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1.2 Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff
ОглавлениеIm deutschsprachigen Raum gibt es bereits sehr gute Einführungen in die postkolonialen Studien, auf die hier verwiesen werden kann. Die wichtigste Sekundärliteratur wird im Anschluss an diesen Abschnitt vorgestellt. Der Überblick über Geschichte und Begriff des Postkolonialismus kann daher an dieser Stelle relativ kurz ausfallen. Theoretische Konzepte und Inhalte der postkolonialen Studien werden dann in den zentralen Kapiteln dieses Buches anhand ihrer Rezeption in die Theologie vorgestellt und diskutiert. Für eine vertiefte Befassung mit einzelnen AutorInnen und Begriffen der postkolonialen Studien muss auf die entsprechende Literatur verwiesen werden.
Postkoloniale Theorien wachsen aus der Vorgeschichte eines vielschichtigen Widerstands gegen die koloniale Herrschaft während der Kolonialzeit. Dieser Widerstand konnte sich im Alltag ereignen, auf juristischer oder philosophischer Ebene, im militärischen oder zivilen Bereich. Auch im religiösen Bereich sind zahlreiche verschiedene Formen des Widerstands bezeugt. Auf diesen Praktiken und Erfahrungen bauen die theoretischen Arbeiten des Postkolonialismus auf. Die starke Fokussierung postkolonialer und dekolonialer Theorien auf Diskurse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte diese Geschichte des Widerstands und des prophetischen Widerspruchs in all seiner Vielschichtigkeit nicht verdecken.
Für die postkolonialen Studien im engeren, heute gebräuchlichen Sinn des Wortes gab die staatliche Unabhängigkeit asiatischer und afrikanischer Kolonien in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst den Anstoß zu kritischen Untersuchungen in englischsprachigen Geschichts- und Literaturwissenschaften, in denen der Einfluss der kolonialen Macht auf die Interpretation Verbindung von kolonialer Macht und Wissensproduktionvon Geschichte und Literatur aufgedeckt wurde: Die Darstellung und Interpretation historischer Ereignisse und sowohl die Inhalte wie auch die Erzählweise und die Interpretation literarischer Werke gehorchten in vieler Hinsicht den Machtinteressen der Kolonialherren, auch nach dem Ende ihrer politischen Macht. Durch kritische Analysen und alternative Erzählungen konnte ein alternativer, befreiender Blick auf scheinbar bekannte Tatsachen entwickelt werden. Schnell wurde diese kritische Perspektive auf die Verbindung von kolonialer Macht und Wissensproduktion auch in anderen akademischen Disziplinen aufgegriffen. Der Fokus auf Texte, der den Literatur- und Geschichtswissenschaften eigen ist, bleibt den postkolonialen Studien jedoch bis heute als Erbe erhalten, das teils auch kritisch angefragt wird.
Als ein Schlüsselereignis der Entwicklung der postkolonialen Theorien gilt weithin die Veröffentlichung der Studie „Orientalismus“ des palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward W. SaidSaid, Edward 19781. Said zeigt nicht nur an literarischen Werken und wissenschaftlichen Arbeiten aus der Kolonialzeit, sondern auch an Gebrauchstexten wie Reisebeschreibungen und bürokratischen Texten, dass in allen diesen Bereichen das Wissen über die Gegenden, die als Orient bezeichnet werden, mit der Intention konstruiert wurde (und wird), die Menschen, die dort leben, besser beherrschen zu können und ihre Ausbeutung zu legitimieren.
