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2.21. September 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

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Draußen stürmte es heftig, die düsteren Wolken zogen hastig über das Firmament. Noch regnete es nicht. Georg überlegte scharf und legte seinen Kopf vertrauensvoll in seine beiden langgliedrigen, aber feinen Hände, die sich samtweich anfühlten. Ein Blick aus dem hohen, beinahe bis zum antiquierten Kirschbaumparkettboden reichenden Fenster zeigte ihm, wie schön und behaglich es drinnen war. Die pompös angelegte Gartenanlage befand sich im Dunklen, während Bäume, Sträucher und andere Pflanzen vom Wind wie Spielzeug hin und her geschüttelt wurden. Lediglich der mit Wappen und Adligen aus vergangener Zeit verzierte Marmorbrunnen in der Mitte der Kiesauffahrt, die sich irgendwo im Nichts verlor, zeigte sich von den Wetterkapriolen unbeeindruckt.

Georg massierte sich sanft mit seinen Fingerspitzen die hohen, edlen Wangenknocken, um die Anspannung ein wenig zu lösen. Das seinem Mund entweichende, eher banale und nichtssagende „Uff!“ stand ein wenig im Kontrast zu seiner exquisit gekleideten Person, die sowohl einem ersten, als auch einem zweiten Blick standhielt.

Aller Anfang ist ja bekanntlich schwer, aber dieser hier hatte es ganz besonders in sich. Er presste die vollen, aber fein geschwungenen Lippen entschlossen aufeinander und seine hellblauen Augen funkelten vor Energie und Lebensfreude. Sorgfältig wägte er die Worte ab und spielte mehrere Satz-Varianten im Geiste durch. Aber er war nicht recht zufrieden. Keine der Möglichkeiten schien ihm für sein Vorhaben gut genug zu sein. Wie musste der erste, perfekte Satz eines wissenschaftlichen Aufsatzes aussehen? Eigentlich ein einfaches Unterfangen, denn er musste so eindrücklich und so wahr wie möglich sein. Das sagte sich leicht, war aber schwer zu realisieren. Lamentieren half nicht, denn das war sein Job, der ihm Freude bereitete und ihn erfüllte.

Der Klimawandel bildet eine universale, die Menschheitsgeschichte begleitende Konstante, welche das Dasein und das Zusammenleben der Menschen seit jeher geprägt und sogar bestimmt hat.

Ihm war aus seiner Lebenserfahrung heraus klar, dass es bei einer wissenschaftlichen Abhandlung nie bei einem einzigen Versuch eines ersten Satzes blieb. Der ihm jetzt vorliegende Satz traf zwar den Kern der Sache, aber er war dennoch nicht völlig zufrieden.

Georg blickte ein wenig unglücklich auf den gigantischen Computer-Bildschirm. Wenn er nicht etwas mit seinem teuren Füllfederhalter handschriftlich festhielt, arbeitete er ausschließlich hier. Die kleinen Laptop-Bildschirme verabscheute er, denn er war der Meinung, dass die Schreibutensilien einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Qualität des Geschriebenen besaßen. Er kniff die Augen zusammen. Aus kulturgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Perspektive gab es am Wahrheitsgehalt des Satzes nicht das Geringste zu deuteln. Aber dennoch setzte er sich mit einem solchen Entree sofort der Gefahr aus, in die Ecke derjenigen gestellt zu werden, die die Bedeutung des Klimawandels herunterspielen. Nichts lag ihm ferner als die Bedrohung, die vom Klimawandel ausging, zu relativieren. Der heutige, vom Menschen verursachte Klimawandel stellte eine der größten Herausforderungen für die Menschheit dar – ja für viele Menschen hing sogar das Überleben davon ab, wie dieser Klimawandelt vor sich ging. Das stand außer Frage. Dennoch, sein Satz war wahr, ohne Wenn und Aber. Doch die Klemme, in der er steckte, löste sich nicht auf. Eine verzwickte Situation und das bereits zu Beginn seines kleinen Werks. Das konnte ja noch heiter werden.

Zerstreut roch er am großen Kristall-Burgunderkelch, in dem eine dunkelrote, beinahe schon schwarze Flüssigkeit das dezente Licht des alten Kronleuchters reflektierte. Leichte Schlieren am inneren Rand des edlen Gefäßes bildeten verwobene Muster. Georg nahm das wunderbare Bouquet des apulischen Primitivo einer hoch geachteten italienischen Kellerei nur unterschwellig wahr: Sauerkirsche, Zwetschge, Brombeere, Vanille, Tabak, Leder, Unterholz und ein leichter Hauch mediterraner Kräuter.

Zum vollendeten, ambitionierten Weingenuss gehörten für Georg die Wahrnehmungen und Empfindungen des Auges, der Nase und des Gaumens. Aber im Moment war er zu belegt, um seine Sinneswahrnehmung voll zu entfalten. Ohne einen Schluck zu kosten, setzte er das Weinglas wieder ab und schrieb:

Obwohl der Klimawandel die Menschen vieler Epochen vor große Herausforderungen gestellt hat, bedeutet der heutige, anthropogen verursachte Klimawandel eine Gefahr, wie sie bis dato für unsere Spezies noch nie existierte.

