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6.20. Juli 1998, Marburg

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Voller Enttäuschung und Wut presste sie ihr Ohr an die hauchdünne Wand, bis es richtig wehtat. Die Schmerzen waren in diesem Moment aber ihr geringstes Problem. Vielmehr setzten ihr Hennings heiseres Flüstern und Barbaras leises Stöhnen gnadenlos zu. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt unter dem lilafarbenen, britischen und sündhaft teuren Strickpulli, der ihre ohnehin nicht ausgeprägten weiblichen Rundungen gut kaschierte. Die Kälte kroch langsam von den Zehen an ihrem Körper hinauf, um dann mit einem Mal in nicht kontrollierbare Hitzewallungen umzuschlagen. Sie hätte niemals mit dieser dummen Schlampe in eine Wohngemeinschaft ziehen dürfen. Eine WG? Wie konnte sie nur so dumm sein? Wie konnte sie sich so sehr in einem Menschen täuschen? Niemals! Verzweifelt suchte ihr Blick Halt in dem karg eingerichteten Zimmer. Ihre Versuche, das Ganze wohnlicher zu machen, nahmen sich erbärmlich aus. Knallrote Teelichthalter. An der Decke aufgehängte rosafarbene Tücher. Eine grün-orange changierende Java-Lampe, deren Anblick einen in den Wahnsinn treiben konnte, die sie aber nicht entsorgen konnte, da sie ein Geschenk ihrer Eltern war. Nichts, aber auch gar nichts, bot Wärme oder Zuflucht. Wenn sie genügend Geld hätte, wäre es möglich, diesem Loch etwas Charme einzuhauchen. Aber die wenigen finanziellen Überschüsse steckte sie in Dinge, die ihr noch wichtiger waren als ein behagliches Zuhause, nämlich Kleidung und Kosmetik. Wie diese unglückliche Situation zustande kam? Wie das Leben so spielte. Man war jung, dumm und unerfahren, lernte sich kennen, fand sich nett und beschloss – ganz unverfänglich natürlich – eine Wohngemeinschaft zu gründen. Aus bloßem Gequatsche beim Kaffee wurde ernst. Was bei den Mietpreisen und der Wohnungsmarktsituation wirtschaftlich vernünftig war. So weit so gut. Aber dann stellte sich heraus, dass die ach so nette, liebe und freundliche Mitbewohnerin – und inzwischen beste Freundin – zugleich die schärfste Konkurrentin war. Das ein wenig graue, leicht übergewichtige Mäuschen hatte ihre Krallen ausgefahren. Nein, nicht im hehren Gebiet Academia. Ihre fachlichen Ausrichtungen waren zu unterschiedlich, als dass sie sich hier in die Quere hätten kommen können. Ach, hätte sich ihr Männergeschmack genauso unterschieden wie ihre Fächerpräferenz, dann würde sie diese Qualen nicht durchleiden müssen.

Wieder drang dynamisches Flüstern, Kichern und Jauchzen an ihr Ohr. So nah und doch so unendlich weit von ihr entfernt, dass es sie beinahe umbrachte. Dabei war es sie und nicht diese affektierte Schnalle gewesen, die den – seufz! – ach-sotollen Henning in der Studentencafeteria „Sonnenblick“ aufgegabelt hatte. Sie wollte schnell einen Pfefferminztee vor Prof. Dr. Renners Vorlesung „Smith‘ Liberalismus: Freiheit und ethische Verantwortung“ trinken, damit sie das leichte Kratzen im Hals in die Schranken verwies und die Flüssigkeit ihr zu einer besseren Aufnahmefähigkeit des universitären Stoffs verhalf. Als sie nach einem Platz in der überfüllten Cafeteria mit den hässlichen braunen Plastikstühlen suchte, sah sie ihn, ihn, ihn und er musste gar nichts tun – einfach nur da und er selbst sein – und schon hatte er sie vollkommen verzaubert. Henning hatte versonnen in seinem Becher mit Bircher Müsli gelöffelt und ihr keine Beachtung geschenkt. Sie war hin und weg, weil er so selbstbewusst, attraktiv und anziehend war. Von ihm ging eine, ja, unbeschreibliche Faszination aus, die rational nicht zu erklären war. Sein voller Lockenschopf bildete den Abschluss eines athletischen Oberkörpers. Das Gesicht war fein ziseliert und dennoch markant. Sein ausgeprägtes Kinn und die langgliedrigen, aber kräftigen Finger ließen auf Kraft und Entschlossenheit schließen, die sie sich gar nicht erst auszumalen getraute. Ihr Herz pochte heftig und sie glaubte, dass das Wummern durch den ganzen Lärm hindurch zu hören war. Schließlich fasste sie all ihren Mut zusammen und stellte die Frage aller Fragen …

