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Leitbild authentische Stadt

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Unverkennbar, einzigartig, nicht reproduzierbar ist die authentische Stadt mit einem hohen historischen Identifikationspotenzial. Sie besteht aus zwei Komponenten, dem historischen materiellen Baubestand und seinen vielen sozialen Konstruktionen. Sie enthalten Geschichten, Erzählungen, Anekdoten vom historischen Wandel des Baubestands. Es ließe sich sagen, Baubestand verfügt über eine materielle und eine sozial konstruierte Komponente. Wie wichtig letztere für die materielle ist, sei im Weiteren in besonderem Maße hervorzuheben. Sie verleihen der Stadt ihre Eigenschaft der Einzigartigkeit und Unverkennbarkeit. Dinge und Wissen machen die Stadt historisch wertvoll und dadurch authentisch. Historischer Wert und das Authentische bedingen sich wechselseitig. Historischer Wert wird Objekten zugeschrieben – so die hier vertretene konstruktivistische Sichtweise –, das Authentische wird als ästhetische Kategorie verstanden, die durch das Intentionalwerden historischer Werte empfunden werden kann. Das Authentische einer Stadt wird also nicht als Eigenschaft, als Authentizität gedeutet, die Objekte von sich aus eignen, sondern zuerst als ästhetische Kategorie, die emotionale Zustände hervorruft. Das Authentische und die Eigenschaft Authentizität vollziehen sich in einem Sprechakt: „Das Objekt sei authentisch!“

Sechs Arten von historischen Werten, mit denen sich historischer Baubestand taxieren, aber durch Zuschreibungen auch aufwerten lässt, werden aus einer Phänomenologie des Historischen abgeleitet und als Analyse- sowie Zuschreibungswerkzeug vorgeschlagen: die epistemische, materielle, temporale, lokale, ästhetische und idealistische historische Wertzuschreibung. Je mehr historische Werte den Bauwerken einer Stadt zugeschrieben werden können, desto authentischer wird die Stadt empfunden. Dazu – so die These dieses Buches – sind Originale oder original Materie nicht zwingend notwendig. Sie befördern die Empfindung des Authentischen, aber notwendig sind sie nicht. Das Authentische einer Stadt lässt sich mit verschiedenen Formen historischer Werte steigern. Sie können in die Konzeption von Bauwerken, aber auch in die Konzeption von Stadtentwicklungskonzepten eingebunden werden. Der Klimaschutz ist, so eine Hauptthese, kein Hinderungsgrund für die historisch wertvolle und authentische Stadt, sondern deren explizite Chance. Neue Urbanistik im Zeichen des Klimaschutzes wird die historischen Dimensionen der Städte durch die Kultur des nachhaltigen Bauens stärken können. Auch für die Ausprägung ästhetischer Formen von Resilienz dient dieses Vorgehen als Vorschlag.

Geschichte von Bauwerken ist fraglos gewichtiger Bestandteil allgemeinen Interesses. Immobilienwerte werden aus Geschichte geschöpft, gleichgültig ob dies ehemalige Kirchen, Industriegebäude um 1900 oder Wohngebäude der 1970er-Jahre betrifft. Eine Konservenfabrik und eine mechanische Weberei, die zu Wohnraum konvertiert werden, lädt der Immobilienhandel mit Erzählungen über ihre industrielle Funktion historisch auf. Sie bekommen dadurch den Reiz der besonderen Wohnkultur, die sich vom geschichtenlosen und geschichtslosen Neubau unterscheidet. Auch den Stadt-Tourismus begründet die authentische Stadt.6 Sie erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Tel Aviv hat eine unverwechselbare Atmosphäre des International Styles des 20. Jahrhunderts. Es ist die Bauhausstadt, der keine andere gleicht. Rom steht für eine Stadt der Geschichte, die durch das Nebenher von Monumentalbauten mehr als zweier Jahrtausende gekennzeichnet ist. Rom ist zugleich eines der prototypischen Beispiele des Weiterbauens einer Stadt. Dubai setzt hingegen auf einen kontemporär-ubiquitären Stil mit radikalem Gestaltungswillen, der offenbar keinerlei Begrenzungen kennt. Weder der Himmel noch das Meer scheinen Hindernis zu sein. Der Altstadtbereich al-Bastakiyya, der weitgehend Ende des 19. Jahrhunderts mit lokalen Baumaterialien und -techniken errichtet wurde, ist nicht zu entwickeln und sollte auch nicht entwickelt werden, um dem ubiquitären Neubauen etwas Historisch-Lokales entgegensetzen zu können. Das Neubauen ist das Authentische dieser Stadt am Persischen Golf.

