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2.5 Gibt es überhaupt Religionen?

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Die Frage in der Überschrift mag zunächst ungewöhnlich erscheinen. Die postkoloniale Kritik an der erkenntnistheoretischen Kategorie der Religion kann jedoch die Konsequenz nach sich ziehen, danach zu fragen, was mit diesem Begriff denn nun eigentlich gemeint ist: Auf welche kulturellen und historischen Phänomene trifft der Begriff in welcher Weise zu? Gibt es ein Machtinteresse, das mit seiner Verwendung verbunden ist oder war? Welche Funktion übte er beispielsweise in der Legitimation und Praxis der Kolonisierung aus1?

Auch die aktuelle Religionswissenschaft sieht berechtigte Zweifel an der Konsistenz des Religionsbegriffs, insbesondere in seiner Anwendung. Denn eine Religionswissenschaft, die sich neutral gegenüber den Selbstdefinitionen der Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Konfessionalismus verhalten will, steht vor dem Problem zu entscheiden, wie eine Religion genau zu definieren oder zu beschreiben ist. So schreibt Ulrich BernerBerner, Ulrich:

„Die Problematik all dieser Ordnungs- und Klassifikationsversuche […] liegt […] in der Tendenz zur Essentialisierung, d.h. der Tendenz, das ‚Wesen‘ oder die ‚Sinnmitte‘ der einzelnen Religionen oder der Religion überhaupt zu definieren.“2

Welchen Stellenwert besitzt beispielsweise für ‚das Christentum‘ die Bibel oder die Eucharistie? Je nach christlicher Konfession wird das ein anderer sein. Dasselbe gilt für den Sabbat ‚im Judentum‘ oder den Koran ‚im Islam‘. BernerBerner, Ulrich zitiert daher Pierre BourdieuBourdieu, Pierre mit der Aussage, dass vielen „gemeinhin als christlich bezeichneten Glaubensinhalten und Praktiken“ oft „kaum mehr als der Name gemein ist“3.

Nicht-Homogenität von ReligionenReligionen sind also nicht homogen, wurden aber gerade in der kolonialen Praxis häufig als solche behandelt, um sie durch die ↗ Essentialisierung leichter beherrschen und manipulieren zu können, sowie durch sie die koloniale Herrschaft zu stabilisieren. Die koloniale Religionswissenschaft unterstützte diese Praxis, indem sie verschiedene Ausprägungen einer Religion zu ‚abweichenden‘ oder ‚heterodoxen‘ Strömungen erklärte, häufig in Übereinstimmung mit einheimischen Eliten, mit denen die Kolonialbeamten zusammenarbeiteten.

→ KwokKwok, Pui-lan Pui-lan kritisiert diese westliche religionswissenschaftliche Praxis als eine „Reifizierung der Religionen“4, also ihre Verdinglichung oder Essentialisierung. Was an einer Religion lebendig, flexibel und auf Austausch ausgerichtet ist, wird zugunsten eines starren, scheinbar wissenschaftlichen Begriffs von unterscheidbaren Religionsgemeinschaften zurückgedrängt.

Dieser Ausschluss kann sogar – wie der chinesische Theologe LaiLai, Pan-chiu Pan-chiu erläutert – christliche Traditionen in einem kolonialen Setting treffen: Christliche Spuren in Asien, die von nestorianischen, arianischen und monophysitischen ChristInnen aus der Zeit ihrer Verfolgung im Römischen Reich stammen, wurden in der kolonialen Mission nicht als etwas christlich-Eigenes aufgegriffen sondern als heterodox abgelehnt. Sie können aber heute zur Ausbildung einer eigenen, inkulturierten chinesischen Identität des Christlichen beitragen5.

Der Reifizierung oder Verdinglichung der Religionen entspricht eine trennende oder unterscheidende Abgrenzung der einen von der anderen Religion. Die verschiedenen Beziehungen, die Angehörige der Religionen untereinander aufbauen, werden marginalisiert oder zur Abweichung erklärt. So scheinen etwa die Möglichkeiten der Marienverehrung im Hinduismus6 oder der Sabbatobservanz statt Sonntagsheiligung im Christentum für die jeweilige Religion untypisch zu sein. Sie stellen aber Beispiele von Praktiken dar, die bei Angehörigen vieler Religionen selbstverständlich geübt werden, wenn sie in ihren Kontexten mit Riten und Überzeugungen von Angehörigen anderer Religionen in Berührung kommen. Solche Phänomene verweisen auf diese Weise darauf, dass eine essentialistische Beschreibung von Religionen ihrer lebendigen kulturellen und interkulturellen Dynamik überhaupt nicht angemessen ist.