Etwa gleichzeitig befasste sich die Subaltern Studies Group – ein Zusammenschluss südasiatischer WissenschaftlerInnen um den indischen Historiker Ranajit GuhaGuha, Ranajit – mit einer Kritik der europäischen (v.a. britischen) Geschichtsschreibung über Indien und historisch verbundene Staaten. Mit dem Begriff des/der ‚Subalternen‘ griff die Gruppe ein Konzept von Antonio GramsciGramsci, Antonio auf, das in den postkolonialen Theorien prägend wurde, um Menschen zu bezeichnen, die in verschiedener oder sogar vielfacher Weise unterworfen und ausgebeutet sind.2 Ein wichtiges Mitglied dieser Gruppe war die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty SpivakSpivak, Gayatri. Sie brachte nicht nur den französischen Poststrukturalismus in die Debatte ein, für den sie als Expertin galt, seit sie 1976 De la grammatologie von Jacques DerridaDerrida, Jacques ins Englische übersetzt und mit einer vielbeachteten Einleitung versehen herausgegeben hatte. Sie vertritt auch eine konsequent feministische Position im Postkolonialismus und integriert kritisch-marxistisches Denken.3
SpivakSpivak, Gayatri Epistemische Gewaltmacht auch darauf aufmerksam, dass die ↗ epistemologischen Voraussetzungen des Kolonialismus und die Ideen und Vorstellungen, mit denen er seine Herrschaft durchsetzt, nicht nur Gewalt nach sich ziehen, sondern als ↗ „epistemische Gewalt“4 bereits selbst beinhalten. Das scheinbare Wissen, das im Kolonialismus (und um seinetwillen) erzeugt wird, übt selbst Gewalt aus, da es konkrete Menschenbilder hervorbringt, durch die Menschen auf- und abgewertet werden und Herrschaft begründet wird.
Die Bereiche der interkulturellen Beziehungen und auch der Psychoanalyse wurden durch den indischen Literaturwissenschaftler Homi K. BhabhaBhabha, Homi mit den neomarxistischen und poststrukturalistischen Theorien des Postkolonialismus verknüpft. Durch BhabhaBhabha, Homi werden auch vielfältige, teils auch unbewusste Formen des Widerstands in kolonialen Beziehungen beschreibbar. In kritischer Rezeption der Orientalismusthese von SaidSaid, Edward macht BhabhaBhabha, Homi darauf aufmerksam, dass Identitäten niemals eindeutig und statisch sind, sich vielmehr in ↗ Hybridisierungsprozessen bilden und verändern.5
Ein wichtiger Vorläufer der postkolonialen Bewegung war der Psychiater und Autor Frantz FanonFanon, Frantz, der in der französischen Kolonie Martinique in der Karibik geboren wurde, in Frankreich und Nordafrika lebte und auf diese Weise das französische Kolonialsystem aus sehr unterschiedlichen Perspektiven kennenlernte, nicht zuletzt im zweiten Weltkrieg und in den algerischen Befreiungskriegen. Sein 1952 publiziertes Werk „Schwarze Haut, weiße Masken“6 (aus dem oben ein narrativer Zugang zitiert wurde) ist ein einflussreicher Bezugspunkt für das Thema des Rassismus innerhalb kolonialer Beziehungen.
Die Auseinandersetzung mit dem RassismusRassismus ist auch eines der zentralen Anliegen von Achille Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“7 aus dem Jahr 2013. Der kamerunische Politikwissenschaftler MbembeMbembe, Achille und FanonFanon, Frantz zeigen, wie der Rassismus alle Ebenen des europäischen Kolonialismus durchzieht, prägt und legitimiert. Weder die Entstehung und historische Ausprägung des Kolonialismus noch seine nachhaltigen Konsequenzen in der Gegenwart sind ohne diesen Rassismus denkbar. Umgekehrt erfährt auch rassistisches Denken und Handeln durch den sich etablierenden Kolonialismus einen signifikanten Aufschwung. Die Analyse der Konstruktion von Machtverhältnissen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gehört daher auch zum Kernbestand postkolonialen Denkens.