Besucher ziehen alle urbanen Typiken und Einzigartigkeiten an, deswegen zahlt sich das Leitbild der authentischen Stadt ökonomisch aus. Wer aber bestimmt die historischen Werte und die Authentizität der Bauwerke? Die Bauforschung kann dies einerseits bezüglich der materiellen Bauhistorie tun. Der Denkmalschutz erstellt Gutachten über die Bedeutung der historisch-materiellen kunsthistorischen und historischen Zeugenschaft mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Materie und Originalen. Bauforschung wie auch Denkmalschutz bedienen vor allem materielle Teilbereiche der Geschichtskultur. Das Immaterielle, die sozialen Konstruktionen des Bauerbes, und seine Zeichenhaftigkeit werden jedoch zu wenig erfasst. Aber sie sind überaus bedeutend, denn sie wirken auf Materie stärker ein, als Materie auch nur ansatzweise die soziale Konstruktion bedingen könnte. Ihre Bedeutung wird in den nun folgenden Kapiteln vielfach und aus mehreren Perspektiven dargestellt. Dazu gehört ein Verständnis der Vergangenheit von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit, denn vor allem Wissen, soziale Konstruktion und nicht nur Objekte machen urbane Räume attraktiv. Materie und Wissen gehören zusammen. Wissen macht Dinge – das ist der konstruktivistische Grundtenor dieses Buches.

Es beschäftigt sich mit der Entwicklung von Analysemethoden der historischen Wertermittlung und der Authentizitätsbestimmung von Kulturerbe. Regional- und landesgeschichtliche Forschung sowie Befunde der Bauforschung, des Denkmalschutzes und der Kunstgeschichte werden interdisziplinär vereint, um Grundlagen für eine historisch argumentierende Stadtentwicklung zu erarbeiten, die auf geschichtskulturelle Nachhaltigkeit zielt. Das Buch möchte die geschichtskulturelle Dimension in der Diskussion um die nachhaltige Entwicklung urbaner Räume stärken und mithilfe der Zeichentheorie dem bestehenden Denkmalschutz Lösungen für die Zukunft der urbanen Räume zwischen Klimaschutz und Denkmalkult anbieten.

Ausgangspunkt sind die Positionen Alois Riegls zur Denkmaltheorie. Er ist einer der einflussreichsten Kunst- und Denkmaltheoretiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie prominenter Vertreter der kunsthistorischen Wiener Schule. Riegls universalistischer Denkmalbegriff und seine Kategorien der Gegenwartswerte und Erinnerungswerte des Denkmals erfahren eine Reflexion an den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der New Urban Agenda. Neben Riegls Gebrauchswert und relativem Kunstwert sowie historischem Wert und Alterswert wird hier der historische Wert differenziert aufgeschlüsselt und um historische Authentizität als ästhetische Kategorie sowie als Zuschreibungsnarrativ erweitert. Historische Authentizität ersetzt Wort und Begriff des Originals, das im 20. Jahrhundert als wichtigster und höchster Wert in Kunstgeschichte, Denkmalschutz und Denkmalpflege gesetzt worden war. Mit der hier vorgestellten aufgefächerten Kategoriensystematik lassen sich verschiedenste Phänomene des Umgangs mit Kulturerbe erfassen, klassifizieren und taxieren.

Die authentische Stadt

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