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5.10. Oktober 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

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Die Mail kündete sich unaufgeregt mit einem technokratischen „Pling“ an. Ein Geräusch, das inzwischen beinahe so vertraut war wie das eigene Atmen. Als Georg den Betreff las, traute er seinen Augen nicht. Kurzzeitig entzog es ihm den Boden unter den Füßen.

Beerdigung Frieda

Die unheilvolle Ankündigung traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Unerbittlich, knallhart und schwer zu verdauen. Bevor er weiterlesen konnte, musste er schlucken. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, er stellte den Blick scharf und las.

Hallo Georg,

leider haben wir lange schon nichts mehr voneinander gehört. Vermutlich sind wir beide beschäftigter, als uns lieb ist. Aber die Wissenschaft duldet nun mal keinen Aufschub und verlangt unsere volle Hingabe

Aber nun zu etwas Ernstem. Leider habe ich keine guten Nachrichten. Mehr oder weniger durch Zufall habe ich erfahren, dass unsere alte Studienfreundin Frieda durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen ist. Du weißt ja, wie das ist: einmal Wissenschaft, immer Wissenschaft und die Community ist dann doch nicht so riesig, dass schlechte Nachrichten einen nicht erreichen würden. Du machst dir gar keinen Begriff davon, wie schockiert ich war, als ich die Nachricht erfahren habe, aber dir wird es jetzt vermutlich auch nicht viel anders ergehen. Da reißt es einen von uns – du kannst dich ja sicherlich noch daran erinnern, was für eine verschworene Gemeinschaft wir waren – aus der Mitte des Lebens. Unsere Frieda (wenn ich mich recht entsinne, warst du ja mal mit ihr kurzfristig zusammen oder es hatte zumindest den Anschein …) ist auf der Plattform einer Windkraftanlage schwer verunglückt. Der Sturz aus über 100 Metern Höhe war tödlich. Ehrlich gesagt kommt mir das reichlich seltsam vor, da die Plattform zumindest provisorisch gesichert war. Und unsere Frieda neigte nie zum Grüblerischen, sodass ich von einem Unfall ausgehe. Sie würde sich doch nie im Leben etwas angetan haben, oder? Ich meine, man steckt im Anderen nicht drin und weiß nicht, wie sich jemand entwickelt. Aber bei Frieda kann ich mir so etwas unter keinen Umständen vorstellen. Und du? Hattest du in letzter Zeit Kontakt mit ihr? Ich vermute eher nicht, da wir uns ja alle aus den Augen verloren haben und nur durch Auszeichnungen, Berufungen, Todesfälle usw. voneinander hören. Anscheinend haben sogar die Staatsanwaltschaft und Kripo in Friedas Fall ermittelt, aber sie konnten wohl keinerlei Anzeichen für Fremdeinwirkung feststellen. Die Beerdigung findet am Dienstag, den 20. Oktober …

Den Rest der Mail mit einigen salbungsvollen, Trost spendenden Worten nahm Georg nur noch wie im Traum wahr. Das gab es doch gar nicht! Warum? Wieso? Wozu? Auf seine Fragen fand er keine Antworten. Er stützte seinen Kopf behutsam mit der rechten Hand ab. Seine Frieda! Ihm wurde richtig weh ums Herz, wenn er daran dachte, wie er sie mit ihrem obskur klingenden Verdacht von sich gewiesen hatte. Er vergegenwärtigte sich ihre tiefe menschliche Enttäuschung. Wie sie im Unfrieden auseinandergegangen waren, weil er zu langsam gewesen war, und sie nicht mehr hatte einholen können.

Und jetzt solch eine tödlich verlaufende Katastrophe. Tod durch einen Unfall? Selbstmord? Ihn ärgerte seine überlegene Arroganz, die er ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte à la „Sommer und ein wissenschaftlicher oder menschlicher Skandal? Undenkbar. Punkt.“ Umso mehr schmerzte ihn nun die Erinnerung an die Vehemenz, mit der sie ihm gegenüber ihre Anschuldigungen vorgetragen hatte. Auch körperlich. Ihre Hände hatten sich wie scharfe Krallen in seine Schultern gebohrt, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen und um ihm die Dringlichkeit ihres Anliegens vor Augen zu führen.

Für einige Stunden war Georg zu nichts mehr zu gebrauchen, er streckte sich auf der gelben Chaiselongue im unteren Wohnbereich aus. Die Bose-Anlage spielte leise Beethovens Neunte. Die Musik ließ ihn ruhiger werden. Er konzentrierte sich auf jeden einzelnen Ton, jede Note, jede Pause. Immer wieder erfasste ihn ein heiliger Schauer. In seinem Geist sah er die Musik – Noten wurden zu Bildern und Bilder zu Tönen. Als die Musik zu Ende war, rief er sich zur Räson. Schluss damit. Das Rum-Gehirne half keinem weiter. Davon wurde Frieda auch nicht mehr lebendig. Und auf seinem Schreibtisch wartete unglaublich viel Arbeit. Sein detektivischer Spürsinn war in den Gefilden der Wissenschaft gefragter denn je.

Nachdem er sich wieder in seinem Arbeitszimmer eingerichtet hatte, notierte er sich den Beerdigungstermin in einem altmodischen, in schweres schwarzes Leder gebundenen Kalender und nahm sich vor, erst wieder über die Affäre nachzudenken, wenn ihm neue Fakten bekannt waren. Beerdigungen waren ihm ein Graus, aber wenn er in dieser Sache klarer sehen wollte, führte kein Weg daran vorbei. Außerdem war er es Frieda schuldig, ihr das letzte Geleit zu geben. Zugleich spürte er das unbändige Verlangen, das Rätsel um Friedas Tod zu lösen. Denn, dass hier etwas nicht stimmte, lag klar auf der Hand. Und wie es den Anschein hatte, spielte Academia dabei eine unrühmliche Rolle. Zeit, die Wahrheit herauszufinden und die perfiden Masken bei diesem unrühmlichen Spiel herunter zu reißen. Nichts hasste er mehr als Verlogenheit, vor allem, wenn sie seine geliebte Wissenschaft betraf, die ja dazu dienen sollte, die Wahrheit hervorzubringen.

Mörderklima

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