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Werte

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Dem Kulturerbe lassen sich verschiedene Werte zuschreiben. Offensichtlich ist der ökonomische Wert, auf dem die Tourismusbranche aufbaut und ebenso mit Kulturerbe wie mit Naturerbe ihre Profite generiert. Auf der anderen Seite dieser Profite steht das Problem fossiler Mobilität, die eine Autonomie eines anderen Denkens ist, nicht aber die der Kultur der Nachhaltigkeit. Aber neben diesem ökonomischen Wert gibt es auch die historische Wertigkeit des Kulturerbes. Historischer Wert ist seit dem späten 19. Jahrhundert ein Kampfbegriff geworden, der mit den Namen Georg Dehio und Alois Riegl verknüpft ist. Besonders Alois Riegl ist für die Definition des historischen Werts ausschlaggebend.16

Riegl unterbreitete 1903 einen universalistischen Vorschlag der Denkmaltheorie in seiner Publikation Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903. Riegl war einer der prominentesten Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte und entwickelte in Reflexion sowie Bewertung des Historismus des 19. Jahrhundert eine Werteordnung des Baukulturerbes, die bis heute zumindest in der Kunstgeschichte und in Teilen im Denkmalschutz und der Denkmalpflege wegweisend ist.17 Der Wiener Kunsthistoriker unterschied zwischen Erinnerungswerten und Gegenwartswerten. Vor allem die Erinnerungswerte sind für die authentische Stadt interessant. Zwischen Alterswert, historischem Wert und gewolltem Erinnerungswert differenziert dieses Ordnungssystem. Die Geschichtlichkeit spielte im Alterswert eine besondere ästhetische Rolle.

Geschichtlichkeit als Eigenschaften aller Dinge und Lebewesen beschreibt deren In-der-Zeit-Sein. Was sich auch immer im Universum befindet, ist in der Zeit. Kulturerbe ist in der Zeit, sobald der Beginn seines In-der-Zeit-Seins festgelegt werden kann. Auch hier bedarf es einer Konstruktion beruhend auf Indizien. Nichts ist ohne soziale Konstruktion in der Zeit, wenn es gleichzeitig auch sozial relevant sein sollte. Der Beginn des In-der-Zeit-Seins kann beispielsweise die Planungsphase oder der erste Spatenstich oder die Fertigstellung sein. Der materielle Bestandteil des Kulturerbes bleibt bis zu seiner Auflösung in der Zeit. Der immaterielle Teil, die soziale Konstruktion und ihre Wissensformationen, der, wie hier erläutert, keineswegs eine marginale Rolle spielt, bleibt ebenfalls weiterhin in der Zeit als Erinnerung.

Doch verharren wir zuerst auf der Seite des Materiellen: Der Bauplatz, auf dem jenes Bauwerk errichtet wurde, entkommt der Zeit nicht. Wenn ein neues Nachfolgebauwerk errichtet wird, so ist zwar das zerstörte und abgetragene Bauwerk nicht mehr in der Zeit, aber der Bauplatz sehr wohl. So wird das Nachfolgebauwerk das verlorene Bauwerk in seiner sozialen Konstruktion tragen. Das In-der-Zeit-Sein ist ein Garant für Wissen über den Bauplatz und ermöglicht eine Art Biografie zu erstellen, ähnlich dem Curriculum Vitae, das auch Transformationen enthält, von der Geburt über die Kindheit zu Qualifikationsstufen des Bildungssystems, Wahl des Berufs, Änderung des Familienstands. Die Sicherheit, dass alles, was ist, und alles, von dem wir wissen, dass es war, geschichtlich ist, ermöglicht uns die Gewissheit, Informationen darüber zu finden und den historischen Wert eines Kulturerbes zu ermitteln und zu beschreiben. Die zeitliche Autonomie der Dinge jedoch ist so entscheidend für den Alterswert wie die natürliche Erosion und der natürliche Zerfall der Dinge, der sich unweigerlich vollzieht, wenn Menschen die Zerfallsprozesse nicht stoppen. Die Patina und die autonome Ästhetik des Alten geben den entscheidenden Ausschlag in der von Alois Riegl vorgestellten Wertschöpfung.18 Er beschreibt die historische Eigenschaft des baulichen Kulturerbes mit Worten, die nicht nur für seine Zeit radikal klangen:

„Vom Standpunkte des Alterswertes muß eben nicht für ewige Erhaltung der Denkmale einstigen Werdens durch menschliche Tätigkeit gesorgt sein, sondern für ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen, und eine solche bleibt auch dann garantiert, wenn an Stelle der heute existierenden Denkmale künftighin andere getreten sein werden.“19

Die Textstelle aus dem Modernen Denkmalkult lässt sich als Laissez-faire-Haltung interpretieren, die notwendig ist, um Geschichtlichkeit am Denkmal sichtbar zu machen. Die natürliche Erosion versteht er als schützenswerten Bestandteil des Denkmals. Das ist radikal, aber noch verständlich, wenn auch gegen das aufkeimende moderne Verständnis von Denkmalpflege gerichtet, das auf Konservieren ausgerichtet war und die Erosionsprozesse stoppen wollte, um Denkmale zu erhalten. Aber erstaunlich wäre es, seine Worte weiterführend zu denken: „… sondern für ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen, und eine solche bleibt auch dann garantiert, wenn an Stelle der heute existierenden Denkmale künftighin andere getreten sein werden“. Wie sollte so eine „Schaustellung“ möglich sein, vor allem wenn die Denkmale nicht mehr existieren und andere auf deren Bauplatz entstanden sind? Das geht nur durch soziale Konstruktion, Wissen, Text. Riegl erklärt diese sozial-konstruierte Seite des Denkmals mit seinem historischen Wert.