„Klar ist hier frei“, lautete seine Antwort.

Die Stimme war faszinierend tief, angenehm und voller Wärme. Ihr Herz raste vor freudiger Aufregung, als sie ihm gegenüber sitzend betont beiläufig fragte, ob er die studentische Filmnacht besuche. Er zögerte keine Sekunde mit der Antwort. Sein freundlich umschriebenes „Nein“ brach ihr das Herz und es gelang ihr nicht, die Fassade aufrecht zu erhalten. Als Henning ihre Enttäuschung bemerkte, machte er es sofort wieder gut. Unglaublich, wie süß er sein konnte.

„Übermorgen steigt im Auditorium die Semesterabschluss-Fete. Wollen wir uns treffen? Das wird bestimmt cool.“

Die Frage meinte er nicht ernst, oder? Natürlich wollte sie. Nichts lieber als das. Die sterile Cafeteria leuchtete in den schönsten Farben. Leider hatte sie seinen Zusatz, dass sie jemand mitbringen könne, da er mit seinem Freund unterwegs sei, beherzigt. Der Kumpel war eine einzige Enttäuschung und jetzt saß diese gottverdammte Bitch im Nebenzimmer, allein mit dem von ihr vergötterten Henning. Was hieß da eigentlich – saß? Das Flüstern ging in ein seltsames Schmatzen und immer lauter werdendes Stöhnen über. Es tat ihr physisch weh, aber sie konnte die Bilder in ihrem Kopf nicht stoppen. Vor Wut biss sie sich so feste auf die Zunge, dass sie blutete. Das sollte sie ihr büßen, würde sie eines Tages noch bereuen und schrie nach Rache. Na warte, noch ist nicht das Ende aller Tage. Aber dann brach sie weinend auf ihrem billigen Studentinnen-Bett zusammen und schluchzte leise in ihr Kopfkissen. Ihre Feindin durfte auf keinen Fall mitkriegen, wie sehr sie die Niederlage schmerzte. Diesen Triumph würde sie ihr auf keinen Fall gönnen. Unter gar keinen Umständen und Rache war süß! Das schwor sie sich. Ganz und gar alttestamentarisch. Auge um Auge, Zahn um Zahn …

Aber es sollte noch schlimmer für sie kommen. Wenn sie das geahnt hätte …

Denn nur einige Tage später lag neben dem Waschbecken etwas, das sie bisher nur aus der Werbung kannte: ein Schwangerschaftstest. Vor Schrecken blieb ihr beinahe das Herz stehen. Dieses Drecksweib … Heißt das, dass sie nicht verhütete? Versuchte sie schwanger zu werden? Wusste er davon? Ihre zitternde Hand griff nach dem Stäbchen. Wenn sie sich jetzt von ihm auch noch ein Baby machen ließ, dann würde sie durchdrehen. Der arme Henning! Ließ sich von ihr vermutlich erzählen, dass sie die Pille nahm und dann … Dieser Hexe war alles zuzutrauen. Die schummrige Badezimmerlampe machte es schwierig etwas zu erkennen. Doch, keine Frage. Nur ein Balken. Nicht schwanger! Sie atmete tief und langsam aus. Eine zentnerschwere Last fiel ihr vom Herzen. Aber dennoch: Das würde sie ihr büßen. Diese Psycho-Spielchen würde sie noch bitter bereuen. Eins Tages. Denn der Herr sprach, die Rache ist mein.

Mörderklima

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