Читать книгу Mörderklima - Stefan Schweizer - Страница 9
3.6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven
ОглавлениеEs fiel ihr nicht leicht, die steilen Treppen hochzusteigen, was sich an ihrer heftigen Atmung zeigte. Sie spürte jeden einzelnen Chips, von den unzähligen Schokoladeneisen ganz zu schweigen, die sie abends gerne vor dem Fernseher genoss, während sie Filme über die Natur und Tiere oder noch lieber Lifestyle-Sendungen anschaute und Menschen bewunderte, mit denen sie nie Kontakt haben würde. Aber sie konnte ohne diese kleinen Schwächen einfach nicht sein. Denn dann wäre ihr Leben gänzlich ohne Freude und damit sinn- und zwecklos. Schon traurig, wenn es so weit mit einem gekommen war, aber diese kleinen Sünden gaben ihr Kraft und Energie, die Strapazen des Alltags auszuhalten. Die Metallstufen ragten hoch in ein dunkles Nichts und der Steigungswinkel war abenteuerlich. Sie keuchte und schnaufte wie eine alte Dampflokomotive. So etwas konnte nicht einmal Fitness-Freaks Spaß machen, von Schreibtischtäterinnen wie ihr ganz zu schweigen. Die Beleuchtung war spärlich – hier musste der Prototyp ohne Frage noch optimiert werden, wenn er für soziale Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen sollte. Wenn das kein Anlass war zu beschließen, mehr auf ihr Gewicht zu achten und Sport zu treiben, dann würde es einen solchen nicht mehr geben. Aber immerhin hatte die dumme Kuh hinter ihr auch ihre Probleme mit den schwierigen Rahmenbedingungen. Wenn man so dämlich war, für dieses Abenteuer moderne, pinke Stiefeletten mit gewagten Absätzen anzuziehen, konnte einem nicht geholfen werden. Oder? Sie hörte, wie diese fiese Pseudo-Lesbe, die ihr Coming-Out noch vor sich hatte, immer wieder in den quadratischen Hohlräumen der Leiter hängenblieb. Ha, das geschah ihr recht und vielleicht sollte sie anregen, dass in den nächsten Expertenbericht eingefügt wurde, die Treppen sollten für alle Altersklassen und jeden Modestil passen, damit die Bevölkerung möglichst keinen Stein des Anstoßes fand. Dennoch beunruhigte sie die Vorstellung, was dieses von Hass erfüllte Weib von ihr wollte. Berufliche Vernichtung? Im Ernst? Oder billige Rache für früher? Das war doch wohl nichts als ein schlechter Scherz. Sie versuchte lediglich, sie aus dem Konzept zu bringen. Natürlich gab es unbefristete und vor allem besser bezahlte Jobs, aber bei ihrem Posten saß sie sicher im Sattel. Da gab es kein Wenn und Aber … Und was war, wenn …? Jetzt schnürte es ihr die Kehle zu und sie keuchte ein wenig mehr als ohnehin schon. Denn genau genommen war ihr Beruf ihr ein und alles. Sie besaß sonst nichts, denn … Etwas anderes gab es im Moment nicht in ihrem Leben und von einem emsigen gesellschaftlichen Leben war sie Lichtjahre entfernt. Wenn man einmal von ihren drei Katzen absah. Ihren Babys. Aber die halfen im Zweifel beim Verlust der Arbeit nicht weiter – abgesehen vom abendlichen Kuscheln, aber das nur, wenn sie in Stimmung waren, die blöden Viecher. Und wenn sie ihren Job einmal verloren hatte, war sie geliefert. Dann war es Schluss, aus und vorbei. Wer nahm sie in ihrem Alter? Wo sollte sie unterkommen? Welcher Art von Arbeit sollte sie mit ihrer spezifischen Überqualifikation nachgehen? Nein, Toiletten würde sie bestimmt nicht putzen. Und Regale auffüllen, nur damit sie nicht durch das sogenannte soziale Netz fiel, kam auch nicht in Frage. Wenn sie sich umdrehte und plötzlich fallen ließ, dann würde dieser Strich in der Landschaft wie ein Papierblatt umfallen und die Treppen hinunterpurzeln. Wenn es dumm lief, brach sie sich dabei das Genick. Das wäre nicht unpraktisch. Oder? Aber vielleicht war es besser, sich erst einmal anzuhören, was die Hexe ihr mitteilen wollte. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie viel Wirbel um nichts machte und sich alles als heiße Luft entpuppte …
Als sie oben angekommen waren, atmete sie tief durch. Die dürre Schlampe mit dem Nervenschaden schaute sich nervös um. Die schlecht gesicherte Plattform auf dem Windrad schien ihr Angst einzujagen. Oder war es lediglich die Vorfreude auf das, was sie ihr mitteilen wollte? Die Seile zur Absicherung waren ein Witz. Wenn sie jetzt auf ihre Allzeit-Konkurrentin stürzte, dann war diese Geschichte. Für immer.
