Читать книгу Mörderklima - Stefan Schweizer - Страница 7
1.6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven
ОглавлениеOh mein Gott! Wie sollte sie das nur durchstehen, wenn alle guten Geister und die Nerven sie verließen? Ihre Allüren musste sie schleunigst in den Griff kriegen. Aber sie fühlte sich schlecht wie schon lange nicht mehr. Dabei galt es, Stärke zu zeigen. Jetzt, im alles entscheidenden Moment. Aber ihr war die ganze Zeit über nicht wohl. Erpressung war nicht ihr Ding und schon gar nicht diese perfide Art von Erpressung! So was von gemein und niederträchtig. Ihr wurde schwindelig, am liebsten hätte sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Wenn es nur schon vorbei wäre. Sie zupfte an dem edlen, silbernen Hochkaräter herum, den sie von ihrer Großmutter vererbt bekommen hatte. Sie war nervös, zappelig und verspürte starke innere Unruhe. Was sollte sie tun? Es hing zu viel für sie davon ab. Genau betrachtet ging es um Beruf, privates Glück und ihre Zukunft. Also blieb ihr nichts übrig, als es durchzuziehen. Ohne nach links oder rechts zu schauen. Einfach durch und weiter. Sie schauderte vor Kälte und Anspannung, wobei sie den eleganten und komfortablen Burberry-Trenchcoat fester um sich zog. Sie besaß ein Faible für hochwertige Kleidung. Ohne einer bestimmten Stilrichtung anzuhängen. Ihre Garderobe musste teuer, von erlesenem Geschmack sein und was hermachen. Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit. 5° Celsius. Vor Kurzem hatte es geregnet. Der Wind pfiff unerbittlich und sie fror wie ein frisch geschorenes Schaf auf einer schottischen Weide, da die feuchte Kälte an ihr hochkroch. Es war heute nicht richtig hell geworden und nun war es am frühen Abend beinahe stockdunkel. Dennoch thronte die verspiegelte und vergoldete Ray-Ban-Sonnenbrille auf ihrem Haupt, die ihr Sicherheit verlieh. Ein goldener Oktober sah anders aus und von Klimaerwärmung war nichts zu spüren. Wer da von globaler Erderwärmung und Gefährdung der Menschheit fabulierte, der sollte sich hierhin stellen und sich seinen Allerwertesten abfrieren. Der Turm ragte wie ein weißer Riese in den Himmel, seine drei Rotorblätter drehten sich schnell. Obwohl kein Ton zu vernehmen war, kam es ihr vor, als ob das Zusammenspiel von Nabe, Rotor und Gondel unheimliche Geräusche verursachte, die wie Ächzen und Wehklagen klangen. Sie erinnerte sich an Berichte über empörte Anwohner*innen, die behaupteten, dass die Windräder Lärm verursachten. Das war umstritten, aber hier herrschte wirklich die Ruhe vor dem Sturm. Mit etwas Fantasie sahen die Rotorblätter aus wie Arme, die anämisch im Kreis ruderten. Wie andere Windkraftanlagen war auch diese auf einem Plateau errichtet worden, damit sie die Windverhältnisse optimal ausnutzen konnte. Bei dieser Kleinwindenergieanlage handelte es sich um den Prototypen eines großen, internationalen Forschungsverbundes. Das Ding war Millionen wert und sollte es sich durchsetzen, winkten immense Gewinne. Der Clou an diesem Windrad war die Aussichtsplattform. Diese Witzfigur von Soziologie-Professor hatte sich doch tatsächlich erdreistet zu behaupten, dass eine Aussichtsplattform auf den Windrädern die soziale Akzeptanz derselben erhöhen würde. Stimmte schon, die meisten Anwohner*innen wollten keine Windkraftanlagen in ihrer Nachbarschaft, da sie die Grundstückspreise senkten – da halfen auch in Aussicht gestellte Kompensationszahlungen nichts. Der Soziologe behauptete, dass es gut wäre, erst einen Prototypen mit der Aussichtsplattform zu bauen und diese dann für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dadurch würden die Anwohner*innen zugleich von einem Nutzen der Windkraftanlage profitieren. Zu vorgerückter Stunde hatte er einmal behauptet, dass es sogar denkbar wäre, eine Bar oder ein Restaurant in das Windrad zu integrieren.