Georg verabscheute unkultivierte Sitten und dennoch konnte er sich ein leises „Verflixt und zugenäht!“ nicht verkneifen. Eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad im zweiten Satz? Dadurch tat er sich keinen Gefallen, denn so räumte er in seinem kulturgeschichtlichen Aufsatz dem aktuellen Problem des menschlich verursachten Klimawandels eine Bedeutung ein, die dieser nicht besaß.

Die Bedeutung des heutigen Klimawandels zu untersuchen, wollte er dann doch lieber den Naturwissenschaftlern, Soziologen und Juristen überlassen. Oh, wie ihm diese einfach strukturierten Disziplinen und ihre Vertreter zuwider waren … Idealerweise sollte er erst am Ende des Aufsatzes den Bezug zur Gegenwart herstellen und dabei auf die mit dem Klimawandel verbundenen Gefahren hinweisen, wobei er mit Bewunderung an die junge schwedische Klima-Aktivistin Greta Thunberg dachte, die es in ihren Reden in einfachen Worten verstand, zum Kern der Sache vorzudringen. Er nahm einen Schluck Wein und balancierte das edle Rebengewächs im Mund, damit die Aromen-Intensität zur Entfaltung kommen konnte.

Der Aufsatz für ein angesehenes Fachjournal mit hohem Impact-Faktor erwies sich als Herkules-Aufgabe, hatten sich schon die Vorarbeiten als mühsam erwiesen. Er musste schließlich alles selbst erledigen, da er weder über eine Sekretärin noch über Mitarbeiter oder studentische Hilfskräfte verfügte. Doch Herausforderungen wie diese gaben ihm eine tiefe innere Befriedigung. Da er alles alleine auf die Beine stellte, hatte er die Gewissheit, dass alles passte, sauber erarbeitet war und jedem kritischen Blick standhielt. Seine wissenschaftliche Reputation bedeutete ihm viel, und es gab nur eine Sache, der er noch mehr Bedeutung zumaß …

Wenn nur dieser knifflige Anfang nicht wäre. Sobald dieser gelungen war, würde sich der Rest von selbst schreiben, dessen war er sicher. Beethovens Fünfte ertönte leise, bis sie schließlich laut vernehmbar war – das Telefon!

Er warf einen Blick auf die mit einem silbernen Armband und blauem Gehäuse versehene Patek Philippe. Kurz vor 22.00 Uhr. Wer konnte das sein? Eine Kollegin oder ein Kollege? Um diese Uhrzeit eher unwahrscheinlich. Eine Studierende, die fachlich weder ein noch aus wusste oder ihm ihr Herz ausschütten wollte? Wäre nicht das erste Mal. Trotz seiner hehren wissenschaftlichen Aura und seines mitunter distanziert-spröden Umgangs mit Studierenden außerhalb des Hörsaals, übte er aufgrund seines Aussehens und Charismas eine nicht zu unterschätzende Faszination auf die weibliche Hörerschaft aus. Oder war es Tabea? Aber sie hatten vereinbart, dass sie sich erst meldete, wenn sie wieder zurückgekehrt war …

Er eilte über die sachte knirschenden Holzbohlen zum Festnetzanschluss, der aus dem letzten Jahrtausend zu stammen schien.

„Georg Graf von Gleiwitz“, meldete er sich mit einer angenehm klingenden, tiefen Stimme, die nichts von der Spannung Preis gab, wer am anderen Ende der Leitung zu erwarten war.

Einen Augenblick lang herrschte Stille im Äther. Dann vernahm er leises, aber aufgeregtes Schnaufen.

„Georg?“

Die weibliche Stimme kam ihm trotz der schlechten Verbindung bekannt vor.

„Georg, bist du das?“

Er war nicht sicher, wem die Stimme gehörte. Bevor er den Fehler machte, sich mit einer Studentin auf Du und Du zu stellen, fragte er lieber nach.

„Frieda“, wurde er aufgeklärt.

Frieda? Wenn er doch nur drauf käme … Frieda? War das die kleine, ein wenig abwesend wirkende Blondine, die ihn immer mit offenem Mund und dumpfen, wässrigen blauen Augen aus der ersten Reihe anstarrte, während er sich über die schwierigsten Fragen der Menschheits- und Kulturgeschichte erging?

Nein …

„Von Fritsch.“

Frieda von Fritsch! Aber klar! Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Eine seiner Mitstreiterinnen vor unzähligen Jahren. Gemeinsam waren sie aufgebrochen, um die Welt der Wissenschaft im Sturm zu erobern und nun hatte sie die Realität eingeholt und ihnen die allzu glänzenden Illusionen geraubt.

„Ich muss mit dir reden, Georg!“

Die Worte waren schwer zu verstehen und Georg wusste nicht recht, ob es an der schlechten Verbindung lag oder ob Frieda zu aufgeregt war, um deutlich zu sprechen. Dem stünde ja nichts im Wege, gab er sich zurückhaltend.

Doch Frieda hauchte ein gepresstes „dringend, persönlich und unter vier Augen“ in den Hörer.

„Hat das nicht noch ein wenig Zeit?“, versuchte er sich ein wenig Luft zu verschaffen. „Kommende Woche würde es mir am Wochenende gut passen.“

Friedas Entgegnung war eindeutig: „Sofort! Ich bin einem Skandal auf der Spur, der die Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttern wird.“

Mörderklima

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