etwas Neidgefühlen. Dem gelang alles und er kannte sich in Kunst, Literatur und Theater aus wie kein anderer. Das extravagante Äußere mit den schicken Halstüchern und später den Designerjeans machte ebenfalls Eindruck auf ihn, auch wenn er selber etwas dezentere Kleidung bevorzugte.

Vor zwei Monaten hatte eine andere Frau Klingers Leben aus ruhigen Bahnen auf einen Schlingerkurs gebracht. Sonja Buri war direkt nach dem Zweiten juristischen Staatsexamen an das Verwaltungsgericht gekommen. Seither wusste Klinger nicht mehr richtig, wo er hingehörte. Sie hätte zwar seine Tochter sein können, aber sie besaß bei aller Zerbrechlichkeit einen eisernen Willen und sie interessierte sich für Jochen Klinger.

Sonja Buri war eine sehr kleine Person mit kurzen, braunen Haaren, aber die Proportionen ihres Körpers erschienen Klinger perfekt. Sie akzeptierte ihn schnell als selbst ernannten Mentor und bewunderte sein Wissen und seine gebildete Ausdrucksweise grenzenlos. Wenn sie ihn aus ihren graublauen Augen anstrahlte, war Klinger nicht mehr der fünfzigjährige Kollege, sondern der verliebte Kommilitone. Fast widerwillig gestand er sich ein, dass er sich bei ihr wohl fühlte.

Er freute sich auf das nächste Wochenende, an dem sie gemeinsam einen zweitägigen Ausflug nach Hohenlohe machen wollten. Seiner Frau Karla hatte Klinger vorgelogen, die Neue Richtervereinigung führe ein Seminar im ehemaligen Kloster Schöntal durch und er müsse die jungen Kolleginnen und Kollegen dort betreuen. Sie glaubte ihm, jedenfalls kam es ihm so vor. Wie er sein Gewissen zum Schweigen gebracht hatte, war ihm selber nicht klar.

Er starrte aus dem Fenster seines Hauses auf der Gänsheide auf die gegenüberliegende Talseite und das frische Grün des Waldes, aber er nahm es nicht wahr. Im Fensterglas spiegelte sich die Lithografie, die er letztes Jahr in Dresden erworben hatte. Damals war ihm klar geworden, dass der Maler Otto Dix tatsächlich mit zwei Frauen und zwei Familien gelebt hatte. War das für ihn auch ein Modell? Apropos Dix, Bernd Köhnle war in dem Artikel zitiert worden. Er prahlte damit, dass die Städtische Galerie etwas Großes vorbereite, die erste Dix-Retrospektive nach der Wende in der DDR. Das Telefon stand auf dem Fenstersims. Er musste auf andere Gedanken kommen.

„Hallo, Bernd, Jochen hier, wie geht’s denn so? Was machen die Vorbereitungen für die Ausstellung?“

„Jochen, schön, dass du anrufst. Wegen der Dix-Ausstellung habe ich nämlich diese Woche an dich gedacht.“

„Nicht wegen des Klassentreffens?“

„Nein, wir haben über die Vorbereitungen im Beirat der Galerie diskutiert und da habe ich etwas gehört, das ich dir erzählen möchte.“

„Da bin ich gespannt.“

„Stell dir vor, der Lorenz war in Dresden …“

„Da war ich letztes Jahr auch. Das ist heute keine Kunst.“

„Ha, ha, du bleibst ein Witzbold. Nein, was ich dir berichten wollte: Er hat Katharina König besucht.“

„Oho, das klingt schon interessanter … und was weiter?“

„Er meinte, dass es bei ihr oder dem Drucker, dem Ehrhardt, noch einige Sachen zu holen gibt.“

„Da hast du deine Greiftrupps sicher schon losgeschickt.“

„Ich sagte ja, Witzbold! Aber jetzt mal im Ernst, vielleicht gelingt es wirklich, im nächsten Jahr in Stuttgart eine Sensation zu präsentieren.“

„Na, da wünsche ich euch viel Erfolg.“ Jochen Klinger ärgerte sich über den angeberischen Ton. Er beendete das Gespräch. Der Wald war immer noch grün. Er fragte sich, ob in Dresden außer ein paar Lithografien oder Zeichnungen noch etwas Unbekanntes vorhanden sein würde. Was nicht in den Museen hing, war von den Nazibarbaren oder durch den von ihnen angezettelten Krieg zerstört worden oder die von dem Unrechtsregime beauftragten Aufkäufer hatten es ins Ausland verhökert. Das galt auch für die beschlagnahmten Sachen. Die Gerüchte von gebunkerten Kunstschätzen, die Jakobi gerne verbreitete, nahm Klinger nicht ernst. Er beschloss, an einem der nächsten Tage mit Sonja Buri in die städtische Galerie zu gehen.

Martha vor dem Spiegel

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