Mit sich steigernder Verzweiflung blickte sie an dem über hundert Meter hohen Ungetüm empor und das visuelle Ineinander-Übergreifen der Rotoren und der schnell vorbeiziehenden Wolken verursachten ein heftiges Schwindelgefühl. Also blickte sie auf den Boden, stützte sich am kalten Metall des Turmes ab, spähte umher, konnte aber nichts erkennen. Undenkbar fand sie, dass in solch einem seltsamen Bauwerk eine Bar oder Ähnliches wäre. Schon die provisorische Aussichtsplattform da oben war beileibe abenteuerlich genug …
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Jetzt nicht durchdrehen. Wenn du cool bleibst, wird alles gut. Dann kannst du erreichen, was du dir vorgenommen hast. Alles, was das Leben dir zu geben bereit ist.
Ein Blick auf die für ihren Geschmack viel zu kleine goldene Rolex versetzte sie in Rage.
19.25 Uhr.
Ihr Tête-à-Tête war zehn Minuten zu spät. Ein absolutes No-Go. Wenn sie etwas hasste, dann war es Unzuverlässigkeit. Das sollte die Schlampe ihr büßen. Schon alleine für die Unverfrorenheit, dass sie sie hier warten ließ, hatte sie die denkbar schlimmste Strafe verdient. Und wenn sie an die Geschichte von früher dachte, die nachdrücklich ihr Leben geprägt hatte, dann schürte es ihr den Hals zu und es fiel ihr schwer, regelmäßig zu atmen. Das war längst nicht vergessen und vergeben gleich gar nicht. Vernichtung hieß ihre Agenda. Auch wenn sie mit dem Weg dahin nicht einverstanden war und der Plan nicht von ihr stammte. Wie kompliziert das alles war und noch werden konnte.
Plötzlich hörte sie ein scharfes: „Du wolltest mich also dringend sprechen?“
Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder. Die Stimme kam aus dem Off, überraschte sie in ihrer Gedankenwelt und langsam begriff sie, dass sich ihre Kontrahentin von hinten angeschlichen hatte. Sie musste durchatmen, Kontrolle gewinnen und Sicherheit ausstrahlen. Nicht ganz einfach. Sie überlegte sich, ob sie ihr eine runterhauen sollte, entschied sich aber lieber dafür, die Augen zu schließen und sich eine grüne Wiese vorzustellen. Als sie sie wieder öffnete, lächelte die Tonne boshaft und von oben herab. Aber dieses dümmliche Grinsen würde ihr vergehen, wenn sie alles auf den Tisch gepackt hatte. Schon alleine ihr Aussehen war das Letzte. Sie war mindestens zwanzig Kilogramm zu schwer und ihre adipöse Erscheinung wirkte wie ein gigantischer Schutzwall. Wie manche Männer so etwas mögen konnten, war ihr ein Rätsel. Das hatte mit weiblichen Rundungen und Reizen nichts mehr zu tun. Das war pures Fett und sah fehl am Platz aus. Ihr Gesicht war bestenfalls ein pausbäckiges, dumm drein glotzendes Mondgesicht. Und dann diese furchtbare Kleidung. Ohne Geschmack und Stil. Eine visuelle Katastrophe, die ‚Tritt mich, ich bin hässlich, dumm und fett!‘ schrie. Alle Kleidung in kackbraun – immerhin ging sie mit den Jahreszeiten, hihihi. Bequeme Öko-Treter, bestimmt von Hess Natur oder solch einem Ich-bin-ein-guter-und- verantwortungsvoller-Mensch-Laden, darüber eine feine Stoffhose, die sicherlich nicht günstig gewesen war, aber wie ein Kartoffelsack im Zeltformat wirkte. Die Allwetterjacke verstärkte den Eindruck einer Alternativen-Fair-Trade-Trulla, was durch das elegante Seidentuch, das sie wie einen Schal um den verfetteten Hals gewickelt hatte, konterkariert wurde. Alles sah degoutant aus und passte nicht zusammen. Das Make-up verstärkte den negativen Eindruck. Zum Glück konnte sie die Schminke nicht genau erkennen, denn bei so viel ökologischer Korrektheit und schottischer Sparsamkeit am falschen Fleck wäre ihr vermutlich noch übler geworden. Es passte nichts zusammen und herauskam ein belangloses Sammelsurium, das wie beliebig hin geklatscht wirkte. Und dann wagte sie in ihrer bodenlosen Dummdreistigkeit den Mund aufzumachen und sie blöd von der Seite anzuquatschen, anstatt ihr den nötigen Respekt zu zollen.
