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Der konstruktivistische Blick Soziale Konstruktion und das Historische

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Am Anfang aller Dinge steht deren soziale Konstruktion. Mag ein Gegenstand auch wahrnehmbar sein, sichtbar, fühlbar, hörbar, riechbar, so genügt das nicht, damit er benannt sowie in Funktions- und Handlungsabläufe einbezogen werden kann. Er muss intentional werden, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und kognitiv präsent sein. Darüber hinaus muss er in Wissensformationen eingebettet werden, die abrufbar sind, um für Handlungsentscheidungen nützlich und nutzbar zu sein.7 Wissen macht Dinge! Erst das Wissen, das Sprechen, das Austauschen, das Verhandeln über einen Gegenstand erschafft ihn als Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Zuvor ist das Ding einfach nur ein Ding, ob materiell oder immateriell – dinglich und nutzlos! Soziale Konstruktion generiert Bedeutungen, Gebrauchsanleitungen, Handlungsanweisungen, Wertzuschreibungen. Kommunikation über die Schar der Objekte konstruiert die Dinge, generiert sie, konstituiert sie, normativiert sie, gewährleistet ihre soziale Verfasstheit und Wertigkeit. Im kommunikativen Handeln entsteht die Werteordnung einer sozialen Gruppe innerhalb eines historisch bedingten kulturellen Rahmens, der aus tradierten Wissensformen besteht, die über Jahrhunderte angewachsen sind und weiterhin ständigem Wandel unterliegen, ohne dass ihre Wurzeln gänzlich unterdrückt werden oder verschwinden könnten. Für die stete Neupositionierung der Gesellschaft in den folgenden Gegenwarten ist die diachronhistorische Selbstreflexion unumgänglich. Positionierung beruht immer auf Differenz. Die Differenz zum Jetzt ist Vergangenheit wie Zukunft. Das, was wir erreicht haben, und das, was wir wollen. Deswegen sind Historie, Selbstreflexion und Genese des Werdens von Wissen ein so wertvoller Bestandteil des Lebensvollzugs und seiner Handlungsentscheidungen. Ohne die historisch-kulturelle Bedingtheit der Werteordnungen zu kennen, können sie nicht effizient hinterfragt und umgestaltet werden. Keine Risikoabschätzungen ließen sich erzielen, gäbe es nicht die historische Reflexion des Gegenwärtigen.

Darüber hinaus wissen wir: Nichts ist langweiliger als die Gegenwart! Wird sie lediglich als Solitärerscheinung, ohne ihre Historie betrachtet, verfügt sie über nichts anderes als ihre akute Ästhetik. Oberflächlich könnte eine solche ahistorische Betrachtungsweise genannt werden. Es fehlten dabei Gedächtnis und Erinnerung. Für Gesellschaften könnte kaum etwas gefährlicher sein, als vegetative Formen sozialen Lebens anzunehmen, weil sie vermeinten, auf Gedächtnis und Erinnerung verzichten zu können. Es folgte daraus der Verlust des Rechtsstaats, der im Vegetativen keinen Platz im tristen Hier und Jetzt hätte. Sozial relevant sind Reflexionen des Wandels, die historische und gegenwärtige Zeitschichtungen ver- und abgleichen. Sie sind entscheidend für das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft und formen die Grundlagen der einzigartigen, unverwechselbaren authentischen Zustände unserer jeweiligen Gegenwarten. Ohne die Erinnerung an das Historische wäre die Umwelt, in der wir uns befinden, bedrückend eindimensional. Die soziale Konstruktion reichert die Wahrnehmungsebene entscheidend mit Wissen an, das wiederum grundlegend für die Wertzuschreibungen der Dinge ist und das Volumen der Dinge vervielfacht. Vergangenheit ist soziale Konstruktion und Gegenstand des historischen Blickens zugleich. Dieser sozial konstruierte Anteil der Dinge ist wichtiger als die Dinge selbst. Er entscheidet darüber, ob die Dinge durch die Zeiten Bestand haben, ob sie bleiben, ob sie gehen, ob sie echt sind oder Fälschungen, ob wichtig oder unwichtig. Das alles bestimmen nicht die Dinge über sich selbst; ihnen ist das nicht vergönnt. Vielmehr regiert und richtet über sie als Souverän die soziale Konstruktion in Form von Sprechakten: Dies sei echt. Dies sei falsch. Dies sei wichtig. Dies sei unwichtig.