Lateinamerikanische Dekoloniale TheorieTheorien, die sich kritisch mit kolonialen Machtbeziehungen auseinandersetzen, werden häufig unter das Stichwort ‚dekolonial‘ gefasst. Diese lateinamerikanischen AutorInnen distanzieren sich immer wieder von den postkolonialen Studien asiatischer und nordamerikanischer Prägung. Sie üben Kritik daran, dass im Postkolonialismus die ökonomischen und politischen Aspekte der Analyse schwächer ausgeprägt seien und dass die postkolonialen Studien sich stark an europäischen poststrukturalistischen Diskursen orientierten. Diese Kritik ist ernst zu nehmen, darf dabei aber auch nicht verallgemeinert werden. Sie sollte vor allem nicht dazu führen, die berechtigten Anliegen der verschiedenen postkolonialen Strömungen nicht in fruchtbarer Weise miteinander in Dialog zu bringen.8 In dieser Einführung stehen diese kritischen Aspekte – so berechtigt sie im Einzelnen sein mögen – daher auch nicht im Vordergrund, ebenso wenig wie die verschiedenen Kritiken, die es jeweils innerhalb der lateinamerikanischen und der anglophonen Forschungen gibt. Das Ziel dieses Buches ist es vielmehr, die Bandbreite und Wirkmächtigkeit post- und dekolonialen Denkens und ihre Konsequenzen in der Theologie vorzustellen.
Die lateinamerikanische dekoloniale Theorietradition speist sich aus den dependenztheoretischen Arbeiten der 1960er und 70er Jahre, der Weltsystem-Theorie von Immanuel WallersteinWallerstein, Immanuel und der interkulturellen Befreiungsphilosophie von Enrique DusselDussel, Enrique. Hier bestehen auch wichtige Berührungspunkte mit der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Da viele der ‚dekolonialen‘ AutorInnen in den USA leben und arbeiten, wird der Diskurs über diese theoretischen Ansätze sowohl in spanischer als auch in englischer Sprache geführt.
Einen streng kolonialismuskritischen Akzent erhielt die Diskussion mit der Einführung des Begriffs der ↗ ‚Kolonialität‘ durch den peruanischen Soziologen Aníbal QuijanoQuijano, Aníbal9, der in einem 1992 erschienenen Aufsatz damit die durchgängige Prägung der Denkweise ehemals kolonisierter Staaten und Kulturen bezeichnet, auch wenn die staatliche Unabhängigkeit – wie im Fall Lateinamerikas – schon seit zwei Jahrhunderten vollzogen ist. Für QuijanoQuijano, Aníbal ist diese Denkweise grundlegend im Rassismus begründet und zieht konkrete Auswirkungen auf wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Exklusion nach sich. Später wurde der Begriff der Kolonialität in vielfacher Weise auch auf andere postkoloniale Beziehungen erweitert.10 Eine transdisziplinär arbeitende Arbeitsgruppe von WissenschaftlerInnen in Lateinamerika vertiefte unter dem Stichwort „Modernidad/Colonialidad“ oder „Modernität/KolonialitätModernität/Kolonialität“ die wechselseitigen Beziehungen zwischen der europäischen Moderne, dem Kolonialismus und der Kolonialität sowie ihre vielfältigen Konsequenzen in zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Bereichen.11
Einer der profiliertesten Vertreter dieser Gruppe, der argentinische Literaturwissenschaftler Walter D. MignoloMignolo, Walter, verweist in seinen Arbeiten auf das prägend kolonialistische Erbe im europäischen Denken seit der Moderne und ruft zum „epistemischen Ungehorsam“12 auf. Darunter versteht er ein Denken über die von der kolonialen ↗ Epistemologie vorgegebenen Grenzen hinaus. Zahlreiche dekoloniale TheoretikerInnen greifen daher auf indigenes und afroamerikanisches Denken zurück und konstruieren von dort aus Kritiken an europäischen und kolonialen Denksystemen.13