„Schöne Aussicht hier oben, aber beschissenes Wetter“, brach sie die Stille. „Und dafür hast du dir die Schuhe ruiniert.“
Die Spitze saß. Das Gesicht des Klappergestells verlor die Contenance. Ihr lächerliches Modebewusstsein war nach wie vor ein wunder Punkt … Zeit herauszufinden, was Sache war. Ihr fehlte schlichtweg die Phantasie sich vorzustellen, was Schlimmes kommen sollte.
„Wofür sind wir hier hinauf geklettert? Und was hast du mir zu sagen?“, fragte sie, während es sie Anstrengung kostete, sie nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.
Ah, dieses fiese Lächeln, das ihr eine böse Gänsehaut bescherte.
„Nun, meine Liebe, das möchte ich dir verraten …“
Als sie geendet hatte, bebte sie innerlich vor Wut. Die Kälte war vergessen. Ebenso die unsäglichen Anstrengungen. Was die Tante ihr gesagt hatte, war ungeheuerlich. So ungeheuerlich, dass sie sich beinahe vergaß. Was hieß da beinahe? Diese Schlampe wollte sie tatsächlich vernichten. Auslöschen! Exitus! Finito! Sie versuchte etwas zu entgegnen, brachte aber nur unverständliches Gestammele zustande.
„Da bist du aber ziemlich perplex, meine Liebe“, drang die vor Hohn und Boshaftigkeit triefende Stimme an ihr Ohr. „Da geht dir endlich mal der Arsch auf Grundeis. Das geschieht dir ganz recht und war längst überfällig. Da helfen dir auch keine Öko-Chips-Packungen oder Fair-Trade-Schoki weiter.“
Barbara hatte Mühe, Luft zu bekommen.
„Und in Sachen Männern hat sich das Blatt auch gehörig gewandelt, du Schlampe! Ich konnte nie verstehen, was die Herrenwelt an solch einer fetten Tonne wie dir finden konnte. Mir liegen nun nicht nur ältere, sehr arrivierte Herren zu Füßen …“
Oh, eindeutig eine Anspielung auf ihren Chef. Dieser gutaussehende, erfolgreiche Mann würde sich doch nicht freiwillig für eine alte Schachtel wie …
„… sondern auch ganz junge, knackige Kerle. Bei uns im Institut gibt es einen Doktoranden, Markus, der ist sooo fantastisch im Bett, dass du dir keinen Begriff machst. Du kannst ja mal auf unserer Instituts-Homepage nachschauen, dort gibt es ein kleines, süßes Bild von ihm oder aber auf Facebook, dort zeigt er sich etwas freizügiger beim Sport …“
Ihre weiteren Bemerkungen waren so taktlos wie ein mit Wodka abgefüllter Russe. Trotz der herrschenden Dunkelheit versuchte sie jetzt ihrer Todfeindin in die Augen zu schauen. Aber da war nur diese alberne, verspiegelte Sonnenbrille. Das Gesicht war eine lächerliche Fratze. Sie spürte eine Wut in sich emporsteigen, wie sie sie noch nie in ihrem Leben empfunden hatte. Ihr Inneres glich einem Vulkan, der kurz vor der Eruption stand. Durch die Wut gelangte sie zur Erkenntnis, dass dieses Problem nur auf eine bestimmte Art aus der Welt zu schaffen war. Dieser Gedanke traf sie wie ein heftiger elektrischer Schlag, während ihre Gesprächspartnerin sich in ihrem Sieg suhlte. Für alles im Leben gab es ein erstes Mal. Sie schloss die Augen und sammelte physische und psychische Energien. Keine Frage, der heutige Tag hatte ihr Leben grundlegend verändert. Und er war noch nicht vorbei. Entschlossen machte sie zwei kleine Schritte nach vorne, packte ihre Kontrahentin mit aller Kraft an den Schultern und sagte mit einer sie selbst erschreckend tiefen Stimme „Das hast du nicht umsonst gemacht, du Schlampe!“
Danach wurde alles schwarz.