Читать книгу Die authentische Stadt - Stefan Lindl - Страница 14
Kultur
ОглавлениеBislang war die Rede allgemein von Wert, ein noch unbestimmter Wert der Dinge, eine soziale Konstruktion. Bezogen auf die authentische Stadt weist Wert einige Spezifika auf. Ohne bereits auf das Authentische oder die Authentizität eingehen zu wollen, bleibt der Blick auf Bauwerke, die eine Stadt einzigartig machen. Durch sie wird die Individualität der Stadt sinnlich wahrnehmbar erzeugt. Das mag in Bekundungen ästhetischen Erstaunens münden, wie „Tolle Atmosphäre!“, „Ach, wie schön!“ oder einfach nur: „Wow!“. Aber diese scheinbare Spontaneität überschwänglicher Überwältigungsbekundungen für prominente Kulturdenkmale ruht auf diffundiertem Wissen und ästhetischer Präpositionierung durch Reiseblogs, Filme, Fotos, Erzählungen, Reiseliteratur. Die Stadtsilhouette von Florenz, der Markusplatz in Venedig, der Hradschin in Prag, die Pyramiden von Gizeh, die Golden Gate Bridge bei San Francisco, die Chinesische Mauer sind solche prominenten Beispiele, mit denen die Betrachtenden auf ihre soziale Präpositionierung der Bauwerke zurückgreifen können, um auf die sinnliche Wahrnehmung mit Lauten des Erstaunens reagieren zu können. Sollte tatsächlich ästhetische Überwältigung spontan vor bislang völlig Ungesehenem und Unbekanntem geschehen, so ist deren gewaltige Empfindung bereits durch ähnliche Ansichten, Eindrücke durch soziale konstruierte Ästhetik-Werte vorgeformt und ein Bewertungsmuster vorgegeben. Die bewusstseinsunabhängige Welt der Dinge ist also keineswegs so bewusstseinsunabhängig, wie der erste naiv-realistische Blick vermeint intuitiv belegen zu können. Sie sind bis zu dem Zeitpunkt nur für sich und bewusstseinsunabhängig, zu dem sie intentional eingebunden werden in kollektiv verbreitete, individuell verfügbare Wissensformationen. Dann transformieren sie sich in eine hohe Form der Bewusstseinsabhängigkeit. Die authentische Stadt ist eine sozial konstruierte Stadt und sie beruht auf spezifischen historischen Werten. Um sie geht es: die historischen Werte des Bau- und Kulturerbes. Es gibt mehrere historische Werte, die sich auf materielles und immaterielles Kulturerbe anwenden lassen. Kulturerbe wird hier im weitesten Sinne verstanden. Kultur ist nicht das römisch-antike dichotome Gebilde des Antonyms natura, dem Wilden, dem Belassenen, außerhalb der römischen Zivilisation. Kultur wird als eine sich wandelnde Umwelt verstanden, in der jeder Bereich des Lebensvollzugs eine bestimmte zeittypische Ausrichtung bekommt. Kultur ist also eine zeitautonome Erscheinungsform, sie entwickelt innerhalb einer bestimmten Zeitspanne ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, generiert ihre Unverkennbarkeit in Sprache, Wirtschaft, Politik, Jurisprudenz, Religionsausübung, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaften, Ingenieurswesen, Produktdesign, Mode, Ernährungsgewohnheiten. Die Gegenwart, in der dieses Buch geschrieben wurde, eignet verschiedenste Kulturen, die parallel in jenem Raum existieren, in dem es verfasst wurde: Mitteleuropa. Es lässt sich das Nebenher der weit verbreiteten Kulturen der Partizipation, des Pluralismus, der Gender-Race-Egalität, des Dekonstruktivismus, des Konstruktivismus, der Nachhaltigkeit und des Nationalismus, Rassismus sowie Faschismus analysieren. Darüber hinaus ließen sich noch viele weitere Kultur-Umwelten ausmachen. Sie sind alle Denkweisen, die in sich handlungslegitimierend und handlungsweisend sind, die sich wiederum in einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit positionieren müssen. Ihren Handlungsmöglichkeiten weist die Kultur der Rechtsstaatlichkeit Grenzen auf, legitimiert und delegitimiert sie. Kulturen produzieren Ästhetik und Habitus in zeitlicher Autonomie und beeinflussen sich gegenseitig, weswegen ihre Grenzen zu verschwinden scheinen und Trennschärfe kaum möglich ist. Die Kultur der Partizipation findet sich gekoppelt mit neo-faschistischer Kultur sowie mit der Kultur der Pluralität und jener der Nachhaltigkeit. Diese verschiedensten Kulturen produzieren Kulturerbe mit ebenso vermeintlich widersprüchlichen Ausformungen. Doch auch diese Gegenläufigkeiten, Enantiodromien, sind Teile der Autonomie einer bestimmten Zeit. Kulturerbe bewahrt diese kulturellen Gesetzmäßigkeiten, die irgendwann längst vergangen sein werden. Für die zukünftigen Gesellschaften ist dieses Kulturerbe wiederum wichtig, um ihre Differenz zur Vergangenheit positionierend zum Ausdruck zu bringen. Also gibt es eine Pflicht, Kulturerbe bewusst zu produzieren, damit es in die Zukunft hineinreicht und einst eine Gegenwart ermöglicht, die sich damit selbstreflexiv auseinandersetzen kann. Dies wird auch besonders in den nächsten Jahrzehnten eine Herausforderung sein, die von den Auswirkungen des Klimawandels bestimmt und eine Kultur der Nachhaltigkeit ausbilden wird, die wiederum Konsum, Kapitalismus, Mobilität sowie ökonomisches Wachstum, Grenzen der Vernunft sowie neue Formen der Globalität aufzeigt.
Kultur ist die Umwelt des Lebensvollzugs, die ihn bestimmt. Kulturerbe ist die immaterielle und materielle zeitlich autonome Äußerung der Relation Kulturumwelt / Lebensvollzug.