„Findest du es nicht ein wenig melodramatisch, sich ausgerechnet hier zu treffen? Am frühen Abend und ganz alleine? Nicht einmal in mein Büro wolltest du kommen. Möchtest du Feldstudien betreiben oder sicher gehen, dass niemand unser Gespräch mithört? Ist es wirklich so dringlich und geheimnisvoll? Oder machst du dich mal wieder wichtig? Viel heiße Luft um Nichts? Das ist es doch immer gewesen. Ganz viel heiße Luft um Nichts. Nicht wahr?“
Die dumme Kuh gackerte selbstverliebt los und gluckste ein wenig. Schluss damit! Es war an der Zeit, andere Seiten aufzuziehen und die Initiative zu gewinnen.
„Hallo meine Süße. Gut siehst du aus. Beinahe wie früher. Nur, dass die viele Schokolade und die unzähligen Bio-Fertiggerichte dich etwas unförmig haben werden lassen. Man sollte auch von dem Bio-Kram nicht mehr als zwei Mahlzeiten am Abend essen. Und Fett bleibt nun einmal Fett, ob biologisch oder konventionell hergestellt. Aber darum geht es nicht. Was ich dir zu sagen habe, wird dein Leben grundlegend verändern.“
Ein klein wenig verlor die Fassade der adipösen Mitvierzigerin an Selbstsicherheit. Treffer! Ha, das verlieh ihr Auftrieb.
„Deine berufliche Existenz hängt von mir ab. Das macht dir doch hoffentlich keine Angst. Oder etwa doch?“
Jetzt genoss sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Ihre Überlegenheit war auf einen Schlag verschwunden. Stattdessen breiteten sich Fragezeichen, Zweifel und Angst auf ihrem Gesicht aus. Wäre es ihr möglich gewesen, hätte sie diesen Augenblick für die Ewigkeit auf Zelluloid gebannt. Oder in einem Gemälde.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, setzte sie nach und schloss die schwere Sicherheitstüre auf, die in das Innere des Windrads führte. „Dazu müssen wir nach oben“, fügte sie hinzu und zeigte auf den steilen Aufstieg, der aus einer einfachen Metallleiter bestand.
Jetzt bebte sie vor Freude, da sie pure Panik bei der ihr seit Jahren verhassten Person spürte. Diese Vibes verschafften ihr ein unvergleichliches High. Oh, es war so unbeschreiblich schön, Macht zu besitzen und einen anderen Menschen zu zerstören.
„Nach dir, bitte!“, zirpte sie mit ihrer süßesten Stimme. „Es wird nicht lange dauern.“
Voller Vorfreude stellte sie sich das Erstaunen vor, wenn sie die Bomben platzen lassen würde. Das hatte nicht nur etwas mit dem Beruf zu tun, sondern lag im zutiefst persönlichen Bereich … Das Glück, das sie bei dieser Vorstellung verspürte, bedeutete ihr inzwischen beinahe alles.