Vielmehr muss jedes Studium ‚der Religionen‘ der Tatsache Rechnung tragen, dass es Vielfältige Beziehungen zwischen Religionenvielfältige Beziehungen zwischen den Religionen gibt, nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch wechselseitige Abhängigkeiten, geteilte und verwobene Geschichten. Der Begriff der „entangled histories“7, der von der postkolonialen Ethnologin Shalini RanderiaRanderia, Shalini vertreten wird, und die Tatsache benennt, dass auch scheinbar getrennte Geschichten immer ineinander verwoben und miteinander verflochten sind, hat hier seine besondere Berechtigung.

So zeigt beispielsweise Sigrid RettenbacherRettenbacher, Sigrid in ihrer Dissertation, wie verschiedene Religionsgemeinschaften ihre Beziehungen, Differenzen und Abgrenzungen im Lauf der Geschichte immer wieder durch ↗ Verhandlungen im Diskurs ausbildeten8. Christentum und Judentum waren nach dieser Lesart sehr viel länger miteinander verbunden und trennten sich erst dann in zwei voneinander zu unterscheidende Religionsgemeinschaften, als das Christentum eine Machtposition im Römischen Reich gewonnen hatte. Der äußeren Abgrenzung zwischen den künftig als getrennt wahrgenommenen Religionen entspricht dabei genau auch eine innere Essentialisierung:

„Mit der Trennung bzw. Schaffung von Judentum und Christentum im vierten Jahrhundert wurde also zugleich auch die Differenz von Orthodoxie und Häresie festgeschrieben, so dass fortan eindeutig zu definieren war, wer sich drinnen und wer sich draußen befindet.“9

→ R.S. SugirtharajahSugirtharajah, R.S. macht auf die Verflochtenheit des Christentums mit den asiatischen Religionen aufmerksam: Durch „Händler, Handwerksleute, Migranten und vor religiöser Verfolgung Flüchtende“10 breitete sich das ‚Christentum‘ in den ersten Jahrhunderten in die gesamte damals bereiste Welt, bis ins heutige Japan, aus, ohne gezielt ‚Mission‘ im heutigen (oder im kolonialen) Sinn zu betreiben. Auch umgekehrt lassen sich Spuren östlicher Weisheit und Kulturen in den christlichen Überlieferungen nachweisen. So korreliert Sugirtharajah den historisch bezeugten „religiösen Akt der freiwilligen Selbstopferung“11, der von dem indischen (buddhistischen?) Emissär ZarmanochegasZarmanochegas im Jahr 37 v. Chr. in Athen vollzogen wurde, mit der Selbstverbrennung, auf die PaulusPaulus in 1 Kor 13,31 Kor 13,3 anspielt. Religiöse Traditionen müssten insofern immer als ↗ Hybride gelesen werden und verweisen auf interreligiöse Beziehungen.

In der postkolonialen Kritik wird aus diesen Gründen der Infragestellung des ReligionsbegriffsReligionsbegriff selbst in Frage gestellt. Der britische Religionswissenschaftler Richard KingKing, Richard urteilt, dass der Begriff Religion selbst „eine Kategorie der christlichen Theologie“ sei, „das Produkt kulturell spezifischer Diskursprozesse christlicher Theologie im Westen, hergestellt im Schmelztiegel interreligiösen Konflikts und Interaktion.“12 Durch die Aufnahme dieses christlich-theologischen Begriffs in die westliche Religionswissenschaft, argumentiert KwokKwok, Pui-lan Pui-lan, erhält er eine Deutekraft über alle Phänomene weltweit, die mit ihm bezeichnet werden, ungeachtet ihrer kulturellen Besonderheiten, sogar in säkularen akademischen und dadurch auch nicht-akademischen Kontexten. „Auf diese Weise dient das Christentum weiterhin als Prototyp einer Religion und als Standard, mit dem andere Weisheitstraditionen bewertet werden“13, folgert Kwok.