Aus konstruktivistischer Perspektive besitzt demnach kein materielles oder immaterielles Objekt Wert, ohne dass wir ihn zuvor konstruiert hätten. Anders gesagt: Jedes Objekt ist absolut wertlos, solange soziale Konstruktion es nicht kultiviert und sozialisiert. Dazu ein Beispiel aus der Zeitgeschichte: Als die Taliban-Milizen die Buddha-Statuen von Bamyian ab dem 12. März 2001 zerstörten, erfolgte dies – so eine bis heute gültige Deutung – als ein ikonoklastischer Akt, der sich gegen die sozialen Konstruktionen der Weltgemeinschaft richtete. Jene Destruktion hatte mit Gewissheit die politische Dimension sehr wohl explizit zu machen, die Werte der anderen seien nicht die Werte der Taliban. Die Weltgemeinschaft hatte die Statuen mit dem Titel Weltkulturerbe sakrosankt erklärt. Damit wurde ihnen Unantastbarkeit durch ein soziales weltweit gültiges Wertekonstrukt verliehen. Es beruht auf der UNESCO-Welterbekonvention vom 16. November 1972, der bislang 193 Staaten beigetreten sind.8 Dieses vertragliche Wertekonstrukt greift aber nur so weit, wie seine Verbindlichkeit empfunden wird. Es ist schließlich nur menschlichen und nicht göttlichen Ursprungs. Weil die Statuen in der Auslegung des Korans durch Taliban-Milizen gegen das Bilderverbot verstießen, durften und mussten sie zerstört werden, so rechtfertigten sich die Sprengmeister und deren Hintermänner. Nebenbei konnte politisch agiert werden, um mit einem in den Augen der Weltgemeinschaft skandalösen Akt Macht, Autonomie, Souveränität zu demonstrieren. Eine soziale Wertekonstruktion, die Auslegung des Bilderverbots im Koran, führte zur Zerstörung von Symbolen einer anderen Religion. Es war also die Zuschreibung eines Unwertes, der das destruktive Handeln innerhalb der Gruppe der Zerstörer rechtfertigte, vermeintlich im Sinne Allahs und dadurch scheinbar sogar von allerhöchster Stelle göttlich-normativ abgesichert. Der Wertegemeinschaft der Weltgemeinschaft, die sich der UN und besonders der UNESCO verpflichtet hatte, standen göttliche Worte und die daraus abgeleitete soziale Konstruktion gegenüber. Ein Kräftemessen der Normative, das auch besagt: Ohne soziale Konstruktion keine Handlung, die stets innerhalb von Werteordnungen vollzogen wird, mitunter gegen die Konventionen der Weltgemeinschaft, die solche destruktiven Akte juristisch kaum ahnden kann.

In einer spielerisch-erdachten Welt-Wertegemeinschaft des 19. Jahrhunderts, die Kunstwerke verwaltet, hätte es den Aufschrei bezüglich der Buddha-Statuen von Bamyian nicht gegeben. Künstler des 19. Jahrhunderts hätten sie, dankbar für die Zerstörung der nicht mehr schön erhaltenen Statuen, in der Perfektion des Neuwerts wiedererrichtet. Das 19. Jahrhundert erachtete neuwertige Rekonstruktion als obersten Wert. Das Original hingegen hatte keinen Wert. Sie abzureißen entsprach nicht einem Sakrileg, weil die historische Ästhetik und nicht die Geschichtlichkeit der Bauwerke in der Bewertung überwog. Deswegen wurden unter diesen Voraussetzungen völlig legitim Burgruinen abgetragen und wieder neu errichtet, wie im Falle von Neuschwanstein im Auftrag Ludwigs II. von Bayern oder in Teilen die Burg Dankwarderode in Braunschweig. Aber auch der Kölner Dom ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie im 19. Jahrhundert agiert wurde: Er musste fertiggebaut werden. Ohne Zweifel eine großartige Leistung des 19. Jahrhunderts. Trotzdem lässt sich heute sagen, es wurde der authentische historische Bestand des Doms, der auf das 19. Jahrhundert gekommen war, zerstört.9 Spuren der Entwicklung des Kölner Doms wurden einem ästhetischen Ideal und Gesamteindruck geopfert, der nur mit industriellen Mitteln möglich war. Das trifft auch für das Ulmer Münster oder den Dom von Regensburg, ebenso für Notre Dame de Paris zu. Hunderte andere originale Kirchen aus der Spätgotik wurden zerstört und im reinen spätgotischen Stil wiedererrichtet. All das wäre nach 1900 nicht mehr denkbar gewesen. Eine neue Kultur, die Kultur des Originalen, hatte die Deutungshoheit und Deutungsmacht des Historischen übernommen. – Andere Kulturen, andere Werte. Werte sind und bleiben volatil.

Die authentische Stadt

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