Jetzt, da sie auf der Plattform angelangt war, war sie erstaunt, wie schlecht alles abgesichert war. Es machte einen gewaltigen Unterschied aus, über Dinge in der Theorie zu schreiben und sie dann Realiter zu sehen. Auf der anderen Seite waren Ingenieure und Konstrukteure für die Herstellung des Produkts verantwortlich, während sie sich um die ökonomischen Aspekte kümmerte. Bei ihr ging es um andere, aber nicht minder wichtige Fragen, als die der Stabilität und Funktionalität. Das die Gondel bis zur Nabe umzäunende Außengeländer ging ihr zwar bis knapp über die Hüfte, bestand aber nur aus zwei Drahtseilen. Der Abstand zwischen den Seilen war abenteuerlich groß. Natürlich würde die Sicherung bei dem Windkraftrad ganz anders aussehen, sollte es in Serie hergestellt werden. Wenn sich schließlich Anwohner*innen und Tourist*innen auf die Plattform begaben, um die sie umgebende Natur zu bestaunen und eventuell sogar noch ein Getränk zu konsumieren, dann mussten besser schützende Geländer her. Windkrafträder mit Aussichtsplattform gab es bisher nur ganz selten in der Welt und ein solches wie hier noch nirgends sonst. Das konnte sich aber bald ändern, glaubte man den neuen Forschungsergebnissen. Die integrierte Aussichtsplattform zu besseren Akzeptanzzwecken war ein Novum und sollte die deutsche Energiewende entscheidend voranbringen. Die Aussichtsplattform an sich war zwar nicht neu, aber die Konzeption sah ja vor, dass diese ein wesentliches Element der Windkraftanlage sei, um deren soziale Akzeptanz zu fördern. Wie ein Mantra hatten die Sozialwissenschaftler den einfachen Gedanken erklärt: Wenn die Menschen erst die wunderbare Aussicht von dem Windrad entdeckten, so der Gelehrte der Gesellschaftswissenschaften, dann wären sie in der Lage, es als wichtigen Bestandteil ihrer natürlichen Umgebung anzusehen. Natürlich war die hiesige Plattform ein Provisorium. So etwas wäre für den öffentlichen Zugang äußerst riskant. Aber den am Projekt beteiligten Wissenschaftler*innen traute man offensichtlich zu, dass sie nicht Gefahr liefen, zwischen den Stahlseilen in die Tiefe zu stürzen. Als knallharte Ökonomin hielt sie den sozialen Aspekt der Akzeptanz für übertrieben, unnötig und viel zu kostspielig. Aber so war das mit inter- und transdisziplinären Wissenschaftsprojekten eben. Jeder noch so kleine und häufig unnötige Wunsch musste berücksichtigt werden.
Sie erinnerte sich, vor Kurzem selbst in einem Forschungsbericht geschrieben zu haben, dass es sich bei der Windkraftanlage um einen vielversprechenden, sprich lukrativen, Prototypen handelte, an dem einige Riesen der Energiewirtschaft brennend interessiert waren, was vor allem mit technischen Neuerungen bei der Stromproduktion zusammenhing. Bis das Ding aber Produktionsreife erlangte und die fette Kohle brachte, vergingen einige Jahre. Und dann gab es ja noch Leute wie ihre Feindin, die nach der gesellschaftlichen Akzeptanz eines solchen technischen Geräts fragten. Als ob es nichts Sinnvolleres zu tun gäbe. Ach, wie einfach es wäre, jemanden hier in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Das wäre eindeutig simpler, als das volle Programm durchzuziehen. Auf der anderen Seite würde diese Vorgehensweise ihrer Feindin die unsäglichen Leiden und Qualen ersparen, die sie feinsinnig und detailliert ersonnen hatte. Also, wieso nur hegte sie solch düstere Gedanken, die sie um den Ertrag ihrer mühsamen Arbeit bringen würden? Weil ihr bitterkalt war? Weil sie außer Atem war – wegen der vielen Stufen? Weil sie ihre neuen Stiefeletten ruiniert hatte? Weil sie nicht wusste, wie die andere reagieren würde? Vielleicht war ihr ja alles gleichgültig und sie nahm es anders auf als geplant? Nein, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Denn in ihren Plänen hatte sie jede feine Nuance bedacht. Also, wenn sie es bei rechtem Licht besah …