Nicht nur in Lateinamerika ist das postkoloniale Denken sehr stark vom FeminismusFeminismus beeinflusst. Zahlreiche AutorInnen weltweit analysieren die wechselseitigen Beziehungen von Kolonialismus und Sexismus, in denen beide sich wechselseitig bestärken und aufgrund derer das koloniale Denken sich bis heute in besonderer Weise im Geschlechterverhältnis äußert. Die argentinische Anthropologin Rita SegatoSegato, Rita untersucht beispielsweise die komplexe Interdependenz zwischen Kolonialismus, Sexismus und Rassismus im Leben indigener Völker.14 Dass ein postkolonialer feministischer Diskurs auch nichtsprachliche Elemente einschließen muss, zeigt die bolivianische Soziologin Silvia Rivera CusicanquiRivera Cusicanqui, Silvia, die unter anderem Bilder, Theater, Webarbeiten und das Teilen von Essen in ihre soziologischen Arbeiten integriert.15
Heterogenes und differenziertes FeldNicht nur diese letzten Beispiele machen bereits deutlich, dass es sich bei den postkolonialen Studien um ein äußerst vielschichtiges, heterogenes und differenziertes Feld handelt. Es befindet sich auch in der Gegenwart immer noch in der Entwicklungsphase und verändert sich in dynamischer Weise. Diese Unübersichtlichkeit ist durchaus verständlich, denn die postkoloniale Kritik bezieht sich ausdrücklich auf bestimmte konkrete Kontexte, die von ihrer jeweiligen Geschichte, Kultur und Politik geprägt sind. Dass die Ergebnisse dann sehr unterschiedlich ausfallen, muss geradezu erwartet werden. Auch dass zwischen VertreterInnen postkolonialer Theorien bisweilen heftige Konflikte ausbrechen oder bestehen, kann nicht verwundern. Denn keine dieser Theorien kommt ohne einen – wie auch immer gearteten – Bezug auf die europäische Geistesgeschichte aus, während diese von ihnen ja zugleich aufs Schärfste kritisiert wird. Der indische Historiker Dipesh ChakrabartyChakrabarty, Dipesh nennt dies ein „postkoloniales Dilemma“:
„Die Gedankenwelt, die während des Zeitalters der europäischen Expansion und Kolonialherrschaft entstand, erscheint zur Beschreibung und Analyse der eigenen (nichtwestlichen) Geschichte und Gesellschaft ebenso unverzichtbar wie ungenügend.“16
GemeinsamkeitenTrotz der teils konfliktiven Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen postkolonialen Strömungen und ‚Schulen‘ lässt sich als Gemeinsamkeit zwischen ihnen erkennen, dass sie den Kolonialismus nicht nur als ein Geschehen in der Vergangenheit betrachten, sondern seine gegenwärtigen Konsequenzen (im kulturellen, epistemischen, soziologischen, wirtschaftlichen, politischen – und eben auch religiösen Bereich) als eine grundlegende Ursache von Konflikten und Problemen der Gegenwart analysieren. Diese Kritik wird heute in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen geübt, in interdisziplinären Arbeiten und in Versuchen, die starre Einteilung in wissenschaftliche Disziplinen, die ebenfalls der europäischen Geistesgeschichte geschuldet ist, zu überwinden, die Wissenschaften zu „entdisziplinieren“17.
Der Fokus auf die Kritik an Kolonialismus und Kolonialität bringt es mit sich, dass die Gefahr besteht, postkoloniale Kontexte und Kulturen auf ihre postkoloniale Kondition zu reduzieren. Auf diese Weise würde der Postkolonialismus selbst in der Falle des ↗ Eurozentrismus verbleiben. Das von MignoloMignolo, Walter und anderen eingeforderte Denken über die Grenzen hinaus und die beispielsweise von BhabhaBhabha, Homi und SaidSaid, Edward ermöglichten Perspektivwechsel in der Analyse der kolonialen und postkolonialen Beziehungen öffnen aber vielfältige Auswege aus dem Dilemma. Die theologischen Beispiele in diesem Buch werden einige dieser Auswege vorstellen und zugleich die inhaltliche und methodische Vielfalt in der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kolonialismus sichtbar machen.