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2.9 Hegemonie. Zusammenfassung
ОглавлениеDie verschiedenen in diesem Kapitel vorgestellten Diskurspraktiken bewirken in kolonialen Kontexten, dass die militärische, politische und wirtschaftliche Herrschaft des Kolonialismus auch kulturell abgesichert wird, ja als Selbstverständlichkeit gelten kann. Denn die behauptete Überlegenheit der europäischen, ‚weißen‘, christlichen und männlichen Eroberer wird aufgrund dieser tief wurzelnden und kulturell verankerten Überzeugungen nur schwer anfechtbar.
Diese selbstverständliche Überzeugung lässt sich als ↗ ‚Hegemonie‘ bezeichnen, ein Begriff des marxistischen Philosophen Antonio GramsciGramsci, Antonio, der in den postkolonialen Studien breit rezipiert wurde. Darunter versteht Gramsci „grundlegend […] die Macht der herrschenden Klasse, andere Klassen davon zu überzeugen, dass ihre Interessen die Interessen aller sind“1. Diese Hegemonie ist zuvörderst ein kultureller Effekt. Gramsci kontrastiert ihn mit offenen und direkten Formen der Machtausübung, die sichtbar und spürbar sind. Vielmehr setzt die Hegemonie auf die Kraft der inneren Überzeugung:
„Herrschaft wird so weder durch Zwang noch notwendigerweise durch aktive Überredung ausgeübt, sondern durch eine subtilere und inklusive Macht über die Wirtschaft und über staatliche Institutionen wie Bildung und Medien, von denen die Interessen der herrschenden Klasse als Allgemeininteresse dargestellt und auf diese Weise als selbstverständlich akzeptiert wird.“2
Die in den letzten Abschnitten beschriebenen Konzepte und Praktiken wie ↗ Othering/Veranderung, ↗ Essentialisierung, eurozentristische Überlegenheit, Patriarchat usw. führen im Kontext des Kolonialismus zu einer kulturell erfahrbaren Hegemonie im Sinn Gramscis, deren Selbstverständlichkeit man sich kaum entziehen kann. Auch nach Ende der politischen Kolonialherrschaft bleibt diese Hegemonie im kulturellen Sinn bestehen – sie wird zur ↗ ‚Kolonialität‘ Antonio QuijanosQuijano, Aníbal3.
Der Hegemoniebegriff kann auch erklären, warum koloniale Werte und Abwertungen auch nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit bestehen bleiben anstatt bekämpft zu werden. Die Koloniale Überzeugungen sind tief kulturell verankerttiefe kulturelle Verankerung der kolonialen Überzeugungen führt dazu, dass sie auch in postkolonialer Zeit hegemonial bleiben. Denn
„die Zustimmung wird durch die Beeinflussung des kolonisierten Subjekts durch den imperialen Diskurs erreicht, so dass eurozentrische Werte, Annahmen, Überzeugungen und Haltungen wie selbstverständlich als die natürlichsten oder wertvollsten akzeptiert werden. Die unvermeidliche Folge einer solchen Beeinflussung ist, dass das kolonisierte Subjekt sich selbst als peripher zu diesen eurozentrischen Werten versteht, während es gleichzeitig deren Zentralität akzeptiert.“4
Genau dieselbe Problematik findet sich nach NehringNehring, Andreas und WiesgicklWiesgickl, Simon auch in kirchlichen und theologischen Kontexten:
„Für die Theologie ergeben sich hier wichtige Ansatzpunkte für die Frage, wie Menschen anderer Religionen und Kulturen ein missionarisches Christentum der Europäer für sich annehmen konnten, was sie davon übernommen haben und wo sie Formen entwickelt haben, in denen Widerstand gegenüber den westlichen Missionaren möglich gewesen ist.“5
In den allermeisten Kolonialsystemen europäischer Provenienz waren Kirche und Mission zentrale Akteurinnen, die sich die koloniale Herrschaft zunutze machten und sie zugleich häufig legitimierten. Die zeitgenössische Theologie untermauerte dabei in der Regel die jeweilige Argumentation, wenngleich es natürlich auch theologischen Widerstand zu bestimmten Auswüchsen des Kolonialismus oder sogar zum kolonialen Projekt gab. So kritisiert → Musa DubeDube, Musa
„die koloniale Ideologie der Unterdrückung, die ihre Opfer als Menschen charakterisiert, die aus ihrer eigenen schrecklichen Unzulänglichkeit errettet werden müssen. Dieses koloniale Konstrukt stellt den Westen weiterhin als Zentrum aller kulturellen Errungenschaften dar, ein Zentrum mit einem angeblich erlösenden Impuls, während es alle anderen Kulturen zu einem Projekt der Zivilisation, der Christianisierung, der Assimilation und der Entwicklung degradiert.“6
Darüber hinaus lässt sich in der Theologie ein eigenes Interesse an einer eurozentrischen Hegemonie erkennen7. Gerade der katholische Zentralismus, der gleichzeitig zur Expansion des europäischen Kolonialismus aus verschiedenen Gründen strukturell vertieft und organisatorisch abgesichert wurde, schuf sich eigene Überzeugungssysteme von der Überlegenheit europäischer Wissenschaft allgemein und Theologie im Speziellen. Dieser ↗ Eurozentrismus überstand auch geisteswissenschaftliche Krisenzeiten wie den Humanismus, die Reformation, die Aufklärung und die Postmoderne weitgehend unbeschadet.
So wird beispielsweise kritisch analysiert, dass Theologinnen und Theologen aus postkolonialen Kontexten, die einen eigenständigen Entwurf kontextueller Theologie vorlegen möchten, sich wie selbstverständlich mit den entsprechenden Diskursen in der europäischen Theologie befassen müssen, während es für die Theologie in Europa – auch in einer globalisierten Weltkirche – offenbar möglich zu sein scheint, theologische Diskurse, die als universal zu gelten beanspruchen ohne jede Bezugnahme zu den Theologien des Südens oder einen Dialog mit ihnen zu führen.
Diese Selbstverständlichkeiten, die auf der eurozentrischen kolonialen Hegemonie beruhen, werden in der postkolonialen Kritik aufgelöst und dekonstruiert. Zur Entzauberung dieser Hegemonie tragen auch der Dialog mit anderen Wissenssystemen und Traditionen und das Aufgreifen kritischer und widerständiger ↗ Epistemologien bei. Während diese Formen des Widerstands und der Konstruktion alternativer Wissensformen Gegenstand des vierten und fünften Kapitels sein werden, steht im nächsten Kapitel die postkoloniale Kritik an den direkteren Formen der Unterdrückung und Ausbeutung im Vordergrund. Um die bekannte Formel von Antonio GramsciGramsci, Antonio aufzugreifen: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“8. Ging es in diesem Kapitel vor allem um die Fragen der Hegemonie, so widmet sich das nächste eher dem Zwang.