Auch Sigrid RettenbacherRettenbacher, Sigrid argumentiert (mit Daniel BoyarinBoyarin, Daniel): „Religion“ gibt es als „erkenntnistheoretische Kategorie[…]“14 nicht vor dem 4. Jahrhundert u.Z. Diese Kategorie und mit ihr die ‚Religionen‘ des Christentums und des Judentums wurden „erfunden“ (invented)15, um das bezeichnen zu können, was sich durch die Trennung von Judentum und Christentum auszudifferenzieren begann. Diese religionswissenschaftliche Kategorie kann daher nicht ohne weiteres auf ganz andere kulturelle Phänomene in weit entfernten Kontexten angewendet werden.

Welche Konsequenzen sich daraus für die koloniale Religionswissenschaft ergaben, zeigt RettenbacherRettenbacher, Sigrid an zahlreichen Beispielen. So zeichnet sie nach, wie bei der kolonialen Beschreibung des Hinduismus gezielt nach Phänomenen gesucht wurde, die man aus dem Christentum kannte, nämlich heiligen Schriften und geistlichen Eliten, ohne sich zu fragen, ob solche Institutionen tatsächlich auch eine wichtige Bedeutung in der untersuchten ‚Religion‘ besaßen – bzw. welche Bedeutung das war16. So kann man von einer westlichen Erfindung des Hinduismus im Interesse der Kolonialmacht und der mit ihr zusammenarbeitenden einheimischen Eliten sprechen.

Dass in einer Religionswissenschaft, die von solchen Voraussetzungen geprägt ist, der unmittelbare Vergleich zwischen dem Christentum und den ‚Religionen‘ der kolonisierten Völker in der Regel zugunsten der Religion der Kolonialherren ausging, mag da nicht mehr überraschen. Dieses Selbstverständnis der eigenen Überlegenheit deckt KwokKwok, Pui-lan Pui-Lan jedoch auch noch in der säkularisierten Religionswissenschaft und in der liberalen Religionstheologie, etwa bei John Hick, auf. Dessen Annahme, dass alle Religionen Antworten auf dieselbe transzendente Realität seien, verwischt nach ihrer Kritik die tatsächlichen Differenzen zwischen den Religionen und betrachtet sie wiederum aus einer scheinbar überlegenen westlichen Perspektive – nun des Pluralismus17.

Ein solcher nivellierender Pluralismus wird den vielfältigen Differenzierungen in der Welt der ‚religiösen‘ Phänomene nicht gerecht: „Statt unser Denken auf das liberale Paradigma des religiösen Pluralismus zu bauen, müssen wir eine postkoloniale Theologie der religiösen Differenz in den Blick nehmen“18, schreibt KwokKwok, Pui-lan. In dieser Theologie stehen dann nicht mehr ‚Religionen‘ als essentialisierte und abgegrenzte Größen im Blickpunkt, sondern die Differenzen, die sich zwischen den Erfahrungen von Menschen aus unterschiedlichen kulturellen, weisheitlichen, lebensweltlichen und religiösen Kontexten ergeben.

Zugleich richtet eine postkoloniale Theologie der Religionen ihren Blick nicht nur auf die Differenzen zwischen den religiösen Erfahrungen, Vorstellungen und Praktiken, sondern auch auf ihre Gemeinsamkeiten, Überlappungen und Komplementaritäten. So beschreibt der malaysische Jesuit Jojo FungFung, Jojo, der auf den Philippinen lehrt, die verschiedenen Erfahrungen des Geistes in der indigenen Welt, im Schamanismus, in der chinesischen Kultur, in der Bibel und in der säkularen Moderne und bezieht die unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander19. Auf diese Weise kann er herausstellen, dass es ungerecht und unzutreffend ist, dem Schamanismus und den indigenen Religionen Primitivität zu unterstellen und die säkulare Moderne (oder das Christentum) demgegenüber für fortschrittlich zu halten. Vielmehr zeigen sich für Fung in diesen verschiedenen Beschreibungen des ‚Geistes‘ unterschiedliche Ausdrucksformen der menschlichen Suche nach einer Beziehung mit dem in der Bibel beschriebenen Geist Gottes. Der Schamanismus muss daher aus christlicher Sicht für Fung respektiert und als Dialogpartner geschätzt werden.

Postkoloniale Theologien

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