„Die Symptome der Auflösung, die dem Alterswerte Hauptsache sind, müssen vom Standpunkte des historischen Wertes mit allen Mitteln beseitigt werden. Nur darf dies nicht am Denkmal selbst geschehen, sondern an einer Kopie oder bloß in Gedanken und Worten.“20

Die nicht materielle Seite der Geschichtlichkeit kann die Schaustellung nicht leisten. Sie kann nur durch Narration, soziale Konstruktion gewährleistet werden, aufgrund von forschenden Prozessen, die auf die Gedächtnisse der Gesellschaft angewiesen sind: Archive und Bibliotheken in der vordigitalen Zeit, heute in Form von Datenbanken. Darin liegt ein performativer Aspekt. Nur mit Performanz sozialer Konstruktion kann das In-der-Zeit-Sein der Materie eines Denkmals hinzugefügt werden: Publizieren, das Publizierte lesen und vortragen, darin besteht Performanz. Riegel geht nicht so weit in seinen Formulierungen. Wie sollte ihm dies 1903 auch möglich gewesen sein? Nicht die ewige konservatorische Gewährleistungspflicht des Kulturerbes obliegt uns für den Genuss des Alterswerts, sondern auch die Pflicht des historischen Werts, die soziale Konstruktion über die Geschichtlichkeit des Kulturerbes stets zu erinnern und aufzuführen. Diese Zweiteilung von Materie und Narration ist bemerkenswert.21 Bezogen auf den Kontext dieses Zitats dürfte die „ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen“ allerdings nur auf die Materie bezogen werden, die für alle, selbst für Nicht-Experten, ersichtlich ist: „Einen alten Kirchturm von einem neuen zu unterscheiden, wird selbst der beschränkteste Landbauer vermögen.“22 Der Alterswert erreicht das Gefühl, nicht den Verstand, und deswegen sei er massentauglich. Riegl thematisiert mit seinem Alterswert zwar die Geschichtlichkeit, aber er beschränkt sie auf die Aktualität der Wahrnehmung, auf die jeweilige Gegenwart, in der sich das Denkmal gerade befindet und rezipiert wird. Die Apperzeption des Denkmals, also kognitive Wahrnehmung der sozialen Konstruktion des Denkmals, erlangt nur der historische Wert. Er macht die Eigenschaft der Geschichtlichkeit eines Objekts erkennbar. Riegl verdeutlichte dieses Prinzip in der Abgrenzung zum gewollten Erinnerungswert eines Denkmals: „Schon der historische Wert hatte […] die Tendenz gezeigt, einen entwicklungsgeschichtlichen Moment aus der Vergangenheit herauszugreifen und so deutlich vor unsere Augen hinzustellen, als ob er der Gegenwart angehören würde.“23

So sehr Riegl auch eine Zweiteilung des baulichen Kulturerbes in deren materiellen und deren sozial-konstruierten Bereich implizit anlegt, kämpfte er letztlich eine andere Schlacht der Werte, als sie heute noch gekämpft werden müsste und könnte: Seiner Schaffenszeit steht der architektonische Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts gegenüber. Die Phänomene, die ihn und seinen reichsdeutschen Kollegen Georg Dehio jeweils zu besonderen Formen der Denkmaltheorie führten, bestanden einerseits aus dem Diokletianpalast in Split, andererseits aus dem Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses. Beide sollten in neuwertige Zustände rekonstruktiv zurückversetzt werden.24 Riegl und Dehio sprachen sich dagegen aus. Für Riegl entscheidend war die ethische Frage: Welchen Zustand unseres Kulturerbes wollen wir? Soll der originale Zustand belassen werden oder soll er in einen vermeintlichen Ursprungszustand überführt und neuwertig ausgestaltet werden? Welchen Zustand will die Denkmalpflege? Welche die Kunstgeschichte? Welche gegenteiligen oder differenten Interessen werden an das Kulturerbe herangetragen?

Aber Riegl fragte nicht, ob es Originale gibt, er hinterfragte auch nicht, ob es einen Ursprung gibt oder nur zugesprochene Ursprünge. Allgemein fragte er nicht nach der Zuschreibung von Alterswert und historischem Wert. Diese Fragen sind erst einer konstruktivistischen Kultur geschuldet und deswegen schlage ich hier einen konstruktivistischen Weg der Werte vor, ohne seine Leistung schmälern, sondern nur ergänzen zu wollen. Werte, so die These dieses Buchs, werden Objekten des Kulturerbes zugeschrieben. Es sind historische Werte. Historischer Wert meint nicht wie bei Alois Riegl eine das Kulturerbe reflektierende Form, die wissenschaftlich erbracht wird und aus der wirkungsgeschichtlichen Rekonstruktion besteht und ohne Wissenschaft nicht auskommt. Historischer Wert wird hier anders verstanden: Es gibt nicht nur einen historischen Wert, sondern sechs historische Werte, die Objekten zugeschrieben werden können. Durch die Vielfalt der Werte lässt sich Kulturerbe analytisch sezieren und klassifizieren. Das hat den Vorteil, nicht mehr dem Original hörig sein zu müssen, sondern ein Spiel des Historischen zu eröffnen, das alle Bestandteile, die epistemischen, materiellen, temporalen, lokalen, ästhetischen, idealistischen, in einen semiotischen Austausch bringt. Das Original wird durch das Wort Authentisch ersetzt. Authentisch wird ein Objekt durch die historischen Werte.

Die authentische Stadt

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